Frieden - Antifaschismus - SolidaritätGeschichte

Der unbekannte Weltkrieg

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-13, Dezember 2013, S. 3-8, 72. Jahrgang

von Klaus Hartmann

 

Die Überschrift wird womöglich Widerspruch herausfordern. Immerhin weiß man doch so einiges: Dass ‚Sarajevo’, das Attentat am 28. Juni 1914 auf Erzherzog Karl Ferdinand, Thronfolger von Österreich-Ungarn, nur einen Vorwand für den Krieg darstellte. Dass Deutschland Österreich zum Krieg gegen Serbien drängte, für den Österreich-Ungarn am 6. Juli 1914 den „Blankoscheck“, die Zusage der bedingungslosen Unterstützung erhielt. Dass Deutschland die Hegemonie in Europa und den Gewinn von Kolonien in Afrika (besonders auf Kosten Frankreichs und Belgiens) anstrebte.

Weitgehend bekannt ist auch: Die Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten, dass Kaiser Wilhelm „keine Parteien mehr“ kannte, die „Burgfriedenspolitik“ der Gewerkschaften; natürlich der antimilitaristische Kampf Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs von der USPD zur „Gruppe Internationale“, der „Spartakusgruppe“ zur KPDGründung, vom Kieler Matrosenaufstand zur Novemberrevolution, der Bayerischen Räterepublik.

Rosa Luxemburg:
Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit –, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt. (Junius-Broschüre, 1916)

Mit diesen Stichworten ist der überwiegende Blick auf den 1. Weltkrieg weitgehend skizziert: der Aspekt der Spaltung der Arbeiterbewegung in eine reformistische und eine revolutionäre Richtung, der Krieg selbst als Vorgeschichte und Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, wo sich die aggressive Außenpolitik des Nachzüglers der europäischen Kolonialmächte mit dem Griff zur Weltmacht im „totalen Krieg“ entlud.

Kriegsschuld-Kontroverse
Im Rahmen der zu erwartenden massenmedialen Bearbeitung und Bücherflut zum 100. Jahrestag des Weltkriegsbeginns wird auch unvermeidlich der Streit um die deutsche Kriegsschuld wiederaufleben. 1961 erschien das Buch „Griff nach der Weltmacht“ des Hamburger Historikers Fritz Fischer, in dem er die Entscheidung zum Krieg in die Kontinuität der aggressiven Politik des deutschen Imperialismus stellte. Dies ruft bis heute Proteste der rechten Historikerzunft hervor, die eine Kontinuität zum Faschismus leugnen, und darauf bestehen, dass der 1. Weltkrieg „tragisch-schicksalhaft“ über Deutschland kam, es in den Krieg „hineinschlitterte“, wo es doch „defensiv“ den „Krieg zu vermeiden versucht“ habe.
Dem widerspricht vehement der Historiker Heinrich August Winkler:
„Das Ziel, mit dem die deutschen Eliten in den Ersten Weltkrieg gezogen waren, hieß Hegemonie in Europa und Aufstieg zur Weltmacht. Am Ende stand ein Friedensvertrag, den die Deutschen als schreiendes Unrecht empfanden, obwohl er das Reich bestehen ließ und ihm die Möglichkeit einräumte, wieder zur Großmacht zu werden. Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kriegsschuld fand nicht statt, obschon bereits im April 1919 eine interne Aktensammlung vorlag, die keinen Zweifel daran ließ, dass die Reichsleitung im Juli 1914 alles getan hatte, die internationale Krise zu verschärfen. In Abwehr der alliierten These, Deutschland und seine Verbündeten trügen die alleinige Verantwortung für den Kriegsausbruch, entstand eine Kriegsunschuldlegende, die ebenso viel Unheil stiftete wie ihre Zwillingsschwester die Dolchstoßlegende.“

So bedeutsam und unbestritten diese Aspekte sind, zum Verständnis des 1. Weltkrieges und der Widersprüche, die zu ihm führten, genügen sie nicht. Die begrenzte Sicht schien Vielen genügt zu haben, als in Europa zunächst die Sowjetunion, dann ein sozialistisches Staatensystem existierte, die einen Rückfall in ‚alte’ Zeiten unmöglich erscheinen ließen. Doch die Welt und das internationale Kräfteverhältnis seit 1990 ähneln zumindest in einer Frage jenen vor dem 1. Weltkrieg: Der Imperialismus hat im Weltmaßstab keinen annähernd ebenbürtigen Widerpart, der ihn zu zähmen in der Lage wäre.

Zustimmung zu den Kriegskrediten:
„Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen … Wir hoffen, dass die grausame Schule der Kriegsleiden in neuen Millionen den Abscheu vor dem Kriege wecken und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird. (…) (Davon) geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite.“
Aus der Rede von Hugo Haase, SPD-Parteivorsitzender, am 4. August 1914 im Reichstag

Revolution und Kriege

Wenn man den Weg zum Ersten Weltkrieg verstehen will, muss man die Zeit kennen, in der er vorbereitet wurde. Diese Zeit ist, auch bei Linken, merkwürdig unbekannt. Hier gilt es, zuerst mit der Vorstellung Schluss zu machen, dass der Krieg 1914 eine lange Friedenszeit in Europa beendet habe, die zumindest seit 1871 angedauert habe. Tatsächlich haben in den Jahrzehnten vor 1914 Dutzende Kriege stattgefunden: Entgegen einer verbreiteten eurozentristische Sicht müssen zudem die Kriege um Kolonien und in Abhängigkeit gebrachte Länder besichtigt werden.

Welchen Zeitraum soll man in den Blick nehmen? Hier geht es nicht um eine mehr oder weniger beliebige Auswahl, nicht um eine Abfolge von Ereignissen. Wenn wir Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen entziffern, steht damit ein ‚Ordnungsprinzip‘ zur Verfügung, das den Geschichtsablauf nicht als willkürliche Abfolge von Ereignissen, Persönlichkeiten, Zufällen erscheinen lässt, sondern die Triebkräfte offenlegt, das Geheimnisvolle und Schicksalhafte austreibt, und Geschichte als Ergebnis handelnder Akteure begreifbar macht.

Deshalb der Vorschlag, die Zeit ab der Französischen Revolution in den Blick zu nehmen. Denn mit ihr änderte sich das internationale Kräfteverhältnis endgültig zugunsten des Bürgertums. Die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert markiert endgültig die Ablösung des Feudalismus durch die kapitalistische Gesellschaftsordnung – nach England nun in Frankreich. Doch die Außenwirkung der Französische Revolution war enorm: einerseits die Vorbildwirkung und Ermutigung für Freiheitsbewegungen anderer Länder, andererseits der militärisch gestützte Versuch des Revolutionsexports.

Unter den europäischen Herrschaftshäusern verbreitete die Revolution Angst und Schrecken. Preußen und Habsburg, bisher erbitterte Feinde im Streit um die Annexion polnischer Gebiete, entschlossen sich angesichts des ‚größeren Feindes’ zur gemeinsamen Intervention gegen das revolutionäre Frankreich, um dem französischen König zu Hilfe zu kommen. Russlands Zarin Katharina II. ermunterte beide Mächte – einerseits aus eigenem Klasseninteresse, andererseits, um sich unbehelligt von ihnen einen Teil Polens zu greifen. England bildete eine eigene große konterrevolutionäre Kriegskoalition mit den Niederlanden, Spanien, Portugal, Sardinien und Neapel, um die Beherrschung der Meere für die englische Bourgeoisie zu sichern.

Die ursprünglichen Verteidigungskriege Frankreichs verwandelten sich unter Napoleon in Eroberungskriege, aus der Unterstützung der antifeudalen Bewegung in den Nachbarländern wurden Feldzüge im Interesse der französischen Großbourgeoisie. Der Friede von Tilsit zwischen Frankreich und Russland 1807 markierte den Höhepunkt der Macht Napoleons und die Niederlage Preußens. „Der Tilsiter Friede war die größte Erniedrigung Deutschlands, gleichzeitig aber eine Wendung zu einem gewaltigen nationalen Aufschwung.“ (Lenin)

Die entscheidende Wende der Napoleonischen Kriege markiert die Niederlage Frankreichs im Feldzug gegen Russland 1812. In den „Deutschen Befreiungskriegen“ 1813/14 folgte die Kriegsentscheidung in der Völkerschlacht bei Leipzig 16.-19.10.1813.

Die Zwiespältigkeit der Ereignisse kennzeichnete Friedrich Engels: „Dass wir uns über den Verlust der nationalen Heiligtümer besannen …, daß wir einen Augenblick als Quelle der Staatsmacht, als souveränes Volk auftraten, das war der höchste Gewinn jener Jahre …“. Aber: „Von sämtlichen Siegermächten wurde der Sturz Napoleons als der Untergang der Französischen Revolution und als Triumph der Legitimität betrachtet.“ (Friedrich Engels)

Die Siegermächte tagten auf dem Wiener Kongress September 1814 – Juni 1815 und schlossen ein Bündnis der feudalabsolutistischen Großmächte – die Verständigung der herrschenden Klassen auf Kosten der Patrioten und der Völker.

Sie wird symbolisiert durch die 1815 gegründete „Heilige Allianz“ unter Führung Zar Alexander I., Kaiser Franz I, König Friedrich Wilhelm III. – mit Unterstützung des Bankhauses Rothschild und der Finanzeliten der Londoner City. Sie bekannten sich zum Gottesgnadentum der Herrscher und bezeichneten die christliche Religion als Fundament der herrschenden politischen Ordnung.

Während in Frankreich wie in England Zentralstaaten existierten, also die nationale Frage gelöst war, bestand in Deutschland die Zersplitterung in Kleinstaaten. Damit fehlte ein einheitlichen Wirtschaftsraum und Markt, und die somit fehlende ökonomische Basis erschwerte Lösung der nationalen Frage.

Nationale Frage in Deutschland

Der sich zuspitzende Widerspruch zwischen dem Charakter der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen führte dazu, dass die Jahre von 1815 bis 1848 geprägt waren vom Kampf für die nationalstaatliche Einheit Deutschlands – verbunden mit dem Kampf, die den kapitalistischen Produktionsverhältnissen entsprechenden politischen Institutionen zu errichten.

Die Julirevolution 1830 in Frankreich gab in vielen europäischen Ländern den Anstoß für neue Massenproteste und Erhebungen. In vielen national zersplitterten oder unter Fremdherrschaft stehenden Ländern Bewegungen: Das junge Italien, Das junge Deutschland, Das Junge Polen und Das Junge Bosnien.

So gehörte ganz Norditalien zum österreichischen Staat, diverse Vizekönige waren der Wiener Regierung direkt unterstellt. Hier entwickelte sich eine revolutionäre nationale Bewegung (Risorgimento), die die Heilige Allianz auf den Plan rief. Metternich schickte seinen militärischen Oberbefehlshaber Radetzky, doch eine militärische Unterdrückung war angesichts der Stärke der Bewegung aussichtslos. Nach mehreren Erhebungen wurde die Fremdherrschaft in den Unabhängigkeitskriegen 1861 unter Führung von Giuseppe Garibaldi abgeschüttelt, die Unabhängigkeit 1870 mit der militärischen Einnahme des Kirchenstaates und dessen Hauptstadt Rom vollendet.

In Deutschland hingegen ermöglichte der Verrat der Bourgeoisie an der Revolution 1848/49 den Sieg der militaristischen, feudalen Konterrevolution über die revolutionäre Volksbewegung.

So konnte „Deutschland“ erst nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870 bis 1871 gegründet werden. Im Deutschen Krieg 1866 zwischen Preußen, das Holstein annektierte, und dem von Österreich geführten Deutschen Bund siegte Preußen und schuf den Norddeutschen Bund. Die süddeutschen Staaten Baden, Bayern, Hessen-Darmstadt und Württemberg, zuvor mit Österreich verbündet, schlossen ein geheimes „Schutz- und Trutzbündnis“ mit dem Norddeutschen Bund. Auf dieser Grundlage beteiligten sie sich am Feldzug gegen Frankreich, der das Fundament zur Reichsgründung legte.

Sie fand symbolhaft in Frankreich, am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles statt – im Blut der ermordeten Kommunarden von Paris watend. Sie erfolgte durch Proklamation des Fürsten von Bismarck, unter Anrufung von Gott, ohne Beschluss eines Parlaments, ohne Verfassung.

Wladimir I. Lenin:
„Für den Imperialismus ist gerade das Bestreben charakteristisch, nicht nur agrarische Gebiete, sondern sogar höchst entwickelte Industriegebiete zu annektieren (Deutschlands Gelüste auf Belgien, Frankreichs auf Lothringen), denn erstens zwingt die abgeschlossene Aufteilung der Erde, bei einer Neuaufteilung die Hand nach jedem beliebigen Land auszustrecken, und zweitens ist für den Imperialismus wesentlich der Wettkampf einiger Großmächte in ihrem Streben nach Hegemonie, d.h. nach der Eroberung von Ländern, nicht so sehr direkt für sich als vielmehr zur Schwächung des Gegners und Untergrabung seiner Hegemonie (für Deutschland ist Belgien von besonderer Wichtigkeit als Stützpunkt gegen England; für England Bagdad als Stützpunkt gegen Deutschland usw.).“ (1916)

Das so „von oben“, mit „Blut und Eisen“ gegründete Deutsche Kaiserreich legte als neue Großmacht einen ungestümen Expansionsdrang an den Tag, der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow verkündete, „wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne“. Dieser Maxime folgend betrieb Deutschland auch vor 1914 eine aggressive Außenpolitik.

Zur Niederwerfung des Aufstands der chinesischen „Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie“, im Westen „Boxeraufstand“ genannt, entsandte Deutschland ein gemeinsames Expeditionskorps mit seine europäischen Rivalen nebst Japan und den USA.

Kaiser Wilhelm II:
„Bewährt die alte preußische Tüchtigkeit, zeigt euch als Christen im freudigen Ertragen von Leiden, mögen Ehre und Ruhm euren Fahnen und Waffen folgen, gebt an Manneszucht und Disziplin aller Welt ein Beispiel […] Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutschlands in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!“
„Hunnenrede“ am 27. Juli 1900 bei der Verabschiedung der deutschen Truppen zum Kolonialkrieg gegen China

Das gegen den Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (Namibia) entsandte deutsche Expeditionskorps verübte den ersten Völkermord im 20. Jahrhundert. Bis zu 95.000 Menschen wurden zum Verhungern in die Wüste getrieben oder starben in Konzentrationslagern. Generalstabschef von Schlieffen: „Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen.“

Im Wettlauf um afrikanische Kolonien entsandte Kaiser Wilhelm II während der 2. Marokkokrise 1911 das Kanonenboot Panther, um von Frankreich an der Beute beteiligt zu werden, bekannt als „Panthersprung“ nach Agadir.

Friedrich Engels:
Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unsres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. – Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt. Das ist es, meine Herren Fürsten und Staatsmänner, wohin Sie in Ihrer Weisheit das alte Europa gebracht haben. 15. Dezember 1887

Brennpunkt Balkan

Die Auseinandersetzung um die Beherrschung des Balkan, zunächst zwischen Österreich und der Türkei, danach zwischen beiden mit Russland und den von Russland unterstützten Balkanländern, entwickelte sich im gesamten 19. Jahrhundert zu einer bestimmenden Konfliktlinie, in der die Konstellationen für den 1. Weltkrieg vorgeprägt wurden. Die französische Revolution hatte die unterdrückten Völker auf dem Balkan zu Aufständen gegen habsburgische und türkische Besatzung ermuntert. Österreich, bis Ende des 18. Jahrhunderts mit Russland verbündet, hatte acht Kriege mit der Türkei um größeren Einfluss auf dem Balkan geführt.

Im Türkisch-Österreichischen Krieg 1791 wurde das Osmanische Reich besiegt. Erschreckt durch die Revolution der Franzosen und die zunehmenden Aufstände im eigenen Hinterhof schloss Habsburg 1792 Frieden mit der Türkei und konzentrierte sich auf die Unterdrückung der Freiheitsbestrebungen auf dem Balkan.

Mit dem ersten Serbischen Aufstand 1804 bis 1813 begann die national- und sozialrevolutionäre Erhebung, die durch Russland unterstützt wurde. Nach dem 8. Russisch- Türkischen Krieg eroberte die Türkei 1813 Serbien zurück, wurde aber vom zweiten Serbischen Aufstand 1815–1817 zurückgeschlagen. Mit der Autonomie 1817 und der offizielle Anerkennung als souveränes Fürstentum durch die Türkei wurde die Serbische Revolution erfolgreich abgeschlossen. Der 1878 tagende Berliner Kongress erkannte – mangels anderer internationaler Institutionen völkerrechtsverbindlich – die Souveränität Serbiens und Montenegros international an.

Ermuntert vom serbischen Beispiel begann 1821 die Griechische Revolution, die militärische Wende zugunsten der griechischen Unabhängigkeit trat allerdings erst durch den 9. Russisch-Türkischen Krieg 1828-1830 ein.

1849 begann in Ungarn der Unabhängigkeitsaufstand gegen Österreich unter Führung von Lajos Kossuth, der im selben Jahr von der österreichischen Armee mit Unterstützung kroatischer und russischer Truppen niedergeschlagen wurde.

Im 10. Türkisch-Russischen Krieg1853 bis 1856 scheiterte der Versuch Russlands, die orthodoxen slawischen Glaubensbrüder von der osmanischen Herrschaft zu befreien und das eigene Gebiet zu Lasten des zerfallenden Osmanischen Reiches zu vergrößern. Frankreich, England und die Türkei schlossen die Tripleallianz, die im Krimkrieg Sewastopol eroberte. (Siehe Karl Marx, „Die Kriegserklärung– Zur Geschichte der orientalischenFrage“, in„New-York Daily Tribune“ vom 15. April 1854)

Im „Dritten Pariser Frieden“ wurde formuliert, jeden Akt und jedes Ereignis, das die Integrität des Osmanischen Reiches in Frage stellt, als Frage europäischen Interesses zu sehen. Das Ergebnis schwächte Russland und begründete Frankreichs neue Führungsrolle in Europa.

Doch nach türkischen Repressionen gegen Serben und Bulgaren begann 1877 der Serbisch-Osmanische Krieg, der nach serbischer Niederlage als 11. Türkisch-Russischer Krieg weitergeführt wurde, mit dem russischen Sieg 1878 endete. In Bulgarien wird dieser Krieg als Befreiungskrieg, in Rumänien als Unabhängigkeitskrieg bezeichnet.

In den Weltkrieg

Besonders Österreich-Ungarn und England sahen ihre Position auf dem Balkan durch Russland bedroht, sodass der Berliner Kongress 1878 unter Bismarck vermittelte: Neben Serbien und Montenegro wurde auch Rumänien als unabhängig anerkannt, Bulgarien wurde stark verkleinert, erhielt einen Sonderstatus, blieb aber der Türkei tributpflichtig, sein Südteil kam unter türkische Zivilverwaltung; Österreich-Ungarn durfte als Ordnungsmacht Bosnien- Herzegowina besetzen, England wurde Zypern geschenkt.

Die Festlegungen hielten bis 1885, als sich die ‚beiden Bulgarien‘ vereinigten. Österreich-Ungarn genügte 1908 die Besatzung Bosnien-Herzegowinas nicht mehr, und annektierte es – völkerrechtswidrig. Im Italienisch-Türkischen Krieg 1911-1912 entriss Italien dem Osmanischen Reich die libyschen Provinzen.

Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland schlossen ein Bündnis gegen die Türkei und begannen 1912 den Ersten Balkankrieg. Die Türkei kapitulierte im Mai 1913, aber da die Sieger sich nicht einigen konnten, griff Bulgarien im Juni Serbien und Griechenland an, erlitt aber in diesem Zweiten Balkankrieg eine herbe Niederlage.

In dieser Situation fand am 28. Juni 1914 der legendäre „Besuch“ des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo statt. Der 28 Juni ist der Veitstag, der an die Schlacht Serbiens gegen die Osmanen auf dem Amselfeld erinnert, und deren 525. Jahrestag 1914 gefeiert wurde. Es war kein „Staatsbesuch“, sondern die Reise in ein besetztes und seit 1908 Österreich-Ungarn einverleibtes Land, und er reiste in der offiziellen Funktion als Truppeninspekteur.

Seit Jahrzehnten kämpfte die Organisation Mlada Bosna (Junges Bosnien) gegen die osmanische und habsburgische Unterjochung des Balkan, und ihr Mitglied, der 19-jährige Gymnasiast Gavrilo Princip führte das mit einigen Freunden gut vorbereitete Attentat aus. Es handelt sich nach heutigem Internationalen Recht nicht um Terror oder Mord, sondern um eine legitime Widerstandsaktion gegen eine völkerrechtswidrige Annexionsmacht.

Erst vier Wochen nach dem Attentat und nach dem Blankoscheck aus Berlin entschloss sich Österreich-Ungarn am 23. Juli 1914 zu dem erpresserischen Ultimatum an Serbien. Dies akzeptierte bis auf einen Punkt: dass österreichische Staatsorgane auf serbischem Territorium selbst die Ermittlungen führen. Offenkundig war diese unannehmbare Forderung von vornherein darauf berechnet, dass Österreich den Krieg auslösen kann. Es diente damit als Vorbild für das Ultimatum von Rambouillet 85 Jahre später, mit dem die NATO-Aggression gegen Jugoslawien ausgelöst wurde.

Der Weltkrieg begann mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns gegenüber Serbien am 28. Juli 1914, an seiner Seite Deutschland, die Türkei, Bulgarien (und der Vatikan). An der Seite Serbiens standen Frankreich, England, Russland, Montenegro und Griechenland. Der von der Türkei 1915/16 verübte Völkermord an den Armeniern wurde von den Verbündeten gedeckt. „Serbien muss sterbien!“ war nicht nur ein Schlachtruf: Unter allen Kriegsteilnehmern hatte Serbien die größte Zahl von Toten zu verzeichnen – 1,2 Mio., d.h. 53 Prozent der männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 55 Jahren.

*

Verlauf und Ergebnisse des Krieges sind besser bekannt als seine Vorgeschichte. Die Kenntnis der Vorgeschichte bewahrt vor der Fehleinschätzung, dass der Weltkrieg plötzlich, unvorbereitet und schicksalhaft „ausbricht“. Dies ist gerade angesichts der heute akuten Kriegsgefahr eine notwendige Erkenntnis. Und es ist Anlass, die heute wieder verbreitete antislawische Propaganda und die Aktionen zur Schwächung und militärischen Einkreisung Russlands (und Chinas) ernst zu nehmen und sich dagegen zur Wehr zu setzen.

 


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   Klaus Hartmann: Der unbekannte Weltkrieg (Auszug aus FREIDENKER 4-13, ca. 280 KB)


Bild: Truppen verlassen den Hauptbahnhof Fürth (Bayern) 07. / 08. August 1914 (Deutsche Postkarte)
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