Arbeit & Soziales

Kinder vor wirtschaftlicher Ausbeutung schützen

Aus: „Freidenker“ Nr. 3-10 September 2010, S. 13-20, 69. Jahrgang

Von Uta Mader 

215 Millionen Kinder auf unserer Erde werden durch Kinderarbeit* ausgebeutet (1).
Der in der UNO Konvention über die Rechte des Kindes (1989) in Artikel 32 geforderte „Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung“ wird täglich in hohem Maße verletzt, vor allem in Entwicklungsländern.
Die „volle und harmonische Entfaltung der Persönlichkeit“, wie sie in der Präambel der Kinderrechtskonvention gefordert wird, ist bei diesen Kindern empfindlich gestört.
Laut Charta der Vereinten Nationen und zugesichert durch die Kinderrechtskonvention haben jedoch alle Menschen die gleichen Rechte. Kinderarbeit verletzt die Menschenrechte.
Das in der Kinderrechtskonvention proklamierte Recht „auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“, Artikel 24, sowie das „Recht auf Bildung“ im Artikel 28 werden nicht verwirklicht, wenn Kinder in Kinderarbeit gefangen sind.
Die international bekannte Kinderärztin Eva Schmidt-Kolmer schrieb: „Die herrschenden Klassen schaffen zwei unterschiedliche Erziehungssysteme: das eine für die Kinder ihrer Klasse, die darauf vorbereitet werden, führende Positionen in der Produktion und in der Gesellschaft einzunehmen und als Vertreter einer Elite tätig zu werden; das andere für die Kinder der Ausgebeuteten, die auf körperliche Arbeit vorbereitet werden“ (2). Ausbeutung ist es, wenn Millionen von Kindern Mehrarbeit, das heißt unbezahlte Arbeit für den Besitzer der Produktionsmittel leisten müssen, unter Bedingungen, die von diesen diktiert werden und mit dem Ziel, die Kapitalmasse zu vermehren.
Nicht jedes Kind, das arbeitet, wird ausgebeutet. Nicht jede Form der Beschäftigung der Kinder muss bekämpft werden. Ob Arbeit zu einem Problem für Kinder wird, hängt von den Auswirkungen auf ihre Entwicklung ab (3, S. 30).

 

Kinderarbeit – was heißt das genau?

306 Millionen Kinder im Alter von 5 – 17 Jahren (rund 20 % dieser Altersgruppe weltweit) sind in Beschäftigung, sie arbeiten regelmäßig (1, S. 7). Das wird noch nicht als Kinderarbeit bezeichnet.
Ausschließlich die Arbeit, die für Entwicklung und Gesundheit des Kindes schädlich ist, wird vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF und von der Internationalen Arbeitsorganisation (engl. ILO) als „Kinderarbeit“ ausgewiesen, das heißt, wenn Kinder entweder unter gefährdenden Bedingungen arbeiten, sie das Mindestalter (i.R. 15 Jahre) nicht erreicht haben oder ihre Schulausbildung empfindlich gestört ist (3). Nach dieser Definition befinden sich rund 70 % der 306 Millionen beschäftigten Kinder (= 215 Millionen) in Kinderarbeit.
Nicht als „Kinderarbeit“ rechnet, wenn ab 12-Jährige einige Stunden pro Woche eine erlaubte, leichte, nicht gefährliche Tätigkeit verrichten, die den Schulbesuch nicht einschränken, z. B. leichte Arbeit im Haushalt, handwerkliche und landwirtschaftliche Tätigkeiten in der Familie oder Nachbarschaft.
Bei der Bewertung von Kinderarbeit werden Schweregrade unterschieden.
Um gezielter die gefährlichen (und schlimmsten) Formen der Kinderarbeit zurückdrängen zu können, wurde das ILO-Übereinkommen 182 im Jahr 1999 verabschiedet. Leider gibt es aber immer noch 115 Millionen Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre, d. h. über 50 % von den 215 Millionen Kinderarbeitern, die gefährliche und ihre Entwicklung sehr belastende Arbeit verrichten. Bei männlichen Jugendlichen (15 bis 17 Jahre) stieg dieser Anteil in den letzten Jahren um auffällige 20 %, insbesondere in Afrika südlich der Sahara.
Für Entwicklung und Gesundheit der Kinder schädliche Arbeit wird auf Plantagen, in Hauswirtschaften, in Fabriken und in Minen verlangt. Aus den Berichten von UNICEF, ILO und Kinderschutzorganisationen geht hervor: Die Kinder heben zu schwere Lasten, hantieren ohne Schutzkleidung mit Chemikalien oder müssen als Dienstmädchen bis zu 16 Stunden am Tag schuften. Sie leben als Straßenkinder oder werden als Kindersoldaten eingesetzt. Kinderarbeiter werden geprügelt, missbraucht, gering oder gar nicht bezahlt. Für den Schulbesuch bleibt häufig weder Zeit noch Kraft.
Weltweit sind die meisten Kinderarbeiter in der Landwirtschaft tätig (60 %), es folgt der Dienstleistungssektor (26 %) und in der Industrie sind es 7 % (1, S. 12).
Besonders extremen Bedingungen sind 8,4 Millionen Kinder unterworfen – als Zwangsarbeiter, Schuldknechte, Kindersoldaten oder Prostituierte. Schätzungen zufolge werden allein in Asien jährlich mindestens eine weitere Million Kinder in die Prostitution gezwungen (UNICEF).
Das allgemeine Mindestalter für Kinderarbeiter ist seit 1973 mit 15 Jahren (14 – 16 in den einzelnen Unterzeichnerländern) bzw. mit 18 Jahren für gefährliche Arbeiten festgelegt, siehe Übereinkommen 138 der ILO. Es wird eingeschätzt, dass 176 Millionen 5 bis 14-jährige Kinder gegenwärtig in Beschäftigungen sind, von denen 153 Millionen (= 87 %) als Kinderarbeiter eingestuft werden müssen. Darunter sind 53 Millionen, d.h. rund ein Drittel dieser jüngeren Kinder in gefährlicher Arbeit.
Die Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen der Erde sind groß. Afrika südlich der Sahara liegt an der „Spitze“ der Kinderarbeit von jüngeren Kindern, denn dort sind 34 %, d.h. jedes 3. Kind von 5 bis 14 Jahren betroffen, gefolgt von Süd- und Ostasien/ Pazifik mit etwa 10 % betroffenen Kindern dieser Altersgruppe (UNICEF).
2006 schien ein Durchbruch beim Kampf gegen Kinderarbeit möglich. „Das Ende der Kinderarbeit ist in greifbarer Nähe“ schätzte ILO-Direktor Juan Somavia optimistisch ein (5).
Am stärksten war die Kinderarbeit in Lateinamerika und der Karibik zurückgegangen. Besonderes Lob wurde China und Brasilien gespendet. Als Problemzonen galten noch Asien, der pazifische Raum ohne China sowie die afrikanischen Länder südlich der Sahara.
Ein visionäres Ziel wurde aufgestellt: alle schlimmsten Formen der Kinderarbeit bis zum Jahr 2016 zu beseitigen, festgehalten im Globalen Aktionsplan 2006.
Auch der Gründungskongress des Internationalen Gewerkschaftsbundes IGB im Jahr 2006 nahm das Ziel der Beseitigung der Kinderarbeit in seine Verfassung und in sein Aktionsprogramm auf.
Eine traurige Bilanz musste jedoch nach 4 Jahren mit dem 3. Gesamtbericht der ILO (2010) gezogen werden: das Tempo der Verringerung habe „infolge des globalen wirtschaftlichen Einbruchs“ nachgelassen (1, S. IX).
Während der Rückgang der Kinderarbeit von 2000 zu 2004 = 9,5 % betrug, erfreulicherweise zugunsten der jüngeren Kinder und von Kindern, die unter gefährlichen und schlimmsten Arbeitsbedingungen leiden mussten, betrug der Rückgang von 2004 zu 2008 nur noch 3 % (1, S.8).
Verstöße gegen die Kinderarbeitsgesetze nehmen, wie in anderen Industrieländern, auch in Deutschland („Gesetz zum Schutz der arbeitenden Jugend“) in den letzten Jahren zu. Vor allem Kinder ethnischer Minderheiten und von Einwanderergruppen haben darunter zu leiden.
Die USA haben Nachholbedarf, denn sie haben bisher weder die Kinderrechtskonvention noch das Mindestalterübereinkommen unterzeichnet und von den Regelungen, die sich gegen gefährliche Kinderarbeit richten (ILO-Übereinkommens182), auch noch die Arbeit in der Landwirtschaft ausgenommen.

Ursachen der ausbeuterischen Kinderarbeit

Krasse materielle Armut in den Entwicklungsländern ist die Hauptursache dafür, dass Kinder ihre Familie durch Erwerbsarbeit unterstützen müssen.

Wir sollten bei dieser Feststellung nicht stehen bleiben.Was löst diesen ständigen Kreislauf von Armut, mangelnder Bildung, Ausgegrenztheit von Minderheiten und unterdrückten Gruppen aus? Wer verursacht die Kriege und Bürgerkriege mit ihren Waisen? Wie kam es zu dieser ungeheuren Verbreitung von Aids, vor allem in Afrika?

Eltern gaben bei einer Umfrage an, dass sie ihre Kinder niemals zur (Erwerbs-)Arbeit schicken würden, wenn sie nicht äußerste Not dazu gezwungen hätte (terre des hommes).
Dieser „Ausweg“ ist aber für arme Eltern ein zweischneidiges Schwert, denn Kinderarbeit führt umgekehrt zu einem erhöhten Angebot an billigen Arbeitskräften und damit wiederum zu niedrigeren Löhnen für die Elterngeneration.
Die wirtschaftliche Globalisierung, wie sie heute von Konzernen und Banken vorwiegend der Industrieländer betrieben wird, hat verheerende Auswirkungen; sie ist Ursache von Armut und ausbeuterischer Kinderarbeit.
Der „Unterbietungskampf“, der Drang nach dem „besten Niedriglohnsektor“ drückt die Weltmarktpreise z. B. von Rohstoffen, Kaffee, Kakao oder Baumwolle auf ein derartig niedriges Niveau, dass die Bauern in Entwicklungsländern verarmen und die Familien sich nicht mehr ernähren können.
Dazu kommen Verwüstungen durch Anlegen von Monokulturen (Soja für die Massentierhaltung in den westlichen Ländern, Pflanzen zur Gewinnung von Biokraftstoffen), Kriegszerstörungen und andere „Segnungen des Fortschritts“.
Die Zahl der Hungernden ist im Jahr 2009 weltweit um rund 100 Millionen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen und beträgt nun über 1 Milliarde Menschen, berichtet die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO- Bericht 2009).
Der UNICEF-Report 2010 zeigt, wer den höchsten Preis für die Folgen der gegenwärtigen globalen Krise und der tiefgreifenden Armut in vielen Ländern der Welt zahlt: die Kinder in den Entwicklungsländern.
Viele leiden unter chronischer Mangel-
ernährung und bleiben in ihrer Entwicklung zurück, müssen die Schule verlassen – landen in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Diese Kinder sind die Vergessenen der aktuellen kapitalistischen Krise.

Produktive Tätigkeit, die die kindliche Entwicklung fördert

Arbeit als bewusste Tätigkeit des Menschen ist elementar für das gesellschaftliche Leben, „in gewissem Sinne hat sie den Menschen selbst geschaffen“ (Engels).

Das, was in der auf Privateigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaft unter Arbeit verstanden wird, ist das Gegenteil von dem, was der freie Mensch während des zuvor Jahrtausende bestehenden Gemeineigentums gelebt hat. Die Menschen waren nicht von den Produktionsmitteln getrennt, sondern die Produktionsmittel waren im Besitz der Gemeinschaft.
Diese Form der Arbeit, als Quelle von Kultur und Würde, bezog Kinder traditionell in die gemeinschaftlich organisierten Arbeits- und Lebensprozesse mit ein.
Das bestand in indigenen Gemeinschaften weiter, wie Forschungsreisende im 18., 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts über Kindererziehung in Indianer- und Papuagemeinschaften sowie aus Grönland berichteten (Margot Krecker, 1959).
Auch heute noch hat in vielen Gegenden der Welt die Mitarbeit der Kinder in der häuslichen Wirtschaft eine wichtige Funktion für die Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden.
Reformpädagogen, der Aufklärung verpflichtet, nahmen „Handlungsorientierungen“ in ihre pädagogischen Konzepte auf (z. B. Pestalozzi, Diesterweg, Makarenko).
Ein Kind hat das Bedürfnis nach Tätigkeiten und Handlungen und realisiert sie im Spiel beim Nachahmen Erwachsener, beim Basteln, Turnen, Malen, bei der Hilfe im Haushalt und später in produktiver Tätigkeit als Mittel zur Selbstverwirklichung. Aber diese Tätigkeiten sind nicht mit Kinderarbeit zu verwechseln, bei der das Kind seine Arbeitskraft auf selbstschädigende Weise einsetzen muss.
Das Kind entwickelt sich körperlich und geistig durch Tätigkeit. Dafür sind solche gesundheits- und entwicklungsfördernden Tätigkeits- und Umweltbedingungen erforderlich, die die psychophysische Belastbarkeit der Kinder berücksichtigt (6).
Ein Beispiel, wie diese notwendige Verbindung von Entwicklung, Lernen und der Teilnahme der Kinder an der produktiven Tätigkeit angestrebt wurde, liefern uns die Erfahrungen der Schulbildung in der DDR. Anknüpfend an den freien Schul- und Werkgemeinschaften, dem Werk- und Schulgartenunterricht in der Weimarer Republik wurde der Schulunterricht in der DDR seit 1959 ab 7. Klasse mit dem Unterrichtstag in der Produktion (Betriebe und landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) verbunden.
Diese sog. Polytechnische Bildung und Erziehung, also Einbeziehen von praktisch orientierten Unterrichtsanteilen, wurde verstärkt, als ab Schuljahr 1962/63 für die 9. und 10. Klassen schrittweise Berufsausbildung eingeführt wurde.
Für alle Jugendlichen, die nach der 10. Klasse die Gemeinschaftsschule verließen (in der Regel mit 16 Jahren) war ein Ausbildungsplatz und der Besuch einer Betriebsberufsschule selbstverständlich. Von den verbleibenden Schülern konnten viele nach dem 12. Schuljahr mit dem Abschluss des Abiturs auch den Facharbeiterbrief erwerben.
Die entscheidenden Fragen sind, ob das Kind seine Arbeitskraft verkaufen und unter schädigenden Bedingungen einsetzen muss, um den Unterhalt für sich und Angehörige zu sichern – und wie sich die verrichtete Arbeit auf die körperliche und psychische Entwicklung der Kinder sowie auf ihre Gesundheit auswirkt.
Der Großteil der Beschäftigungen von Kindern ist heute zwischen Gefährdung (= Kinderarbeit) und Förderung ihrer Entwicklung angesiedelt.

Umstrittene Fragen

Kinderarbeit ist seit jeher ein kontroverses Thema. Verstärkt seit etwa 15 Jahren verlangen eine Reihe politischer Akteure und Organisationen aus verschiedenen Ländern die Aufhebung des „Kinderarbeitsverbotes“.

In der Bundesrepublik Deutschland treten in diesem Sinne vor allem ein Verein zur Unterstützung arbeitender Kinder und Jugendlicher ProNats (Manfred Liebel), die Christliche Initiative Oscar Romero (Johanna Fincke) und Oikos – Eine Welt e.V. auf. Sie verlangen, die Kinderarbeit nicht weiter „zu kriminalisieren“, sondern die Arbeitsbedingungen der Kinder zu verbessern. Diese Vertreter konnten schon Erfolge in ihrem Sinne erreichen.
Aufgrund ihrer Initiative ist als Kontrastpunkt zum Internationalen Tag gegen Kinderarbeit (am 12. Juni, seit 2002) ein Welttag der arbeitenden Kinder am 9. Dezember eingeführt worden (im Jahr 2006).
Das II. Welttreffen der Bewegungen arbeitender Kinder und Jugendlicher im Jahr 2004 fand in Berlin statt. Es sollte weitere Argumente gegen das „Verbot der Kinderarbeit“ liefern. 30 Kinder und Jugendliche aus 23 Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika nahmen teil. Die Organisatoren (Oikos – Eine Welt e.V. sowie ProNats) wählten das Motto: „Ja zur Arbeit – Nein zur Ausbeutung“. Sie stellen nicht dar, was sie unter Ausbeutung verstehen. Ver.di und GEW, der Evangelische Entwicklungsdienst u.a. unterstützten das Treffen.
In der Abschlussdokumentation sind folgende Forderungen zu lesen:
die Mindestalterkonvention abschaffen, sich gegen ein pauschales Verbot von Kinderarbeit stark machen, sich für den Widerstand der Betroffenen bis hin zur gewerkschaftlichen Organisierung einsetzen, gegen Ausbeutung und Verschuldung der armen Länder des Südens, für eine kostenlose Bildung und Ausbildung eintreten.
Unter dem Titel „Streit unter Weltverbesserern: Pro und contra Verbot der Kinderarbeit“ wird in einem Artikel in „GegenStandpunkt“ Nr. 1-10 (lt. Wikipedia eine marxistische Zeitschrift) diese Kontroverse aufgegriffen und das „alte“ Rezept (Verbot) dem „neuen“ Rezept (einfach ordentlich erlauben) gegenüber gestellt.
Ein Satz am Schluss des o.g. Artikels bringt nach meiner Ansicht die Absicht dieser Initiativen zutage: „Am Ende gibt es nichts verlässlich Humaneres als den Kapitalismus selbst! Nur im Verein mit den Mahnern selbstverständlich, die ihm ständig seine wahre Vernunft vor Augen halten müssen: ethisch und betriebswirtschaftlich!“ (ebenda, S. 13). Ist es das, was diese Streiter erreichen wollen?
Den Akteuren, die sich für die Abschaffung des Kinderarbeitsverbotes einsetzen, sollen folgende Argumente entgegengehalten werden:
l Wenn Kinder sich organisieren und auf diese Weise selbstbewusst auftreten, ist das sehr zu begrüßen. Nicht zu verstehen ist, dass von den Initiatoren ein Gegensatz zwischen dem Anliegen dieser arbeitenden Kinder und den internationalen Normen des Kinderarbeitsschutzes konstruiert wird.
l Das Verbot der Kinderarbeit hat in Preußen und Deutschland, ebenso wie in anderen westlichen Ländern, eine Vorgeschichte. Als die Folgen der Industrialisierung zu einem derart schlechten Gesundheitszustand der jungen Generation führten, dass sie unübersehbar wurden, z. B. bei den Musterungsuntersuchungen, kam es 1839 zum Verbot der Kinderarbeit unter 9 Jahren. 1853 wurde das Mindestalter für Fabrikarbeit auf 12 Jahre angehoben (Wikipedia). Im Programm der SPD wurden 1875 (Art. 5) und 1891 (Art. 9) weitergehende Verbote zur Kinderarbeit verlangt.
Ab 1904 untersagte ein Kinderschutzgesetz des Deutschen Reiches jede gewerb-liche Beschäftigung von Kindern unter 12 Jahren und diese Entwicklung ging in der Weimarer Republik und international weiter.
Warum sollten die im 19. und 20. Jahrhundert in den Industrieländern schwer erkämpften Rechte im 21. Jahrhundert ausgerechnet für Kinder in den Entwicklungsländern nicht angewendet werden? Das ist rassistisch. Oder sollen diese Kinderrechte danach auch in den Industrieländern für bestimmte Schichten wieder in Frage gestellt werden?
l Die Streiter gegen das Kinderarbeitsverbot verstehen offenbar unter Kinderarbeit jegliche Beschäftigung von Kindern. Das ist ein Irrtum, wie am Anfang dieses Artikels dargestellt. „Alle von Kindern verrichtete Arbeit als gleichermaßen verwerflich einzustufen ist wenig hilfreich, wenn man Kinderarbeit wirklich abschaffen will“ stellt UNICEF klar (3, S.29). Was genau wollen die „Freunde der Kinderarbeit“ wirklich?
l Wenn Ausbeutung und Verschuldung der armen Länder des Südens angeklagt und eine kostenlose Bildung und Ausbildung verlangt werden, so sind das begrüßenswerte, aber keinesfalls neue Forderungen. Sie decken sich mit dem, was UNICEF und ILO seit Jahren von den Mitgliedsländern erwarten. Sie als Argument für die Aushebelung der Kinderarbeitsnormen zu benutzen, ist gefährlich und muss zurückgewiesen werden.
l Eine Behauptung ist: „In keiner Region der Welt hat das Verbot der Kinderarbeit in den letzten Jahren bewirkt, die Zahl der arbeitenden Kinder zu verringern…“ (Manfred Liebel, blz 9/2007, Mitgliederzeitschrift der GEW Berlin). Das ist leicht zu widerlegen. Z. B. nahm die Zahl der Kinder in gefährlicher Arbeit im Zeitraum 2000 bis 2004 um 24,7 % ab, von 2004 bis 2008 noch um 10,2 % (1).
l UNICEF, ILO und die meisten Kinderhilfsorganisationen setzen sich für Alternativen zur Kinderarbeit ein: soziale Sicherheitssysteme, Hilfen für die Familien, alternative Arbeitsmöglichkeiten, die noch Zeit für die schulische Bildung von Kindern lassen.
l Zwangsarbeiter, Schuldknechtschaft, Kindersoldaten, Kinder-Prostituierte gibt es millionenfach. Das ist nicht wegzuleugnen, wie es z.T. von den Kinderarbeitsfreunden geschieht. Nicht umsonst waren zwei Ergänzungen zur Kinderrechtskonvention im Jahr 2002 erforderlich: das Verbot von Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie sowie ein Kindersoldaten-Protokoll.

Was wird getan und wie geht es weiter?

Vielfältig und langjährig wird um die Gestaltung einer menschenwürdigen Weltgesellschaft gerungen. Es war ein Erfolg, die große Mehrheit der Staaten auf die grundlegenden Abkommen wie Völkerrecht, Menschen- und Kinderrechtskonventionen zu verpflichten. Diese Rechte sind der Maßstab, den wir an die Politik anlegen müssen.

Die sozialen Kräfte, die sich für soziale Gerechtigkeit, die Beseitigung von Ausbeutung und Unterdrückung sowie den Erhalt der Erde einsetzen, befinden sich in den letzten 20 Jahren immer mehr auf der Verliererseite.
Die folgenden Beispiele von Aktivitäten für das Gemeinwohl, obwohl sie den Stempel der heutigen Gesellschaftsform tragen, sind ein Aufbäumen gegen die fatalen Folgen des jetzigen kapitalistischen Wirtschaftssystems.
Aktionsprogramme, wie „Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000“ (Weltgesundheitsorganisation, 1977/78), „Globale Agenda 21“ zur nachhaltigen Entwicklung (UNO, 1992) und „Milleniumsentwicklungsziele“ (UNO, 2000) enthalten großartige Forderungen, die das Leben der Menschen erleichtern könnten.
UNO, UNICEF und ILO unternehmen Anstrengungen, die politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure zu informieren, zu vernetzen und praktische Ziele abzuleiten (zuletzt Den Haag, 2010). Dort beanstandeten sie, dass der Einsatz der Staaten zu gering ist, um wie vorgesehen die gefährlichen und schlimmsten Formen der Kinderarbeit bis 2016 auszumerzen und den Kindern ihre Kindheit und Jugend zurückzugeben.
Das bei der ILO angeschlossene Internationale Programm für die Beseitigung der Kinderarbeit (IPEC) besteht seit 1992 und ist gegenwärtig in über 90 Ländern aktiv. Die BRD unterstützt das Programm seit Jahren finanziell und hat für 2011 einen Betrag von 1,2 Millionen €Euro (!) geplant (lt. Staatssekretär Andreas Storm).
Aufmerksamkeit sollten die Länderberichte wecken, die von allen Unterzeichnerländern der Kinderrechtskonvention regelmäßig an die UNO geliefert werden. Der letzte Bericht der Bundesregierung im Jahr 2005 wurde vom Nationalen Aktionsplan (NAP) ergänzt sowie enthielt einen Kinder- und Jugendreport „Was verstehen Kinder unter einem kindgerechten Deutschland?“ Der nächste Bericht 2010 muss die Fragen des neuen Fahrplans, der „Roadmap 2016 gegen ausbeuterische Kinderarbeit“, beschlossen in Den Haag 2010, beantworten.
Die Normen setzende Tätigkeit der ILO ist Teil des zu schwachen Widerstandes gegen den Abbau von Arbeits- und Sozialstandards in der Gegenwart. Die Arbeitsschutzgesetze, die Kinder betreffen, werden von ihr ständig erweitert. 2011 ist eine Entscheidung zur Arbeit der Hausangestellten zu erwarten.
Die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung (seit 2001 alle 4 Jahre) erheben den Anspruch, eine detaillierte Analyse der sozialen Lage vorzulegen und sind, nach Aussage des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, die Basis für eine Politik „zur Stärkung sozialer Gerechtigkeit und verbesserter Teilhabe“. Die letzten beiden Berichte orientierten sich, wie angegeben wird, an dem Konzept der Teilhabe- und Verwirklichungschancen von Amartya Sen.
Die Liste der Aktivitäten ließe sich fortsetzen.
Die Bilanz fast aller dieser Initiativen erfüllt viele Menschen mit Sorge.
Nur Informationen und Appelle an Moral und Ethik sind wenig erfolgreich angesichts von Profitgier und Konkurrenzkampf. Die Grundinteressen der „Besitzenden“ einerseits und die der abhängig Beschäftigten und der dazu gehörenden Schichten andererseits klaffen weit auseinander.
Die sozialen Kräfte müssen in der Bundesrepublik gebündelt werden. Das verlangt, die Gräben zuzuschütten und gleichberechtigt miteinander an der Lösung der großen sozialen Probleme zu arbeiten – sowohl Basisorganisationen (z. B. das Erwerbslosenforum), linke Parteien und die Gewerkschaften. Sie sollen Mitstreiter in allen Schichten suchen und jeder muss in seinem Wirkungsfeld das Bestmögliche für die Durchsetzung der Menschen- und Kinderrechte beitragen.
Der Kampf sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern gegen Ausbeutung, Privatisierung und prekäre Arbeit ist entscheidend für das Zurückdrängen von Kinderarbeit.
Solange Kinder billige Arbeitskräfte sind, die den Kapitalisten ihren Profit vergrößern helfen, und wenn ihre Gesundheit dadurch Schaden erleidet oder sie sogar sterben, sie „nur“ als Kollateralschäden wie beim Einsatz von Kindersoldaten betrachtet werden, solange werden Kinder in der Welt nicht den ihnen zukommenden Platz einnehmen – auch zum Nutzen von verantwortungslosen Politikern.

Dr. med. Uta Mader, ehemalige Mitarbeiterin im Institut für Hygiene des Kindes- und Jugendalters, stellv. Vorsitzende des DFV Berlin

Anmerkung und Literatur :

*„Kinderarbeit“ meint stets nur die Arbeit der Kinder, die ihre Entwicklung und Gesundheit gefährdet i.S. der Definition von UNICEF und ILO
(1) Diese und die folgenden Zahlenangaben sind, wenn nicht anders angegeben, aus dem 3. Gesamtbericht der ILO an die 99. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz in Genf, Mai 2010: „Das Vorgehen gegen Kinderarbeit forcieren“ entnommen, siehe http://www.ilo.org/public/ german/region/eurpro/bonn/aktuelles/gr_2010.htm
(2) „Gesundheitsschutz für Kinder und Jugendliche“, hrsg. von Eva Schmidt-Kolmer. VEB Verlag Volk und Gesundheit, Berlin 1986, S. 21
(3) UNICEF-Bericht „Zur Situation der Kinder in der Welt 1997: Kinderarbeit“, hrsg. Dt. Komitee für UNICEF, Fischer Taschenbuch Verlag, 1996
(4) Zu diesen und weiteren Angaben siehe www. unicef.org, www.ilo.org, www.ilo.org/berlin, www.childinfo.org unter dem jeweiligen Stichwort
(5) 2. Gesamtbericht der ILO 2006: „Das Ende der Kinderarbeit – zum Greifen nah“ www.ilo.org/public/german/region/eurpro/bonn/aktuelles/2006/globalreport06.htm
(6) Ockel, Edith: „Die Belastbarkeit des Kindes im pädagogischen Prozess“. VEB Verlag Volk und Gesundheit, Berlin 1972

Weitere Literaturangaben können bei der Verfasserin angefordert werden.


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