Geschichte

Das Komplott von München 1938

Kürzlich jährte sich die Unterzeichnung des Münchner Abkommens zum 85. Mal. Aus diesem Anlass hat Wolfgang Schürer Daten und Fakten zusammengetragen, die den historischen Kontext dieses Ereignisses beleuchten. 

Webredaktion


Das Komplott von München 1938

von Wolfgang Schürer

1   Die europäischen Staaten 1938

1938 wohnten in Europa, der Sowjetunion und der Türkei ca. 580 Millionen Menschen.

Die Sowjetunion (SU), Deutschland (DE), das Vereinigte Königreich (UK), Italien (IT) und Frankreich (FR) waren Großmächte. Ihr Anteil an der Bevölkerung der 29 Staaten betrug:

SU DE UK IT FR Summe
29,0 % 11,8 % 8,2 % 7,4 % 7,1 % 63,5 %

In Polen, Spanien, Rumänien, der Türkei, Jugoslawien und der Tschechoslowakei wohnten zusammen etwa 22 % der Bevölkerung, in Ungarn, den Niederlanden, Belgien, Portugal, Griechenland, Österreich, Bulgarien und Schweden zusammen ca. 10,3 %, in der Schweiz, Dänemark, Finnland, Norwegen, Irland, Litauen, Lettland, Estland, Albanien und Luxemburg zusammen ungefähr 4,2 %.

2   Der Völkerbund (VB) 1920—1938

63 Staaten waren, zu verschieden Seiten, Mitglieder des VB:

  • Die 29 europäischen Staaten;
  • Alle 20 lateinamerikanischen Staaten;
  • Indien und die 4 britischen Dominions (Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika;);
  • Japan (JP, Großmacht;),
  • sowie China, Thailand, Iran, Afghanistan, Irak, Ägypten, Äthiopien, Liberia;

Der Völkerbunds—Rat (VBR) war das Hauptorgan des VB, er sollte den Weltfrieden sichern.

6 der damaligen 7 Großmächte waren, zu unterschiedlichen Zeiten, ständige Mitglieder des VB:

  • 1920—1926: UK, FR, IT, JP;
  • 1926—1933: UK, FR, IT, JP, DE;
  • 1933—1934: UK, FR, IT;
  • 1934—1937: UK, FR, IT, SU;
  • 1937—1938: UK, FR, SU;

Außerdem hatte der VBR nichtständige Mitglieder, die für jeweils 3 Jahre gewählt wurden.

Deutschland wurde 1926 in den VB aufgenommen. 1933 traten erst Japan und dann Deutschland aus dem VB aus. 1934 wurde die Sowjetunion in den VB aufgenommen. 1937 trat Italien aus dem VB aus. Die Vereinigten Staaten (US), die 7. Großmacht, waren dem VB nicht beigetreten.

3   Die Tschechoslowakei 1918—1938

1938 wohnten in der Tschechoslowakei ca. 2,6 % der Bevölkerung der 29 europäischen Staaten. Sie war ein Vielvölkerstaat. Die Volkszählung von 1930 brachte folgendes Ergebnis:

  • 9,757 Millionen Tschechen und Slowaken
  • 3,318 Millionen ethnische Deutsche
  • 720.000 ethnische Ungarn
  • 569.000 ethnische Ukrainer
  • 366.000 Angehörige sonstiger Ethnien (darunter 76.000 Polen im OlsaGebiet) und Ausländer.

Tschechen und Slowaken sind 2 Ethnien. Es gab jedoch keine separate Erfassung, beide wurden als das Staatsvolk der „Tschechoslowaken“ ausgewiesen.

Die Tschechoslowakei war 1918 nahezu ausschließlich aus Gebieten gebildet worden, die vor dem Ersten Weltkrieg zu einer damaligen Großmacht, dem Vielvölkerstaat Österreich—Ungarn, gehört hatten. Die ethnischen Deutschen wohnten hauptsächlich im Sudetenland, den Grenzgebieten von Tschechien zu Deutschland und Österreich. Die ethnischen Ungarn wohnten überwiegend im Süden der heutigen Slowakei. 1938 gehörte auch die Karpaten—Ukraine zu Tschechoslowakei. Sie gehört seit 1945 zur Ukraine (bis 1991 Teil der Sowjetunion), hier gibt es noch heute eine große ethnische ungarische Minderheit. Das Olsa—Gebiet (mit einer Minderheit ethnischer Polen) war vor dem Ersten Weltkrieg ein Teil von Österreichisch—Schlesien.

Das Hultschiner Ländchen (1910: 48.000 Einwohner) hatte vor dem Ersten Weltkrieg zu Deutschland gehört und war, gegen den Willen der Mehrheit der Einwohner, zur Tschechoslowakei gekommen.

4   Die außenpolitische Absicherung der Tschechoslowakei

Die Tschechoslowakei bildete, mit Unterstützung Frankreichs, 1920—22, die „KLEINE ENTENTE“, ein 3er—Bündnis aus der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien.

Am 25. Januar 1924 schloss die Tschechoslowakei ein Bündnis mit Frankreich. 1938 wohnten in diesen 4 Staaten ungefähr 15,8 % der Bevölkerung der 29 europäischen Staaten.

Am 16. Mai 1935 schloss die Tschechoslowakei ein Bündnis mit der Sowjetunion. Der Vertrag enthielt jedoch die Klausel, dass militärische Hilfeleistung der Sowjetunion nur im Falle eines vorherigen militärischen Beistandes durch Frankreich erfolgen sollte.

5   Die Beseitigung Österreichs 1938

1938 wohnten in Österreich ca. 1,2 % der Bevölkerung der 29 europäischen Staaten. Im März 1938 wurde Österreich von Deutschland erst okkupiert und dann annektiert: Die Österreicher wurden deutsche Staatsangehörige (bis 1945). Der Anteil Deutschlands an der Bevölkerung der 29 europäischen Staaten war damit auf etwa 13,0 % angestiegen.

6   Der Begriff „Sudetendeutsche“

Die Länder der Böhmischen Krone (Böhmen, Mähren und Schlesien) waren 1526 unter die Herrschaft der Habsburger gekommen. Im 18. Jahrhundert kam der größte Teil Schlesiens zu Preußen. Die ethnischen Deutschen wurden, vom Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, als Deutschböhmen, Deutschmährer und Deutschschlesier bezeichnet. Der Friedensvertrag von Saint—German—en—Laye, in Kraft seit dem 16. Juli 1920, zwischen Österreich und den Alliierten, bestimmte, dass das Sudetenland zur Tschechoslowakei kam, dass die ethnischen Deutschen ihre österreichische Staatsangehörigkeit verloren, und dass sie tschechoslowakische Staatsangehörige wurden. Der Begriff „Sudetendeutsche“ ersetzte die bisherigen 3 Namen.

7   Die Vorbereitung des deutschen Angriffs auf die Tschechoslowakei

Am 01. Oktober 1933 wurde die Sudetendeutsche Heimatfront gegründet und am 05. November 1935 in Sudetendeutsche Partei (SDP) umbenannt. Deutschland baute die SDP zielstrebig zur Beseitigung der Tschechoslowakei aus. Die Mitgliederzahl der SDP betrug:

Ende 1936 Ende 1937 März 1938 April 1938
460.000 548.000 759.000 1,047.000

Am 22. April 1938 wurde in Berlin die erste Version der „STUDIE GRÜN“, zum Angriff auf die Tschechoslowakei, erlassen. 2 Tage später verlangte die SDP die Autonomie des Sudetenlandes.

Am 30. Mai 1938 erhielt die „STUDIE GRÜN“ ihre zweite Version, die Tschechoslowakei sollte in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zerschlagen werden.

8   Die Haltung der 3 ständigen Mitglieder des Völkerbundrates zur Tschechoslowakei 1938

Die Sowjetunion hatte sich, seit ihrer Aufnahme in den Völkerbund, am 18. September 1934, bemüht, ein sowjetisch—britisch—französisches Bündnis gegen Deutschland zustande zu bringen.

Frankreich hatte, am 02. Mai 1935, ein Bündnis mit der Sowjetunion unterzeichnet. In London, am 28./29. April 1938, auf einem britisch—französischen Gipfeltreffen, verlangte Frankreich, durch Kooperation mit der Sowjetunion, die Tschechoslowakei gegen Deutschland zu unterstützen. Das Vereinigte Königreich wies die französischen Forderungen zurück. Das Vereinigte Königreich und Frankreich beschlossen, dass die Tschechoslowakei die Forderung der SDP nach Autonomie des Sudetenlandes annehmen sollte. Am 14. September 1938, auf einer Sitzung des Völkerbundes in Genf, erklärte die Sowjetunion, dass sie der Tschechoslowakei zu Hilfe kommen werde. Am 21. September 1938 wurde in 2 Militärbezirken, Weißrussland und Kiew, die Mobilisierung durchgeführt. Die Sowjetunion hatte jedoch damals keine Grenze zur Tschechoslowakei.

9   Die Haltung Rumäniens, Polens und Ungarn zur Tschechoslowakei

Rumänien gewährte der Sowjetunion kein Durchmarschrecht, jedoch insgeheim Überflugrechte.

Am 21. September 1938 verlangte Polen von der Tschechoslowakei die Abtretung des Olsa—Gebietes und gab bekannt, dass sein Gebiet und sein Luftraum für die Sowjetunion gesperrt wären. Am gleichen Tage verlangte Ungarn tschechoslowakische Gebiete.

10 Die 4er—Gipfelkonferenz in München am 29./30. September 1938

Deutschland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien beschlossen, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland, vom 01.—10. Oktober 1938, an Deutschland abzutreten habe. Die Gebietswünsche Polens und Ungarns sollten später geregelt werden. Außerdem wurde eine deutsch—britische Nichtangriffserklärung unterzeichnet.

11 Die Folgen des Komplotts von München

  1. Deutschland okkupierte und annektierte das Sudetenland. Die Sudetendeutschen verloren die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit und wurden deutsche Staatsangehörige.
  2. Polen stellte am 01. Oktober 1938 an die Tschechoslowakei ein Ultimatum zur Abtretung des Olsa—Gebietes, okkupierte und annektierte es einen Tag später.  Am 01. Dezember 1938 okkupierte und annektierte Polen ein weiteres kleines Gebiet im Norden der Slowakei.
  3. Ungarn erreichte am 02. November 1938, in Wien, die deutsch—italienische Zustimmung, dass es Gebiete im Süden der Slowakei und der Karpatenukraine annektieren durfte.
  4. Deutschland bewirkte, dass die Slowakei am 14. März 1939 ihre Unabhängigkeit ausrief, und verwandelte die Slowakei, durch einen „Schutzvertrag“,  in einen Satelliten—Staat.
  5. Deutschland okkupierte Tschechien am 15. März 1939 und verwandelte Tschechien in das Protektorat Böhmen—Mähren.
  6. Ungarn okkupierte und annektierte am 15. März 1939 die gesamte Karpaten—Ukraine.
  7. Deutschland  okkupierte und annektierte am 23. März 1939 das Memelgebiet, das ein autonomes Land von Litauen war.
  8. Das Vereinigte Königreich und Frankreich anerkannten am 27. März 1939 die von Deutschland und Italien anerkannte Gegenregierung im Spanischen Bürgerkrieg.
  9. Italien okkupierte am 07. April 1939 Albanien und annektierte es faktisch.
  10. Ungarn trat am 11. April 1939 aus dem Völkerbund aus.
  11. Spanien trat am 08. Mai 1939 aus dem Völkerbund aus.

12 Der Anti–Völkerbund–Block in Europa 1939

Der Block umfasste die beiden Großmächte Deutschland und Italien, außerdem Spanien und Ungarn, sowie 3 beseitigte Staaten (Österreich, Tschechoslowakei, Albanien;). Im Gebiet dieser 7 Länder wohnten ca. 170 Millionen Menschen, 29 % der Bevölkerung der 29 europäischen Staaten. Der Block hatte etwa die gleiche Einwohnerzahl wie die Sowjetunion.

Wolfgang Schürer ist Vorsitzender des Kreisverbandes Offenbach a. M. der Freidenker


Bild oben: Beim Treffen zum Münchner Abkommen am 29.09.1938. Vorn v.l.n.r.: Chamberlain, Daladier, Hitler, Mussolini, und der italienische Außenminister Graf Galeazzo Ciano
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R69173 / CC BY-SA 3.0 de

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