Frieden - Antifaschismus - Solidarität

Strategie der Spannung

Kommentar von Hans-Rüdiger Minow

Erstveröffentlichung am 27.07.2022 auf  german-foreign-policy.com

„Russland ruinieren“ zu wollen, diese Absichtserklärung des deutschen Außenministeriums hat sich binnen weniger Monate als das erwiesen, was sie von Anfang an war: wirklichkeitsfremd und Ausdruck eines aggressiven Affekts, der in der deutsch-russischen Diplomatiegeschichte, ja in den deutsch-russischen Beziehungen überhaupt, das deutsche Scheitern vorwegnimmt. „Russland ruinieren“ wollten schon andere im Auswärtigen Amt, deren Namen zu nennen sich hier verbietet, weil sie nichts weiter waren und nichts weiter sind als Inkarnationen eines wirtschaftlich begründeten Größenwahns, den der antislawische Rassismus reitet. In Ost- und Südosteuropa sind ihm Millionen zum Opfer gefallen. Die deutschen Truppen standen zwar vor Leningrad, das sie aushungern wollten, sie haben in Warschau gehaust und in Pančevo gemordet – aber sie mussten den Rückzug antreten.

Russische Horden

Der antislawische Rassismus, jetzt „Russophobie“ genannt, unterströmt die vom Auswärtigen Amt ausgelöste Vernichtungshetze in der tonangebenden deutschen Publizistik. Insbesondere das Paradeblatt der deutschen Wirtschafts- und Feuilletonelite, die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), öffnet ihre Seiten seit Monaten einem Gegnerbild, das ins Mittelalter ausgreift und verängstigend ist. Im regressiven Zentrum der Vernichtungshetze, „Russland ruinieren“ zu wollen, wüten antislawische Schreckgespenster mit asiatischem Aussehen: So wie heute sei es auch „damals“ gewesen, „als Dschingis Khans tatarisch-mongolische Horden das Gebiet der Ukraine angriffen“ (FAZ vom 10. Mai 2022). „Nun treibt die Invasion der russischen Horden erneut Ukrainer nach Westen.“

Feindprojektionen

Dass die Redaktion dieses Blattes solche Texte unkommentiert abdruckt, darf man ihr nicht vorwerfen. Es handelt sich nicht um ein Versäumnis. Presseorgane dieser Art, die öffentlich-rechtlichen Anstalten ARD und ZDF eingeschlossen, sind meinungsbildender Teil einer staatlichen, rassistisch unterlegten Militarisierung im Krieg gegen „Russen“ geworden. Zwar würden „Russen europäisch aussehen“, hieß es in einer prominenten TV-Runde des ZDF,  aber „wir dürfen nicht vergessen …, dass es keine Europäer sind – im kulturellen Sinne“ (12. April 2022). Demnach sind die uneuropäischen Russen ethnisch (rassisch) hybrid, und ihr Krieg ist genetisch codiert: das antislawische Gegnerbild wird um Projektionen erweitert, die den Asiaten gelten – einer künftigen Schlacht gegen China. Einreden des Deutschen Presserats, eines Organs der „Freiwilligen Selbstkontrolle“, das über „ethische Qualitätsstandards im (deutschen) Journalismus wacht“, sind nicht bekannt.

Zusammenfluss

Man möchte hoffen, dass die offen rassistischen Elemente der Vernichtungshetze einem extremen Milieu der deutschen Politik und ihrer Medien zugerechnet werden könnten. Diese Hoffnung zerschellt an den Tatsachen. Offen rassistische Elemente werden an höchsten Stellen der deutsch dominierten EU grundiert. Im Fall der zitierten Äußerungen über „Russen“, die europäisch aussehen, aber „keine Europäer sind“, stammen sie aus dem Wortbeitrag einer Politikwissenschaftlerin, die das ZDF als stellvertretende Direktorin des „Instituts der Europäischen Union für Sicherheitsstudien“ (EUISS) vorstellte. Sie ist keine Extremistin und verfügt über Universitätsabschlüsse in München und Berlin. Allerdings versäumte es die TV-Anstalt, über die Wissenschaftlerin und das EU-Institut umfassend zu informieren: Das steuerfinanzierte Institut ist „für die Beschaffung von Militärgütern in der EU aktiv“ und arbeitet „eng mit Personen aus der Rüstungsindustrie … zusammen“, heißt es bei Wikipedia. Ein Blick auf die „Personen aus der Rüstungsindustrie“ offenbart, dass sie aus der allerersten Reihe kommen. Sie sind die Chief Executive Officers (CEO) der europaweiten Großindustrie für Kriegsgerät, von panzerbrechenden Artilleriewaffen über Drohnen bis zu Lenkraketen, wie sie der Ukraine angeliefert werden. Bei Airbus, MBDA, BAE, SAAB, Indra oder Liebherr Aerospace steigern sie Milliardenumsätze. Ihre enge Kooperation mit dem EU-Institut offenbart den Zusammenfluss der wirtschaftlichen Rüstungsinteressen mit dem antislawischen Rassismus, der die Vernichtungshetze popularisiert.

Erinnerung

Aber trotz aller Gewaltpropaganda, die an die Exzesse des Kalten Krieges heranreicht, stellt sich in der deutschen Gesellschaft keine Begeisterung ein. „Russland ruinieren“ zu wollen erinnert an die Folgen des vorerst letzten historischen Versuchs, an die Familiengeschichten der heute Sechzigjährigen, deren Großväter nicht zurückkehrten und deren Väter beschwiegen, was vor Leningrad, in Warschau oder an der Friedhofsmauer in Pančevo geschehen war. Jeder zweite Deutsche im kriegsfähigen Alter ängstigt sich vor der Ausweitung der Gewalt in Osteuropa und plädiert für Friedensverhandlungen. Indem das Auswärtige Amt dieses Verlangen als Kriegs- müdigkeit verwarnt („fatigue“), als einen Zustand schläfriger Bewusstseinstrübung (FAZ vom 2. Juni 2022), wertet es den Friedenswunsch nicht nur ab; es forciert zugleich den Bellizismus, den Gewaltaffekt.

Feuerkraft

Hier schließt das aggressivste Segment der operativen und theoretischen deutschen Militärbürokratien mit einem Aufruf an, die Gewalt in der Ukraine durch westliche Lieferung verstärkter „Feuerkraft“ zu perpetuieren (FAZ vom 14. Juli 2022). Die Unterzeichner können erfolgreiche Laufbahnen in den deutschen Bundeswehrakademien vorweisen oder haben ihren universitären Standort in Potsdam, dort, wo das Einsatzführungskommando die kriegerischen Interventionen deutscher Soldaten im Ausland koordiniert. In Potsdam besteht für eine diplomatische Lösung „kein Spielraum“.

Formierung

Wenn es für Verhandlungen „keinen Spielraum“ gibt, welche Ziele verfolgt Berlin? Galten sie anfangs einem Waffenstillstand, so wird an der Spitze des parlamentarischen Verteidigungsausschusses ein Siegfrieden verlangt (17. Juli 2022), also der unbegrenzte Einsatz der Waffen in einem unbekannten Zeitraum des Kriegsgeschehens, welches Konzentration aller Kräfte, Vereinheitlichung der Widersprüche, kurz: Formierung erfordert, um über den Feind auf dem Schlachtfeld zu triumphieren. Berlin radikalisiert seine Ziele.

Spannungszustand

Dass diese Ziele nicht erreicht werden können, ist der deutschen Strategie nebensächlich; Erörterungen über die  tatsächlichen Kräfteverhältnisse, die offensichtliche Fehlkalkulation und den drohenden Einsatz atomarer Tötungsmittel lenken von den eigentlichen Intentionen ab. Sie gelten der Dehnung des Zeitraums, in dem der Spannungszustand des Krieges aufrechterhalten werden kann, so dass die soziale Kontrolle legitimer Gewalt durch Sonderanordnungen der Exekutive erst eingeschränkt, dann ausgesetzt wird.

Deregulierung

Der deutsche Kanzler hat den ersten Schritt zu dieser Deregulierung mit einer unangekündigten, das Parlament überraschenden Budgetentscheidung getan, als er ein „Sondervermögen“ in Höhe von 100 Milliarden Euro für den staatlichen und privaten Militärapparat ankündigte (27. Februar 2022). Seitdem setzt er diese Deregulierung fort und radikalisiert sie, indem er nach Innen die Lähmung der gewerkschaftlichen Tarifautonomie betreibt („Konzertierte Aktion“). In deren Ergebnis sei „zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften, Wissenschaften und politischen Entscheidungsträgern“ bereits vereinbart worden, man müsse „zusammenhalten“ und sich „unterhaken“  (FAZ vom 18. Juli 2022).

Fragmentierung im Innern

Die auf Senkung der effektiven Lohnzuwächse bei gleichzeitigem Streikverzicht zielende „Aktion“ ist das ökonomische Herzstück der inneren Deregulierung. Bei Preiszusätzen von mehr als 20 Prozent für den täglichen Brotkorb führt die „Aktion“ zu einem objektiven Verfall der Existenzsicherung vor allem in jenen Bevölkerungsschichten, die in der deutschen Statistik am Rande der Armut firmieren. Was mit der Absicht begann, Russland „ruinieren zu wollen“, ruiniert die gesellschaftliche Kohäsion durch soziale Fragmentierung. Das Scheitern im Innern ist absehbar und wird in Berlin gefürchtet.

Sondersteuern

In geradezu vorbildlicher Weise verfolgt das deutsche Wirtschaftsministerium die Strategie der Spannung und ängstigt das Medienpublikum fortwährend mit der Aussicht auf Katastrophen,  sofern den Sonderanordnungen der Exekutive nicht gefolgt werde. Bestimmungen zum Umweltschutz, für die sich Bürgerinitiativen jahrzehntelang einsetzten, verfallen dem höheren Interesse angeblicher Sicherheitsbelange. Natur- und Landschaftsreservate werden der Großindustrie geöffnet, kleinere Wasserkraftanlagen sind von Stilllegung bedroht (zum Nutzen großer Energieanbieter). Die Strategie der Spannung versucht einen Zustand zu erreichen, in dem selbst Atomanlagen, die in Deutschland blockiert waren, freigeschaltet werden können, um den angeblichen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft zu verhindern. Diese Atmosphäre einer durch den Krieg ausgelösten, vermeintlich unüberschaubaren Notlage ermöglicht es, kriselnde Privatunternehmen mit Milliardenbeträgen zu stützen und der deutschen Bevölkerung Sondersteuern aufzuerlegen, weil „Russland“ sanktioniert werden müsse.

Kriegsökonomie

Die internationale Währungsspekulation bildet das Scheitern dieser Politik bereits ab. Spekulanten am Geldmarkt kaufen die Ankerwährung der globalen Kriegsökonomie des Westens, während der Euro in der Wertrelation sinkt. Dies führt zu höheren Preisen beim deutschen Warenimport. Die Wertdifferenz wird an die Verbraucher weitergegeben, verstärkt die Inflation und lässt den täglichen Brotkorb noch karger aussehen. Die Bereitschaft, den Spannungszustand weiter mitzutragen, nimmt nicht nur bei den Bedürftigen ab.

Drohungen

Möglichst abgewendet werden soll das faktische Scheitern mit einer nationalistischen Aufblähung Deutschlands in Europa und in der Welt. Ist der Untergrund dieser Hypertrophie der wirtschaftliche Wachstumszwang im globalen Konkurrenzkampf um die letzten Ressourcen, so ist der schöne Schein „Deutschlands Verantwortung für Europa und in der Welt“ (Bundeskanzler Scholz am 18. Juli 2022). Deutschland müsse „führen“, „als Land der Mitte in Europa“, nämlich „Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenführen“, heißt es in Anspielung auf die verhängnisvolle Mitteleuropa-Ideologie, eine Verbrämung des deutschen Machtwillens zwecks ökonomischer  Beherrschung des Kontinents. Der deutsche Kanzler befindet sich bereits in der sprachlichen Nachfolge deutscher Apologeten zweier Weltkriege, die im Auswärtigen Amt nach „Mitteleuropa“strebten, womit sie die Unterordnung des nicht-deutschen Auslands meinten. Die deutsche „Führung“ werde „Schluss“ machen „mit den egoistischen Blockaden europäischer Beschlüsse einzelner Mitgliedsstaaten“, heißt es heute ähnlich bei Scholz. Man geht nicht fehl, diese Ankündigung als eine Drohung zu verstehen, die an die übrigen EU-Mitglieder gerichtet ist: Aus einer Position angemaßter Größe und Souveränität, die Berlin in Anspruch nimmt, andere zur Aufgabe ihrer eigenen Souveränität veranlassen und sie für den wirtschaftlichen Nutzen der deutschen Zentralmacht verstärkt in Gebrauch nehmen – gegen Beteiligung.

Fragmentierung Europas

Die Beteiligung am stetigen Wuchs der deutschen Zentralmacht war in der EU bereits in der Vergangenheit  umstritten. Der dafür ausgehandelte Preis führte zu ständigen Auseinandersetzungen mit den Gefolgschaftsstaaten, und dieser Preis wird höher, seitdem der deutsche Kanzler gefordert hat, „in einer Welt konkurrierender Großmächte“ müsse „die EU … ein geopolitischer Akteur werden“; „nationale Vetos, etwa in der Außenpolitik“ könne sich die EU „nicht mehr leisten“ (18. Juli 2022). Im Spannungszustand eines Krieges, der „Russland ruinieren“ soll, geht Scholz über „Mitteleuropa“ hinaus, nimmt die Welt in den Blick und verlangt die Formierung der europäischen Staaten, um sie unter deutscher Ägide den sogenannten Großmächten anzuschließen, wahlweise ihnen den Weg zu verlegen. Diese globale Auffaltung der Berliner Zentralmacht, die zum „geopolitischen Akteur“ der EU werden will, würde Paris, Rom, Madrid, Warschau oder Budapest zu Satelliten werden lassen. Die Berliner Forderungen sind wirklichkeitsfremd. Sie fragmentieren Europa, sie einigen nicht.

Krieg gegen China

Den Interessen der Ankerwährung des globalen Westens steht das deutsche Scheitern, das im Innern wie Außen absehbar ist, nicht entgegen. Im Gegenteil. Der Dollar floriert und lässt Europa alt aussehen, solange der Spannungszustand des Krieges anhält. Viel Zeit soll vergehen, Russland ruiniert, Deutschland geschwächt, die EU fragmentiert und der Krieg gegen China Wirklichkeit werden.

Hans-Rüdiger Minow ist Publizist und Dokumentarfilmer mit den Schwerpunkten Verbrechen des deutschen Faschismus und neues deutsches Großmachtstreben.
Homepage: http://www.minow-film.com/publizistik/


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