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Tag des Sieges 2018 in Moskau: Nach-Moskauer Nachtgedanken

Von einer Delegation der beiden Bundestagsabgeordneten Alexander Neu und Diether Dehm, dem Hamburger Bürgerschaftsparlamentarier Martin Dolzer und dessen Mitarbeiter Artur Leier nach Moskau berichtet Diether Dehm, Mitglied des Beirats des Deutschen Freidenker-Verbandes: so eigenwillig und eigensinnig, wie man ihn kennt.

 

Diether mit Waldemar Winter

Unter der rechten Schulter seines einen feinen Jacketts (für den besondersten aller Anlässe!) verrät beim Schreiten ein leises austarierendes Rudern des Oberarms eine Abnutzung der Hüfte. Er heißt Winter, stammt aus Prag und spricht deutsch: „Heiße Waldemar, ja russisch Wladimir, bin neun, vier, ja… 94“.

Über allen Orden (ein hiesiges Medienfrettchen hätte vielleicht geschrieben „dekoriert wie ein Zuchtbulle“; aber das liegt daran, dass Medienfrettchen auf dem NATO-Strich auch dann gut bezahlt werden, wenn sie nichts können), von denen jeder seine Geschichte erzählt, hängt der rote Stern mit HammerUndSichel. Linksoben, direkt neben dem akkuraten Krawattenknoten.

Moskau ist an diesem Tag voll von roten Fahnen und HammerUndSicheln. Nationalgeschichte auch dieses kapitalistischen Russlands. So, wie sich der rollende Kopf von Ludwig XVI. im französischen Erbgut durch freche und freie Münder weiter erzählt.

Hammer und Sichel bleiben gewürdigt

Waldemar bedauert, vor der Schlacht um Stalingrad evakuiert worden zu sein. Aber danach ließ er sich nicht noch einmal davon abhalten – weil zu jung oder weil Ausländer – gegen die Wehrmacht seinen Krieg zu führen. Gegen DIE Deutschen? Uns beide, Alexander und mich strahlt er an: „Grüßt mir die Girken… die Gurken… ja die aus dem Wald.“ „Spreewald?“ „Ja, ja. Ich habe auch in Prag gekämpft, bin in Berlin einmarschiert und heute bin ich wieder in Moskau.. ist alles gut!“

Zwei MdB (linke Mitte vorne – auf dem Bild)

Dann setzen wir uns auf die Tribüne. Bis die Parade anfängt, skandieren Männerchöre der verschieden uniformierten Infantrien mit Stechschritten: deutsch-russischer Anachronismus. Dann rattert der Basalt unter T34-Panzerketten.

Es folgen Transporter mit Langstreckenraketen: „Mit 500 km Reichweite!“, weiß Alex. Dann neben einem Wolkenschleier eine Staffel aus neun Bombern, dazu ertönt eine Hymne, die ich von Ernst Busch kenne und von Eisler/Bechers „Winterschlacht um Moskau“. An der russischen Nationalhymne blasen ein paar Tausend Mann herum.

Drüben sitzt Putin neben dem ewigen Schwiegersohn Medwedew und … oh nein … direkt vor Netanjahu. Pfui Teufel, dann hätte Maas auch gleich da sitzen können. Der kommt aber erst morgen. Und darf wohl auch nur zu Lawrow. Der Begrüßungsbeifall für das präsidiale Podium kommt etwas irritiert, gedämpft wegen des Palästinenser-Schlächters. Aber so geht Diplomatie.

Russland ist ein Riesenreich mit riesigen Bodenschätzen und Vorräten billiger Arbeitskräfte, welches die NATO mit dem Rücken an die Wand nageln möchte. Ewiger Auftrag deutscher Menschen-in-Kapital-Verwurster. Und wieder reckt der deutsche NATO-Medien-Strich in Berlin, München und Hamburg die gierigen Mäuler zu den dampfenden Fleischtöpfen, dem Clearingsaldo noch unrealisierter Suprarenditen im Osten.

In der Bildmitte Serbiens Präsident Vucic links neben Präsident Putin, zwei Schritte dahinter Israels Ministerpräsident Netanjahu

Waldemar Winter schüttelt grimmig den Kopf. Wir reden über die Palästinenser. Waldemar schlägt mit den Faustrücken gegeneinander. Dann öffnet er die Handflächen, als wolle er die Luft darin wiegen, deutet mit der Kinnspitze Richtung Putin: „Das…. Politik für die ganze Welt!“ Er deutet zum Himmel: fünf Düsenjets. „Wir haben auch gemacht… für die ganze Welt. Frieden, Frieden….“

Nach zwei Stunden ist die Party vorbei. Als erster Tross verlässt die Staatsführung den Roten Platz. Nach meiner Rückkehr erfahre ich, dass gleichzeitig die israelische Luftwaffe syrische Grenzorte bombardiert hat, mit neun Toten. Der NATOlizenzierte Staatsterrorist Netanjahu schreitet da, vor mir, direkt hinter Putin, einen Steinwurf weit. Ärger muss wenigstens etwas Energie werden: also nehmen Alexander und ich uns mindestens vor, im Juni mehr Menschen nach Ramstein zu mobilisieren.

Dann mühen sich die Veteranen, neben denen die Logistik aus Autobus- und Delegations-Reihung und sicher auch ein glücklicher Zufall uns, Alexander Neu, Martin Dolzer, Artur Leier und mich, platziert hatte, die Tribünentreppe herunter. Die Hinkenden werden von jungen Frauen gestützt, weg von der Kremlmauer, dem Mausoleum und wieder zurück in Richtung Sammelstelle, wo der Bus wartet.

Wladimir erzählt von der Befreiung Prags durch die Rote Armee. Seine Beschreibung von dem Wiedersehen in seinen heimatlichen Gassen fallen karg aus. Alex erzählt mir erst viel später, am Flughafen Scheremetjewo, den Rest von seiner Vortagsbegegnung. Als roter Partisan hatte Waldemar Prag verlassen, aussichtslos, unsicher belächelt von der Nachbarschaft: „Immer macht der Waldemar solche Sperenzchen. Jetzt will er auch noch gegen die deutsche SS kämpfen, mit einer Browning gegen Tigerpanzer, Stukabomber. So ein Wahnsinniger! Hätte seine Mutter ihm nicht beibringen können, dass man sich gegen manche Übermacht einfach nicht auflehnt? Seine ständigen Abenteurereien! Und dabei ist er selbst nicht viel größer als ein Ziegenbock!“

Aber dann kam er zurück nach Prag. Als Sieger. Bis heute. Nur gegenüber Belehrbaren kündet unter den strengen Stirnfalten ein offener Augenblick von der Veränderbarkeit der Welt und durch die grobe Architektur der Zähne lacht der Adel der Befreier.

Die Jungen suchen die Nähe der Veteranen, die bald nicht mehr da sein werden

Unser Bus legt den Rückwärtsgang ein. Nochmal, wie den ganzen Morgen über, strömen kleine Kinder herbei, ganz und gar ohne Lehrer und Aufpasser, machen sich los von der Hand der Mutter, wenn sie so einen Greis mit dekorierter Brust entdecken, geben den Insassen rote Nelken, manchmal auch Rosen. Nein, nicht uns! „Unseren“ Veteranen.

Waldemar hat den ganzen Arm voll damit. Als wüssten die Kinder, dass es diese speziellen alten Leute mit ihren Erinnerungen und Andenken am Jackett und im Kopf bald, dann, wenn diese Kinder ihr erstes Geschichtsbuch lesen können, ganz und gar nicht mehr geben wird.

Später kommen wir zum Appellplatz, wo sich „Das Regiment der Unsterblichen“ formiert, welches deswegen nicht ausstirbt, weil nun schon in der dritten Generation Hunderttausende die Fotos ihrer Vorfahren in Uniform auf grob gerasterten Fotos hochhalten.

Das Regiment ist „unsterblich“, weil die Nachkommen, bereits in der dritten Generation, die Bilder ihrer Vorfahren tragen

„Hurra“ jauchzen sie. Ohne Aufseher und Zensoren. Wie ihre Vorfahren, die hier am 9. Mai vor 73 Jahren die Naziwaffen auf monströse Haufen geworfen hatten. Im Prospekt auf dem Hoteltresen war ein Foto davon. (Mich erinnert es irgendwie an die hingerichteten Mussolinigetreuen, die die Partisanen in Como nebst Waffen und einem Feldherrnstab wie einen abgefallenen Albdruck auf einen Haufen geworfen hatten: Abfall der Zivilisation. Falls man dazu Zivilisation sagen kann.)

Einer trägt ein Bild, worunter steht „Gerhard Schmitt“, seine Mutter und sein Vater sind aus Hamburg gekommen. Alle hier jauchzen befreiendes Hurra. Ausgelassene Gesichter. Und Frauen mit Käppis der Rotarmisten, mit einem Lächeln auf Lippen, über deren Schönheit man unter drei Genossen allenfalls verschwörerisch Lob anmerken darf, aber besser nichts Näheres notieren, will man sich zuhause kein Frauenplenum einhandeln. Ich belasse es hier mal bei dem „Wow“, das natürlich nicht von mir stammt, sondern von einem unbekannten Soldaten („hochproblematisch“ hier im antifaschistischen Moskau!).

Und, weil es mittlerweile auf dem Prospekt zum Roten Platz 500.000 sind, die sich zur Manifestation kilometerlang hintereinander aufgestellt haben und nun schon seit einer Stunde um keinen Meter voran kommen, können nur menschliche Stimmen eine Art Verbindung herstellen, die mit ihrem „Hurra“-Ruf ganz hinten aufbrandet, am Ende des Zugs; dieses Hurra braust dann, wie die Jets zuvor bei der Militärparade über den Köpfen, auf unsere Höhe und rollt dann bis ganz nach vorne weiter.

„Hurra – so haben wir die Hitlerarmeen besiegt!“ Die standen 1941/42 acht Kilometer vor der Moskauer Stadtgrenze. Wehrmachtsoffiziere konnten mit Scherenfernrohren bereits die goldenen Türme des Kreml sehen; der „Endsieg“ war zum Greifen nahe. Und hätte es ihn gegeben, wäre es gar nicht zu Stalingrad gekommen. Und auch nicht zu irgendeinem freien Disput darüber, was diesen Krieg bewegte und entschied: der Schlammeinbruch? Und kurz darauf der Frost? Die Partisanen, die den deutschen Nachschub auf der Schiene abfingen? Die Hunderttausende, die ihr Leben opferten, statt sich versklaven zu lassen? Am Ende waren es 27 Millionen getötete Sowjetmenschen.

Oder gab der T34-Panzer den Ausschlag, die Luftwaffe, deren Bau Stalin mit brutaler Schwer­industrialisierung und in großer Eile erzwang? Oder seine einsame Entscheidung, General Schukow aus Leningrad an die Moskauer Westfront abzukommandieren?

Könnten wir – ohne diesen Sieg über die Kapitalverbrecher – darüber heute frei reden und streiten? Darüber, inwieweit am Ende alle Kriege gegen Moskau mit Menschenrechten besprochen und mit Profiten gedacht worden waren? Und mit der Gier nach Arbeitssklaven, die westlichem Kapital noch gigantischere Zusatz-Rendite gebracht hätten.

Ohne den Sieg am Kursker Bogen hätte Brecht nie ein Theater bekommen, Schostakowitsch kein Orchester, Snowden keinen Fluchtort, wäre Iran womöglich eine atomare Wüste, wäre die Kräftekonstellation auf der Welt eine ganz andere: ohne Gewerkschaften, Rechts- und Sozialstaat im Freien Westen. Und natürlich ohne die mehr oder weniger mutigen Feierreden zum 200. Marxgeburtstag.

Alexander Neu mit Sergej

Sergei, ein Veteran in grasgrüner Armeejacke, hatte mich morgens beim Arm genommen, auch deutsch gesprochen: „Die versuchen mit aller Macht Russland in einen Krieg zu treiben. Und Putin soll vorher sein Gesicht verlieren.“ In der folgenden Nacht wieder im deutschen Bett sehe ich ntv: an der Börse sei „gute Stimmung nach der Bombardierung Syriens durch die israelische Luftwaffe und nach der Aufkündigung des Atomvertrags durch Trump, weil das Öl knapper wird.“

Deutsche Bank-Chef und heutiger Ehrenbürger der Stadt Frankfurt, Hermann Josef Abs, der Auschwitz und den Weltkrieg mitfinanziert hatte, erläuterte 1941 vor NS-Wirtschaftsführern, wie mittels des Russlandfeldzugs die Schulden des deutschen Reichs zu tilgen und der Clearingsaldo des deutschen Finanzkapitals zu bereinigen wäre (Reinhard Opitz, „Europastrategien des deutschen Kapitals“, S.794-809 ).

Das Pentagon will (laut seiner Studie vom Dezember letzten Jahres) den Krieg, damit „Northstream 2“, die Gaspipeline für das russische Gas, nicht gebaut wird und damit die EU so blöd ist, dann das teurere US-Frackinggas zu nehmen, noch dazu per Frachter, und auch noch zu subventionieren.

Darum die ganzen Propagandaschlachten um irgendeinen Doppelagenten und das Russenbashing aus den Häusern Springer & Außenministerium; weil Putin ja homophob sei, Pussyriot, eine Frauenband, deren Lieder so unbekannt sind wie die Quaktheorie, ihre Brüste in einem Dom der orthodoxen Kirche nicht freimachen durften; ach ja, und weil ein westlich orientierter Literaturwissenschaftler im Knast sitzt, „wegen Steuerhinterziehung – das behauptet … das Putin-Regime“.

Wieder braust ein „Hurra“ heran. Ein La-Ola-Mix aus karibischem Orkansturm, US-Überschalljets und deutschem Fußballstadion. Nur, dass es hier junge Moskowiter rufen, aus Freude darüber, dass ihre Urgroßväter zum vierten Mal in 200 Jahren den Feind vor den Türen ihrer Stadt verjagt hatten.

Sie haben damals ihre Bodenschätze verteidigt, den Buchenweizen, die Töchter, ihre eigene Muskelkraft und Wissenschaften, damit dies alles nicht in den monopolkapitalistischen Extrafreuden von Krupp, Thyssen und der Deutschen Bank einfließt. Es war ein Krieg, nicht zur Vernichtung von Kapital und Kapitalismus, sondern nur gegen imperialistisches Finanzkapital. Nur? Das allein schon bedurfte mehr als eine Arbeiterklasse; nämlich eines „großen vaterländischen Kriegs“.

Aber auch der ist die „Geschichte der Klassenkämpfe“, die, laut Marx, alle „bisherige Geschichte ist“. Darum klingt der vielstimmige Hochruf des Regiments der Unsterblichen auch immer noch nach dem Hochruf der Roten Armee. Darum klang der Klassenkampf unter Stalin wohl auch wie ein deutsches Fußballspiel heute. Und wie der Große Vaterländische Krieg unter Putin.

Manchem medialen Frettchen dürfte solcherlei Wahrnehmung eine Hoffnung durch den Kopf surren lassen: Klingt denn das „Vaterländische“ an diesem Krieg nicht eigentlich nach „Querfront“? Lässt sich daraus nicht eine Pointe fingern? Noch dazu „konnotiert“ mit einem Fussballchor, der „Hurra“ brüllt? Ließen sich da nicht auch gleich zwei Fliegen mit einer politisch korrekten Klappe zerquetschen: den Putinschen Schurkenstaat UND das Nationalkomittee Freies Deutschland von Erich Weinert und Walter Ulbricht, das mit Heimatparolen Wehrmachtssoldaten zum desertieren brachte?

Mediale Frettchen messen ja „Querfront“ nach Milligrammen von Übereinstimmung: in Worten, die nach Ziganophobie, Nationalstaat, Homophobie, Sexismus, Antisemitismus, Xenophobie und heimatlichen Fußballchören klingen. Derart gewichten sie Querfront und Volksfront gleich, wenn sie das an der äußeren Form ablesbar machen können. Dann giften sie los. Den Blick ins Innere, in die Wesenszüge der Begrifflichkeit verabscheuen sie.

Die Sowjets haben im Vaterländischen Krieg, also einer Art Volksfront, aber etwas Inneres erwirkt, was der Querfront vollkommen zuwider läuft und kein Quäntchen Übereinstimmung zwischen Linken und Rechten zulässt: eine Front gegen die bestialische Ausplünderung ihrer Völker durch das deutsche Monopolkapital. Sie haben also ihr kollektives Eigentum verteidigt. So, wie die spanische und die chilenische Volksfront. Auch wenn höchstgebildete Marxologen nicht mit der Zunge schnalzen: der vaterländische Krieg als Klassenkampf lebt fort in Moskauer Alleen und im Hurra auf die Rote Armee.

Jenes mediale und parteirechte Geschmeiß, das sich heute um den monopolkapitalistischen Extraprofit zusammenrottet, vielleicht um einen Krumen davon abzukriegen, vielleicht auch nur, um in dessen wohlig wärmendem Umfeld anzukommen, hasst die Volksfront. Einmal weil das Geschmeiss dieser medialen Frettchen das „niedere“ Volk hasst.

Und außerdem: weil ihr Instinkt sie vor einer solchen Volksfront warnt, die den Frettchen und deren niederer Moral und Bildung die Aura der Macht als die Macht der Aura nicht so verleihen würde wie die gegenwärtigen Eliten. Wo die Linke stärker wird, muss man Börsendaten entschlüsseln, nicht nur den Klatsch und Tratsch in der Bundeshauptstadt.

Wir verabschieden uns von den Veteranen vor dem Hotel. Ich versuche es unsicher mit einem Handschlag. Wladimir Winter aber küsst Alexander Neu links, rechts und links, will nicht aufhören ihn zu drücken. Die junge Betreuerin, mit dem Rotarmisten auf dem Reichstagsturm auf dem T-Shirt, feixt, als ich den Kopf nach unten halte und Sergej mich auf dem Mund küsst.

Der Krieg um russische Arbeits- und Bodenschätze geht weiter. Er wird vielleicht noch ein paar Wochen nur medial geführt. Dann, nicht mehr kalt, sondern mit Energielenkwaffen, künstlicher Intelligenz und mit Drohnen. Der mutterländische Krieg in Deutschland geht um Steuergelder versus Aufrüstung. Der Große Vaterländische Krieg hatte nirgends ganz aufgehört.

 


Fotos: © Diether Dehm