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De-Emanzipation – Domenico Losurdos ‚Gegengeschichte‘ des Liberalismus

Aus: „Freidenker“ Nr. 2-10 Juli 2010, S. 15-17, 69. Jahrgang
Von Arnold Schölzel

Die Geschichte des Liberalismus in der westlichen Welt ist von Heiligenlegenden durchwoben. Die Gründungsmythen Hollands, Großbritanniens, der USA und Frankreichs besagen, dass in ihnen eine Gemeinschaft von freien Bürgern historisch erstmalig den Individualismus zur Norm von Gesellschaft und Wirtschaft machte. Von Eroberung oder Unterdrückung ist selten die Rede. Wo heute von westlicher Demokratie gesprochen wird, wird vom Krieg geschwiegen.

Der aktuelle Kontext kommt im neuen Buch des italienischen Philosophen und Historikers Domenico Losurdo „Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus“ nicht vor, ist aber präsent: Es geht hier um den Ursprung beherrschender Züge westlicher Politik.
Der Autor konzentriert sich auf „die liberale Bewegung und die liberale Gesellschaft in ihrer Konkretheit“. Seine Gewährsleute sind die großen Rechtstheoretiker und Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts von Jean Bodin über Hugo Grotius, John Locke, Adam Smith oder William Blackstone bis zu Denis Diderot und Thomas Paine sowie kritische Beobachter des 19. Jahrhunderts wie der Franzose Alexis de Tocqueville und schließlich Historiker der Gegenwart, die sich vor allem mit der Kolonialgeschichte befasst haben.
Losurdo verfolgt mit Akribie die verschwiegene, unterdrückte Seite der bürgerlichen Revolutionen: Sklaverei, Ausrottung von Ureinwohnern, Ausbeutung von Frauen und Kindern, Verbot jeder Form von Organisation der arbeitenden Massen, ganz zu schweigen von der brutalen Repression gegen alle, die Protest oder gar Widerstand wagten. Er zitiert mit der souveränen Sachkunde des Gelehrten die Rechtfertigung des Niederhaltens der ‚stimmbegabten Werkzeuge‘ durch Gegner der Aufklärung wie durch deren Anhänger.
Mit dem blutigen Witz der Weltgeschichte, dass eine Gruppe nordamerikanischer Sklavenhalter die Menschenrechte und den Staat USA proklamierten, der auch nach über 230 Jahren als ‚älteste Demokratie‘ verkauft wird, hält sich der Autor nicht lange auf.
Er untersucht in den ersten der zehn Kapitel seines Buches die Frage ‚Was ist Liberalismus?‘ und lässt z. B. damalige Verfechter der ‚Freiheit‘, die zugleich vehemente Verteidiger der Sklaverei sind, zu Wort kommen. Zur Freiheit des Individuums gehörte für sie das Recht auf Eigentum an Menschen und auf Menschenjagd, in das der Staat sich nicht einzumischen habe. Die Argumentation erinnert – bei Weglassung des Themas Sklavenhaltung – an FDP-Partei-tage.
Die Diskrepanz zwischen Freiheitsdeklaration und realer Unterdrückung fiel den Zeitgenossen durchaus auf, an den Zuständen änderte sich auf Jahrzehnte nichts. Lo-surdo verweist auf Äußerungen Kants und Hegels und zitiert einen Stammvater des Liberalismus, Adam Smith, der erklärte, er ziehe einer von Sklavenhaltern kontrollierten ‚freien Regierung‘ eine ‚despotische Regierung‘ vor.
Losurdo definiert das politische Regime der USA als ‚Rassenstaat‘ und diskutiert verschiedene Termini wie etwa ‚segregationistischer Liberalismus‘, ‚aristokratischer Republikanismus‘ oder ‚Pflanzerdemokratie‘. Er empfiehlt im Anschluss an US-Historiker, von einer ‚Herrenvolk-Demokratie‘ zu sprechen.
Den Zusammenhang dieses Demokratismus privilegierter Weißer mit der Entwicklung eines biologistischen Rassismus, den er u. a. in seinem Nietzsche-Buch 2009 ausführlich dargestellt hat, streift er hier nur.
Der Übergang vom Liberalismus zur ‚Katastrophe des 20. Jahrhunderts‘ ist der Punkt, auf den Losurdos Analyse hinausläuft. Sie sei kein ‚Barbareneinfall, der eine gesunde und glückliche Gesellschaft plötzlich angreift und überwältigt‘. Die übliche Heiligengeschichte des Liberalismus erweise sich vielmehr als haltlos, wenn sie sich ‚mit der Analyse der Metropole und der weißen Gemeinschaft‘ begnüge, von Kolonien und Völkern kolonialer Herkunft aber abstrahiere.
Losurdos Buch fügt der Geschichte liberaler Emanzipation die mit ihr verbundene Geschichte von De-Emanzipation hinzu. Seine Mythenzerstörung ist eine wichtige Ergänzung zu jenen Werken des 20. Jahrhunderts von Georg Lukács, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Hannah Arendt, die sich mit dem Zusammenhang von Liberalismus und ‚totaler‘ oder ‚totalitärer‘ Herrschaft befassten. Der klare Aufbau und die pointierte Argumentation machen das Werk zu einem Lesevergnügen.

Dr. Arnold Schölzel ist Philosoph, Chef­redakteur der Tageszeitung ‚junge Welt’ und Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes. Dieser Beitrag erschien am 25.5.2010 in der ‚jungen Welt‘.

 

Leseprobe: Domenico Losurdo Zur Dialektik bürgerlicher Herrschaft und Knechtschaft

„Im Laufe der amerikanischen Revolution wird von [dem ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten] George Washington [1732–1799] nicht nur, wie wir bereits wissen, das ‚liberale politische System‘ gefeiert, sondern gefeiert werden auch die Freunde der „freien Künste“ (liberal arts), im Unterschied zu den ‚Mechanikern‘ (mechanics), den aus Europa kommenden Immigranten von bescheidenem gesellschaftlichen Status. Aber besonders erhellend ist ein Argument von John Adams [1735-1826, dem zweiten US-Präsidenten]. Um eine geordnete Freiheit zu verwirklichen, dürften nicht die ‚Mechaniker‘ und einfachen Leute die Macht ausüben, ‚denen jegliche Kenntnis aus dem Bereich der freien Wissenschaften und Künste‘ fehle; nein, es müßten diejenigen sein, ‚die eine liberale Erziehung erhalten, den üblichen Grad an Belesenheit in den freien Künsten und Wissenschaften erworben haben‘; und das seien ‚die aus guter Familie und die Reichen‘.“
„Nach Abschluss eines ‚Zyklus der Degradierung‘ der Schwarzen, mit dem Ingangsetzen der weißen ‚Unterdrückungsmaschine‘ und dem endgültigen Zusammenwachsen von ‚Sklaverei und rassischer Diskriminierung‘ sehen wir Ende des 17. Jahrhunderts in den Kolonien des britischen Empire eine Chattel Slavery [chattel = persönlicher Sachbesitz] auf rassischer Basis, Chattel racial slavery, die dem elisabethanischen England (und auch dem klassischen Altertum) unbekannt war, die aber vertraut ist den Menschen, die im 19. Jahrhundert leben und die Wirklichkeit der Südstaaten der USA kennen. Und so triumphiert die Sklaverei in ihrer radikalsten Form im goldenen Zeitalter des Liberalismus und im Herzen der liberalen Welt.“
„Korrekt und in seiner ganzen Radikalität formuliert, liegt das Paradox, vor dem wir stehen, darin: Der Aufstieg des Liberalismus und die Ausbreitung der Chattel Slavery auf rassischer Basis sind das Produkt einer Zwillingsgeburt, die, wie wir sehen werden, recht einmalige Eigenschaften aufweist.“
„Mit dem Erscheinen des modernen Eigentums ist es dem Patron erlaubt, über dieses nach Gutdünken zu verfügen. Im Virginia der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gilt eine Norm, wonach der Patron selbst bei Tötung seines Sklaven praktisch straffrei bleibt. Ein solches Verhalten sei nicht als (schweres) Verbrechen (felony) zu betrachten, da man nicht annehmen kann, dass eine absichtliche Niedertracht (und nur eine solche macht aus einer Tötung einen Mord) einen Menschen veranlasst, sein Eigentum zu zerstören. Als sich, zuerst mit der Glorreichen Revolution, und dann vollständiger mit der amerikanischen Revolution, die Selbstregierung der von den Sklavenhaltern dominierten Zivilgesellschaft durchsetzt, führt dies auch zur endgültigen Beseitigung der traditionellen ‚Einmischungen‘ der politischen und religiösen Autoritäten; die Taufe und das christliche Glaubensbekenntnis sind jetzt irrelevant.
In Virginia kann man Ende des 17. Jahrhunderts ‚ohne gerichtliche Formalitäten‘ einen schuldigen Sklaven exekutieren, der sich eines Kapitalverbrechens schuldig gemacht hat; die Ehe zwischen Sklaven ist kein Sakrament mehr, und auch Beerdigungen verlieren ihre Feierlichkeit. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts kann ein Jurist aus Virginia (George Tucker) feststellen, dass der Sklave ,nicht nur politisch, sondern auch physisch und moralisch unter dem Rang menschlicher Wesen‘ angesiedelt ist.“
Domenico Losurdo: Freiheit als Privileg – Eine Gegengeschichte des Liberalismus. PapyRossa Verlag, Köln 2010, 464 Seiten, 22,90 Euro

Weitere lesenswerte Untersuchungen des Autors zu Aspekten der „Demokratie“:

Domenico Losurdo: Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine Mythen – Nolte, Furet und die anderen, PapyRossa Verlag, Köln 2007
Domenico Losurdo: Demokratie oder Bonapartismus. Triumph und Niedergang des allgemeinen Wahlrechts. PapyRossa Verlag, Köln 2008
Domenico Losurdo: Nietzsche, der aristokratische Rebell – Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz. Argument/Inkrit, Berlin 2009, 1104 Seiten, 98 Euro, zwei Bände; ISBN 978-3-88619-338-7


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