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Die Geschichte eines ökonomischen Verrats

von Dagmar Henn

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Teil 1 – Europa für die USA opfern
Teil 2 – Selbstzerstörung ohne Nutzen


Teil 1 – Europa für die USA opfern

Erstveröffentlichung am 10.09.2022 auf RT DE

Wer hat das Sanktionsdesaster geplant, und warum? Es gibt ein Dokument, das der Schlüssel dazu sein könnte, wenn es denn echt ist. Die formulierten Interessenskonflikte jedenfalls sind real. Die Verantwortung für die drohende europäische Zerstörung ebenso.

Wann immer ein historisch bedeutender Verrat geschieht – und anders kann das Verhalten der deutschen wie der anderen EU-Regierungen nicht mehr bezeichnet werden – beginnt das Rätselraten, wie dieser Verrat vorbereitet und ausgelöst wurde.

In den letzten Tagen ist ein Papier aufgetaucht, das angeblich von der RAND Corporation stammt. RAND ist ein US-Thinktank, der unter anderem dem Pentagon zuarbeitet und von dem ich das erste Mal hörte, als 2014 ein Dokument zirkulierte, in dem in englischer Sprache durchdacht wurde, wie die Ukrainer mit den Bewohnern der Gebiete im Donbass umgehen sollten, die sie einnähmen. Weiter bekannt ist ein RAND-Papier, das eine militärische Auseinandersetzung zwischen den USA und China und/oder Russland durchspielte und bei 14 verschiedenen Varianten jedes Mal eine Niederlage der USA eingestehen musste.

Dieses neue, noch unbestätigte Papier soll vom 25. Januar stammen. Der Anti-Spiegel hat es komplett übersetzt; ich werde mich auf einige Zitate beschränken.

Die wichtigste einleitende Feststellung ist, dass die US-Ökonomie auf Zuflüsse von außen angewiesen ist. Diese Feststellung ist definitv richtig. Ein Dokument, in dem man darüber nachlesen kann, ist die Studie „Intellectual property and the US economy“, die mittlerweile in der dritten Version erschienen ist (ich hatte mich einmal mit der zweiten Version gründlicher beschäftigt). Diese „Rechte an geistigem Eigentum“ werden oft übersehen, wenn man die Ökonomie nicht nur in den USA, sondern auch in der EU betrachtet; die Börsenspekulation ist schlicht auffälliger.

Diese „Rechte an geistigem Eigentum“ beziehen sich auf Patente, Markenrechte, Gebrauchsmuster et cetera, aber auch auf jene immateriellen oder höchstens teilmateriellen Produkte wie Software. Sprich, es sind Zahlungen, die von Kunden aus anderen Ländern geleistet werden, ohne dass ihnen ein tatsächlicher materieller Wert gegenübersteht, die aber im bestehenden Rechtsrahmen und in der gegenwärtigen (schwindenden) globalen Machtordnung durchsetzbar sind. Wer sich noch an die vielfältigen Klagen über chinesische Raubkopien vor fünfzehn, zwanzig Jahren erinnert, wird schnell erkennen, dass diese Ansprüche eine Machtfrage sind.

Der Umfang dieser Einnahmen ist enorm. Ich hatte einmal anhand des Berichts von 2016 versucht, das Volumen zu schätzen, und kam für die USA auf eine Größenordnung von mindestens 15, maximal 25 Prozent des BIP. In der EU und insbesondere in Deutschland ist die Lage ähnlich; es gibt einen äquivalenten Bericht der EU, und die Entwicklung zeigt in die gleiche Richtung wie in den Vereinigten Staaten.

Nun sind diejenigen, die diese Erträge einziehen, weder diejenigen, die das Produkt erstellen (ein Beispiel dafür ist die Produktion von iPhones), noch überwiegend diejenigen, die diese Produkte kaufen. Es handelt sich also um Abflüsse aus anderen Volkswirtschaften, die allein auf einer Machtgrundlage erfolgen; und die logischerweise, wenn diese Machtgrundlage entfällt, nicht mehr fließen.

Einen Verlust von Einnahmen in Höhe eines Viertels des BIP kann keine Ökonomie verkraften. Dazu muss man nur sehen, dass selbst eine schwere Rezession vielleicht zu einem Rückgang von fünf oder acht Prozent führt. Schon die untere Grenze von 15 Prozent erreicht das Niveau einer großen Depression. Insofern ist es nachvollziehbar, dass diese Einnahmequelle (die weit überwiegend dem obersten Prozent der Wohlhabenden zugutekommt) mit Zähnen und Klauen verteidigt wird; das ist auch der ökonomische Hintergrund der europäischen Kooperationswilligkeit im Interesse eben dieser kleinen Gruppe von Milliardären, die hier in Europa ebenso verlieren würden wie ihre Gegenstücke in den USA.

Aber zurück zu dem möglicherweise von RAND erstellten Papier. Es bewertet diese Lage durchaus korrekt:

„Es ist dringend notwendig, dass Ressourcen in die nationale Wirtschaft fließen, insbesondere in das Bankensystem. Nur europäische Länder, die durch EU- und NATO-Verpflichtungen gebunden sind, werden in der Lage sein, diese ohne erhebliche militärische und politische Kosten für uns bereitzustellen.“

Militärische und politische Kosten bedeutet, die Einzigen, die das ohne allzu großen Zwang tun. Das Wort „erheblich“ besagt nichts anderes, als dass Schaden angerichtet wird, er aber beherrschbar ist. Ob diese Einschätzung zutrifft, wird die Zukunft erweisen.

Und der Text kommt zu einem sehr spezifischen Schluss:

„Das Haupthindernis dafür ist die wachsende Unabhängigkeit Deutschlands.“

Wie gesagt, die Verlagerung weg von realer Produktion hin zu diesen „Rechten an geistigem Eigentum“ findet bereits seit einigen Jahrzehnten statt. Noch einmal zum Skalenvergleich – Deutschland hat sich von allen europäischen Ländern den höchsten Anteil an realer Produktion erhalten; er liegt bei zwölf Prozent des BIP. Tatsächlich, insofern treffen die Aussagen aus diesem Bericht zu, ist es das einzige europäische Land, das noch einen nennenswerten Anteil an Produktion aufweist, und damit eine Marktkonkurrenz für die Vereinigten Staaten wäre, sollten die Zuflüsse aus dem Sektor des geistigen Eigentums wie die Märkte des globalen Südens verschließen (was exakt das Szenario ist, das sich abzeichnet).

Die politischen Rahmenbedingungen, die das Papier beschreibt, sind durch eine Niederlage der Demokraten bei den Zwischenwahlen definiert; diese würden zu einem Rückzug der USA aus Europa führen und damit, über eine dominante Achse Berlin-Paris, zu einer größeren europäischen Unabhängigkeit führen, weil die braven US-Anhänger Osteuropas sich nicht mehr durchsetzen könnten.

Es ist dieser eine Punkt, der mich an der Echtheit des Textes zweifeln lässt. Nach den Papieren, die ich kenne, und nach dem, was ich über die etablierten Thinktanks weiß, ist eine direkte innenpolitische Parteinahme für eine solche Organisation sehr ungewöhnlich. Das bestimmt schon das Eigeninteresse. RAND lebt von Aufträgen der US-Regierungen und ist darauf angewiesen, mit jeder arbeiten zu können. Eine innenpolitische Parteinahme käme einem ökonomischen Selbstmord gleich. Allerdings, wir leben in der Zeit der Narren, internationale Organisationen werden gerade im Bündel verbrannt (gestern erst die IAEA, indem sie sich weigerte, zu benennen, wer auf das Kernkraftwerk bei Saporoschje schießt), also ist nicht auszuschließen, dass auch RAND in diesen Chor mit einstimmt.

Übrigens, was „Ressourcenflüsse“ angeht – die ganze Corona-Impfkampagne und die Fixierung auf das Produkt von BioNTech/Pfizer war ein enormer Ressourcenfluss, und man könnte fast den Verdacht hegen, dass BioNTech eine Fassade ist, die eingesetzt wurde, um mit Hilfe einiger lokaler Beteiligungen die Kooperation dabei sicherzustellen. Hier reden wir nicht von Milliarden, wir reden von Billionen, und das Spiel hat hervorragend funktioniert und mit Sicherheit über entsprechende Hebel auf Futures zusätzliche Erträge in die Wall Street gespült. Schließlich reicht es, ein paar Personen in der EU-Kommission zu kaufen, um den ganzen Markt abzuschotten und Fantasiepreise zu verlangen… auch das übrigens ein „Produkt“ aus der Kategorie „geistiges Eigentum“.

„Eine Zunahme des Ressourcenflusses von Europa in die USA ist zu erwarten, wenn Deutschland in eine kontrollierte Wirtschaftskrise gerät. Das Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung in der EU hängt fast alternativlos von der Lage der deutschen Wirtschaft ab.“

Das ist eine zutreffende Beschreibung. Und wenn man die EU-Politik nüchtern betrachtet, muss man sagen, dass Deutschland im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte beispielsweise über die Troika-Politik mit dafür gesorgt hat, die Nachbarländer zu deindustrialisieren. Zynisch gesprochen, könnte man fast behaupten, dass die USA jetzt mit Deutschland das tun, was Deutschland mit Griechenland, Spanien und Portugal getan hat.

„Das derzeitige deutsche Wirtschaftsmodell stützt sich auf zwei Säulen. Das sind der unbegrenzte Zugang zu billigen russischen Energieressourcen und zu billigem französischen Strom, dank des Betriebs von Kernkraftwerken. Die Bedeutung des ersten Faktors ist wesentlich höher. Eine Unterbrechung der russischen Lieferungen kann durchaus eine Systemkrise auslösen, die für die deutsche Wirtschaft und indirekt für die gesamte Europäische Union verheerend wäre.“

Wie gesagt, die Einschätzungen in diesem Papier sind durchaus korrekt. Auch wenn im nächsten Abschnitt, in dem es um die französische Nuklearenergie geht, interessanterweise zwar von den Problemen Frankreichs in der Sahelzone die Rede ist (Mali war für die Uranversorgung wichtig), und eine „kritische Abhängigkeit von australischen und kanadischen Brennstoffen“ bei Entzug russischer Lieferungen erwähnt wird, taucht ein höchst kritischer Punkt nicht auf. Die französischen Kernkraftwerke sind nicht nach den US- oder den deutschen Modellen gebaut, sondern nach den sowjetischen, und der Grund, warum zurzeit so viele davon stillstehen, ist, dass es für die ordnungsgemäße Wartung Personal braucht, das infolge der Sanktionen nicht zur Verfügung steht.

Das ist ein weiterer Punkt, der gewisse Zweifel auslöst, denn auch das muss den Amerikanern eigentlich bekannt sein.

„Dank unserer präzisen Aktionen war es möglich, die Inbetriebnahme der Pipeline Nord Stream 2 trotz des Widerstands der Lobbyisten aus der Stahl- und Chemieindustrie zu verhindern. Die dramatische Verschlechterung des Lebensstandards könnte die deutsche Führung jedoch dazu bewegen, ihre Politik zu überdenken und zur Idee der europäischen Souveränität und strategischen Autonomie zurückzukehren.“

Nur, um das Gedächtnis aufzufrischen, was mit „präzisen Aktionen“ gemeint sein könnte – dabei dürfte es nicht nur um die deutschen Grünen gehen, sondern vor allem um die Klage der polnischen Regierung, die dazu führte, dass sich die europäischen Partner, die ursprünglich den Bau von Nord Stream 2 veranlasst hatten (es war immer ein deutsches, kein russisches Projekt), aus der Betreiberfirma zurückzogen, und die dadurch ausgelöste zeitliche Verzögerung, die – um den Zeitraum eines einzigen Monats – die Inbetriebnahme plötzlich nicht mehr von einer deutschen, sondern einer europäischen Genehmigung abhängig machte.

Nun, auch die Polen werden noch merken, dass sie sich damit selbst geschadet haben. Daran wird auch eine Reparationsforderung gegen Deutschland nichts ändern. Schließlich wird ihnen das russische Gas ebenso fehlen, selbst wenn sie es gern über deutsche Zwischenhändler kauften und sich rückwärts durch Jamal schicken ließen. Auch die polnische Ammoniakproduktion steht mittlerweile. Nationale Eitelkeit kann man nicht essen, und ökonomisch werden auch sie von den USA gerade geschlachtet. Eigentlich hätte ihnen der britische Verrat 1939 reichen müssen. Aber manche lernen langsam.

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Teil 2 – Selbstzerstörung ohne Nutzen

Erstveröffentlichung am 11.09.2022 auf RT DE

Das vermeintliche RAND-Papier entwickelt eine Strategie, wie Europa genutzt werden könnte, um eine US-Wirtschaft am Leben zu halten, deren koloniale Macht gebrochen ist. Aber sowohl bezogen auf Europa als auch auf die USA gehen die Annahmen fehl.

Um Deutschland dazu zu bringen, die russischen Energielieferungen selbst zu kappen, so das Papier, müsse es in einen Konflikt mit Russland hineingezogen werden, was über die Aktivierung des Donbass-Krieges gelingen könne.

An diesem Punkt muss man anmerken, dass die Regierung Merkel mit ihrer Untätigkeit bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen diese Möglichkeit geschaffen hat. Auch hier wird es erst der Blick in die internen Dokumente klären, ob es eigene Großmachtwünsche oder US-Vorgaben waren, die dafür sorgten, dass die offene Wunde des Donbasskrieges erhalten blieb. Aber es ist eindeutig, dass es Handlungsoptionen gab, die nicht genutzt wurden.

„Die Voraussetzung dafür, dass Deutschland in diese Falle tappen kann, ist die führende Rolle der grünen Parteien und Ideologie in Europa. Die deutschen Grünen sind eine stark dogmatische, wenn nicht gar eifrige Bewegung, was es recht einfach macht, sie dazu zu bringen, wirtschaftliche Argumente zu ignorieren.“

Auch dies eine zutreffende Einschätzung. Aber dann folgt ein weiterer Satz, der mich stutzig macht: „Persönliche Eigenschaften und die mangelnde Professionalität ihrer Führer – allen voran Annalena Baerbock und Robert Habeck – lassen vermuten, dass es für sie nahezu unmöglich ist, eigene Fehler rechtzeitig zuzugeben.“

Nicht, dass diese Einschätzung falsch wäre. Aber Einschätzungen von politischem Personal, das ist eine Ebene, auf der sich RAND eigentlich nicht bewegt; das ist der Job der CIA. Das ist keine Frage des Könnens oder Wollens, sondern eine Frage der Arbeitsteilung.

„Die Beteiligung Deutschlands an umfangreichen Waffen- und Rüstungslieferungen an die ukrainische Armee wird unweigerlich ein starkes Misstrauen in Russland hervorrufen, was den Verhandlungsprozess ziemlich langwierig machen wird.“

Ein weiterer zutreffender Punkt. Man könnte ihn noch ein wenig mit dem Detail verschärfen, dass es nach wie vor keinen Friedensvertrag zwischen Deutschland und Russland gibt, also die aus dem Potsdamer Abkommen resultierenden Besatzungsrechte juristisch nach wie vor gültig sind und das gegenwärtige Verhalten der Bundesregierung gegen dieses Abkommen verstößt.

Ungeachtet dessen – der Sumpf rund um den militärisch-industriellen Komplex (MIK) ist in Europa vielleicht nicht so tief wie in den USA, aber es gibt ihn. Der wahre Schwachpunkt im Zusammenhang mit den Rüstungslieferungen an die Ukraine besteht darin, dass auch der deutsche MIK dafür sorgt, dass ihm dieses Geschäft nicht entgeht. Nachdem zurzeit in Deutschland keine nennenswerte Friedensbewegung mehr existiert, muss man ihn nur mit dem Wurstzipfel locken. Und eine teils auch dank Corona schwierige wirtschaftliche Lage (Chipmangel zum Beispiel) sorgt bei den nach dem Prinzip der verschiebbaren Trennwand aufgebauten deutschen Maschinenbau-/Rüstungsfirmen dafür, dass ihnen besonders schnell der Mund wässrig wird.

„Eine Verringerung der russischen Energielieferungen – im Idealfall ein völliger Stopp dieser Lieferungen – hätte katastrophale Folgen für die deutsche Industrie. (…) In den größten Betrieben der Chemie-, Metallurgie- und Maschinenbauindustrie ist ein völliger Stillstand wahrscheinlich, da sie praktisch keine freien Kapazitäten haben, um den Energieverbrauch zu senken.“

Wie gesagt, die Einschätzungen sind überwiegend korrekt. Die Beschreibung der Folgen mit einem Währungsverfall des Euro, einem Rückgang des BIP wegen ausfallender Produktion um drei bis vier Prozent jährlich und einer Arbeitslosigkeit von 200.000 bis 400.000 in Deutschland sind allerdings viel zu optimistisch.

„Das untersuchte Szenario wird also sowohl indirekt als auch ganz direkt zur Stärkung der nationalen Finanzlage beitragen. Kurzfristig wird es den Trend der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Rezession umkehren und darüber hinaus die amerikanische Gesellschaft konsolidieren, indem es sie von unmittelbaren wirtschaftlichen Sorgen ablenkt.“

Und hier sind wir in Lalaland. Denn sollte das Papier tatsächlich von der RAND-Corporation stammen, belegt das Ergebnis nur, dass auch dort Kaskadeneffekte weit unterschätzt werden und die Ahnung wirklicher wirtschaftlicher Zusammenhänge sehr begrenzt ist.

Inzwischen sind beispielsweise die Nebenprobleme, die aus der massiven Verringerung der Ammoniakproduktion in Europa resultieren, nämlich das Fehlen von CO2 sowie von AdBlue, bis in die Mainstreampresse vorgedrungen. Sie hätten es bei uns bereits vor Monaten lesen können. Eine Erwartung, dass Abflüsse aus Europa dank Kapitalflucht und Ersetzung europäischer Produkte durch US-amerikanische die US-Wirtschaft retten könnten, wird sich als Illusion erweisen.

Zum einen gibt es gar keinen Grund, warum Kapital nur in die USA fliehen sollte. Russland und China sind augenblicklich weit interessantere Ziele; selbst Indien ist attraktiver als die politisch zunehmend instabilen und unberechenbaren USA. Ganz zu schweigen davon, dass Teile der Sanktionspakete wie die Beschlagnahmung russischen Staatsvermögens, von Privatvermögen, die Verletzung bestehender Verträge gewissermaßen weltweit ein Signal gesetzt haben, dass nur Idioten hier Geld anlegen.

Allein der Schritt, der auf Zypern gegangen wurde, als sämtliche Bankguthaben wie Beteiligungen an der Bank behandelt wurden, und der über die G7 – auf deutsches Verlangen übrigens – in die entsprechende Gesetzgebung sämtlicher G7-Staaten übernommen wurde, wäre schon Grund genug, sein Geld aus diesen Ländern abzuziehen. Mit jedem Schritt, der bei den Russland-Sanktionen gegangen wurde, wurde also eine ohnehin kritische Lage weiter verschärft, und die Zerstörung der Schweizer Neutralität hat auch noch das letzte Schlupfloch gestopft. Es sind alles Maßnahmen, die selbst bei unangefochtener ökonomischer Dominanz kritisch sind, beim Fehlen derselben aber geradezu selbstmörderisch, weil sie grundsätzliche Unzuverlässigkeit signalisieren.

Gleiches gilt für entsprechende eventuelle Bewegungen von Menschen. Wenn Studenten aus Afrika längst nicht mehr in die USA gehen, sondern nach China, warum sollten Menschen, die ein zusammenbrechendes Europa verlassen, in die USA gehen, um dann vom Regen in die Traufe zu geraten? Länder, in denen die Hauptstraßen der Großstädte von den Zelten Obdachloser gesäumt sind, erwecken nicht gerade Vertrauen in eine blühende Zukunft.

Und die europäische Industrie im europäischen Binnenmarkt zu ersetzen, um so Wachstum für die USA zu generieren, dürfte ebenfalls ein Wunschtraum bleiben. Denn der Absturz ist so tief, dass es schlicht keine Käufer für diese Waren mehr gibt. Das bisschen Luxusproduktion für die profitierenden Milliardäre ist für eine große Volkswirtschaft wie die der USA ein Tröpfchen auf den heißen Stein.

„Mittelfristig (4-5 Jahre) könnten sich die kumulierten Vorteile der Kapitalflucht, der neu ausgerichteten logistischen Ströme und des geringeren Wettbewerbs in den wichtigsten Branchen auf sieben bis neun Billionen Dollar belaufen.“

Nun, wenn Europa kein Benzin und kein Geld mehr hat, werden auch keine US-amerikanischen Autos verkauft. Nicht einmal die technisch minderwertigen Spekulationsprodukte der Firma Tesla, deren Umsatz dann am nicht vorhandenen Strom scheitern wird. Und auch mit den CO2-Zertifikaten kann man keinen Schnitt mehr machen, wenn die Industrie zusammengebrochen ist.

Was das Papier ebenfalls unterschätzt, ist die politische Dynamik, die solche Ereignisse lostreten. Es mag sein, dass massive Repression die politischen Eliten in der EU im Amt zu halten vermag; dann ist der Niedergang, nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial und kulturell, eine beschlossene Sache, aber in einem Ausmaß, dass die USA allerhöchstens in Form eines Flüchtlingsstroms davon profitieren könnten. Sollte es aber zu den massiven politischen Veränderungen kommen, die erforderlich wären, um Europa zu retten, wird das Ergebnis eine neue politische Klasse sein, die mit einem Land auf diesem Planeten mit Sicherheit nichts mehr zu tun haben will – mit den Vereinigten Staaten.

Ist es vorstellbar, dass strategische Überlegungen der Art, wie sie in diesem Papier getätigt werden, stattfinden? Gewiss. Zumindest bei öffentlichen Papieren (dies soll ja ein Geheimpapier sein) werden sie nur in wolkigere Formulierungen gekleidet. Beispiele dafür lassen sich auf der Webseite des Auswärtigen Amtes oder der BND-Stiftung Wissenschaft und Politik jederzeit finden. Es ist noch nicht allzu lange her, im Jahr 2015, da schmückte sich der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit einem Bezug auf einen Aufsatz mit dem Titel „Europa führen, um die Welt zu führen“. Insofern ist auch die Wahrnehmung in diesem vermeintlichen RAND-Papier korrekt, dass sich Deutschland langsam, aber kontinuierlich in eine Konkurrenzposition zu den USA begeben hatte.

Ist die Bösartigkeit, die aus diesem Papier spricht, vorstellbar? Zweifellos. Eines Tages wird man die internen Dokumente sichten können, die den Troika-Verträgen vorausgingen; sie dürften ähnlich klingen. Der ehemalige griechische Finanzminister Varoufakis hat ja einiges ausgeplaudert, wie es bei den Sitzungen der EU-Granden mit der griechischen Regierung zuging. Und man kann die Troika-Verträge selbst im Internet finden, in denen detailliert vorgegeben ist, wann die griechischen Renten und Löhne um wieviel gekürzt und wie viele griechische Kliniken geschlossen werden mussten.

Es lag auch bereits seit Einsetzen der Krise 2008 auf dem Tisch, dass zwischen den Kernländern des Westens eine Konkurrenz stattfindet, die darauf hinausläuft, dass derjenige gewinnt, der als Letzter noch steht. Was zu jenem Zeitpunkt noch nicht absehbar war, war die Entwicklung des globalen Südens, der – auch das muss nicht wundern – die Schwäche der westlichen Mächte nutzt, um ihre Herrschaft abzuschütteln. Aber man muss der Tatsache ins Auge blicken, dass im Verlauf dieses Konkurrenzkampfes die deutschen Regierungen mit dem Rest der EU keinen Deut freundlicher umgegangen sind, als es jetzt die USA mit der gesamten EU tun, gleich, ob dieses RAND-Papier nun echt oder gefälscht ist.

Man könnte die Haupthypothese dieses Papiers so zusammenfassen: Wenn der uns zugängliche Wirtschaftsraum auf die 15 Prozent der Weltbevölkerung schrumpft, die der „Westen“ umfasst, dann gibt es nur noch Platz für eine Industrienation, und das sollen die USA sein.

Das ist insofern noch eine relativ vernünftige Position, als dass die Niederlage gegen die restlichen 85 Prozent der Welt indirekt eingestanden und zur Grundlage der formulierten Strategie wird. Das ist ein Argument für die Echtheit, denn verglichen mit den gesamten Zusammenhängen der US-Neocons war RAND immer vergleichsweise rational, und was hier beschrieben wird, ist eine Kompensationsstrategie, die die globale Veränderung bereits einrechnet.

Aber selbst wenn es gelänge, Europa bis zum letzten Blutstropfen auszusaugen (was in jeder der beiden möglichen Varianten scheitern wird, siehe oben) – das wird nicht dafür sorgen, dass sich die US-Wirtschaft stabilisiert. Der Geldzufluss wird nicht reichen, um die Spekulationsblasen am Platzen zu hindern, und der Wegfall der Einnahmen aus dem geistigen Eigentum, der zwangsläufig spätestens dann geschieht, wenn sich die bereits bestehende chinesische Führung bei den Patenten materiell umsetzt (vermutlich aber weit früher), ist nicht kompensierbar. Den Vereinigten Staaten steht ein Schicksal bevor, das dem eines Vampirs im Sonnenlicht gleicht, und sie sind nicht Wesley Snipes in „Blade“.

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Dagmar Henn ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes


Bild oben: pixabay.com / geralt / Pixabay License