Frieden - Antifaschismus - Solidarität

Der Krieg in der Ukraine und wir

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 1-22, April 2022, S. 22-40, 81. Jahrgang

von Klaus Hartmann

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Von Anbeginn ist die Freidenkerbewegung für ihre entschiedene Kriegsgegnerschaft bekannt, und wir sind stolz auf die Frie­densnobelpreisträgerin aus unseren Reihen, Bertha von Suttner, mit dem Vermächtnis „Die Waffen nieder!“, Titel ihres 1889 er­schienenen Romans. Die Ablehnung des im­perialistischen Krieges kennzeichnet die Akti­vitäten der Freidenker während des 1. Welt­kriegs, in der Novemberrevolution und der Weimarer Republik, im Kampf gegen die Ge­fahr des Hitler-Faschismus und im antifa­schistischen Widerstand. Nach der Befreiung vom Faschismus und bis heute ist für uns die Losung „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ Verpflichtung und Richtschnur unserer Aktivitäten.

Diese Losungen und Handlungsmaximen waren und sind für uns nie abstrakte mo­ralische Postulate, die über der konkreten geschichtlichen Realität schweben, sondern sie müssen und können nur in der jeweils gegeben gesellschaftlichen Wirklichkeit, im Klassenkampf, wirksam werden.

Wir wären niemals auf die Idee gekommen, „Die Waffen nieder!“ den Verteidigern von Leningrad oder den Sowjetsoldaten in der Schlacht um Stalingrad zuzurufen, weil dies nichts weniger als eine Sabotage des anti­faschistischen Befreiungskampfes bedeutet hätte. Gleichermaßen waren wir solidarisch mit dem Vietcong im Kampf gegen die US-Invasoren, mit den Kämpfern gegen die NATO-Aggression gegen Jugoslawien, dem palästinensischen und dem irakischen Wi­derstand und mit den Verteidigern des freien Syriens.

Wann begann dieser Krieg?

Die Antwort klingt aus den „Qualtitätsme­dien“, den Reden von Politikern und selbst von Stimmen aus der Friedensbewegung so übereinstimmend, dass die Frage zu stellen allein schon vielen befremdlich vorkommt. „Der von Russland am 24.2.2022 begonnene völkerrechtwidrige Krieg gegen die Ukraine weitet sich aus.“[1] Das scheint Konsens und wird selten hinterfragt. Aber so einfach die Antwort klingt – es ist die Unwahrheit.

Warum in aller Welt spricht der Frei­denkerverband seit Jahren über den Krieg in der Ukraine, protestiert gegen ihn, unterstützt die Solidarität mit der betroffenen Bevöl­kerung? Der neugewählte Vorsitzende Sebas­tian Bahlo sprach im Juni 2021 im Interview über die „die gesteigerte Aggressivität der Imperialisten (…), die dem Schwinden ihrer Einflusssphären nicht kampflos zusehen wol­len. NATO-Osterweiterung, Krieg in der Ukraine, Sanktionen gegen Russland und Weißrussland, Provokationen im Südchinesi­schen Meer zeigen die Richtung an.“

In seinem Rechenschaftsbericht an den Verbandstag sagte Sebastian: „Wie wir heute klar sehen können, hatte die NATO nie einen anderen Daseinszweck als den Krieg gegen Rußland vorzubereiten. Als der vorgebliche Feind in Gestalt der Kommunisten abgetreten war, ging es für die NATO erst richtig los. Angriffskrieg gegen Jugoslawien, Osterwei­terung. Die Länder an der sowjetischen Westgrenze, die in der Operation Barbarossa mit Deutschland verbündet waren, sind heute (mit der wichtigen Ausnahme Finnlands) NATO-Mitglieder. Die Grenze zwischen dem NATO-Mitglied Polen und Weißrußland entspricht fast exakt der Demarkationslinie, welche die deutsche Heeresgruppe Mitte vor achtzig Jahren bei ihrer Invasion übertrat. In der Ukraine ist der Krieg schon heiß.

Schuld sind weder Rußland noch so ge­nannte ‚prorussische Separatisten‘. Das Aus­einanderbrechen der Ukraine wurde ohne Not durch den Kiewer Staatsstreich vom Februar 2014 in Kauf genommen, instruiert, finan­ziert, politisch-diplomatisch unterstützt von den NATO-Ländern. Das Donezkbecken wird mit NATO-Waffen angegriffen, diese Woche provozierte ein britisches Kriegsschiff im Schwarzen Meer.“[2]

Bei einer Veranstaltung der Türkischen Kommunistischen Partei sagte ich am 09.05.2015 in Berlin: „70 Jahre nach der Befreiung erleben wir, wie der Imperialismus wieder ein faschistisch durchsetztes Regime, diesmal in Kiew, an die Macht bringt und sich mit ihm militärisch verbündet. ‚Krieg gegen das eigene Volk‘, in anderen Ländern ein Kriegsgrund für den Imperialismus, wird ge­gen die Bevölkerung des Donbass akzeptiert, mit Waffenlieferungen, Militärausbildern und Söldnern unterstützt. Ob brennende Gewerk­schaftshäuser oder Menschenjagden, politi­sche Morde in Serie und die Verfolgung kom­munistischer und antifaschistischer Organisa­tionen – alles scheint den verbündeten Fa­schisten in Kiew durch die ‚westliche Werte­gemeinschaft‘ erlaubt.“

2015, vor sieben Jahren, beschloss der Vor­stand des Freidenkerverbandes eine Reso­lution zum Tag des Sieges: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! Dies bedeutet 2015 vor allem:

  • Schluss mit den Sanktionen, Verstän­digung statt Konfrontation mit Russland!
  • Keine Unterstützung, Steuergelder und Waffen für die profaschistischen Macht­haber in Kiew!
  • Solidarität mit den Antifaschistinnen und Antifaschisten in der Ukraine!“

Bei unserer Konferenz „1914/2014 – Der ‚Westen‘ und Russland“ im September 2014 in Berlin zitierte ich den Altkanzler Helmut Schmidt: Der „Versuch der EU-Kommission, die Ukraine anzugliedern (ist) Größenwahn, wir haben dort nichts zu suchen. (…) Aber die Gefahr, dass sich die Situation verschärft wie im August 1914, wächst von Tag zu Tag.“[3]

Im Kontrast dazu den damaligen US-Präsidenten Barack Obama: „Wir werden Russlands Besetzung und Annexion der Krim oder anderer Teile der Ukraine niemals akzeptieren.“[4]

Am 06. April 2014 haben wir in hoher Auflage ein Flugblatt (Bild n.Seite) mit dem Titel „Der Aggressor heißt NATO“ verteilt, das mit den Worten beginnt:

„Seit dem Staatsstreich in der Ukraine vom 22. Februar 2014 und insbesondere im Zuge der Entwicklungen auf der Schwarzmeerhalb­insel Krim hat in den USA, den NATO- und EU-Ländern eine politisch-mediale Kampag­ne Fahrt aufgenommen, die Russland und insbesondere den russischen Präsidenten Wladimir Putin hysterisch der rücksichtslosen Großmachtpolitik und des völkerrechtswid­rigen ‚Landraubs‘ bezichtigt. Seitens der füh­renden NATO-Regierungen wird die Einglie­derung der Krim in die Russische Föderation als ‚völkerrechtswidrige Annexion‘ gebrand­markt.

Mit dieser Kampagne soll der tatsächliche Charakter der Krise um die Ukraine als eines anti-russischen Manövers verschleiert und weitere feindliche Akte gegenüber der Rus­sischen Föderation psychologisch vorbereitet werden.“

Da die aktuellen Vorwürfe den von vor acht Jahren entsprechen, zitiere ich etwas aus­führlicher aus unserer Erklärung. Zur behaup­teten Völkerrechtswidrigkeit schrieben wir:

„Souveränität der Ukraine durch NATO-inspirierten Putsch verletzt

Die Argumente, mit denen Russland Völker­rechtsbruch nachgewiesen werden soll, gehen abstrakt von der Prämisse aus, dass Russland aus heiterem Himmel ein Stück eines souveränen Staats abgetrennt hätte. Was dagegen wirklich in der Ukraine geschehen war: durch einen gewalttätigen Putsch wurde die rechtmäßig gebildete und international anerkannte Regierung in Kiew gestürzt. NATO-treue Kräfte unterstützten diesen Gewaltakt über verschiedene Kanäle.

Der so genannte ‚Übergangs-Regierungs­chef‘ Arsenij Jazenjuk ist ein notorischer NATO-Kollaborateur.

Dies stellte eine verdeckte NATO-Aggres­sion gegen die Ukraine dar. Sofort zeigte sich, dass die Putschregierung über große Teile des Landes keine Kontrolle hat. Trotzdem wurde sie im Eilverfahren von den USA, den NATO- und EU-Staaten als legitime Vertre­tung der Ukraine anerkannt. Die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine wurde durch die NATO-Regierungen verletzt.

Denn es waren die USA, die NATO und die EU, die dadurch faktisch einen Teil der Ukraine unter ihren Einfluss brachten, unter Bruch des Völkerrechts und der ukrainischen Verfassung. Die sogenannte ‚Übergangsregie­rung‘ in Kiew wurde von niemandem ge­wählt, sondern mit ungesetzlichen gewalt­tätigen Mitteln an die Stelle der alten Staats­führung gesetzt. Schon schließt die EU mit den Putschisten den ersten Teil eines Asso­ziierungsabkommens, einen völkerrechtli­chen Vertrag, der sogar die ‚Integration‘ der Ukraine in die militärischen EU-Strukturen beinhaltet.

Und das, obwohl andere Landesteile noch von den bisherigen legitimen Staatsorganen kontrolliert werden. Dies ist nichts anderes als eine faktische Abtrennung der Westukraine durch die genannten westlichen Länder. Sie sind es, die in Wahrheit ‚Fakten schaffen‘, ein Vorwurf, den sie unentwegt an Russland richten.

Unter diesen Umständen kann man bei der Eingliederung der Krim in die Russische Föderation nicht von einer Annexion sprechen. Sie stellt den freiwilligen Beitritt des verbliebenen souveränen Teils der Ukraine zu Russland dar. Denn die Krim war der einzige Landesteil, in dem nach dem Putsch noch unumschränkt die verfassungsmäßige Ord­nung herrschte. Da sowohl die Bevölkerung der Krim als auch die strategischen Interessen Russlands im schwarzen Meer durch die Kiewer Ereignisse bedroht wurden, war schnelles Handeln geboten.“

In den Jahren seit 2014 sind im Freidenker und auf unserer Webseite ungezählte Beiträge zum Krieg in der Ukraine erschienen, wir haben Petionen gegen die antirussischen Sanktionen unterstützt, Interviews gegeben, einen Offenen Brief an Kanzlerin Merkel geschrieben, veranstalteten Konferenzen zum Thema und waren an vielen Anti­kriegsprotesten beteiligt.

Da wir uns nicht gegen eine Fata Morgana engagiert, nicht ein Phantom bekämpft ha­ben, bleibt nur ein realistischer Schluss: Der Krieg in der Ukraine dauert seit 2014 an!

Daraus folgen freilich weitere Fragen: Wa­rum steht der Krieg erst seit Februar 2022 im Mittelpunkt aller Medien-Berichte und Politi­ker-Erklärungen? Gab es in dem schon acht Jahre dauernden Krieg keine Opfer? Als Randbemerkung, meist im letzten Satz, konn­te man in den vergangenen Jahren immer wie­der lesen: „UN-Schätzungen zufolge kamen in dem Konflikt bereits mehr als 13.000 Menschen ums Leben.“ (ard-tagesschau, 27.10.2021)[5]

Doch in die Schlagzeilen oder gar Sonder­sendungen brachten es diese Toten nie. Waren es die „falschen Opfer“? Weil sie es mit dem „Feind“ hielten, statt mit „uns“, der NATO, dem „Wertewesten“? Das wäre, das ist eine heuchlerische Doppelmoral und das Gegenteil von Humanität.

Wie steht es um das Völkerrecht?

Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta verbietet den Ge­brauch und die Androhung militärischer Gewalt: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“

Die Ausnahme von der Regel steht in Artikel 51: „Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sichereitsrat die zur Wahrung des Weltfrie­dens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie be­rühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Welt­friedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“

Man kann das auch so zusammenfassen: „Es gibt eben nach dem Völkerrecht keine guten und bösen Kriege, sondern nur verbotene Angriffs- und erlaubte Verteidigungskriege.“ „Es gibt eben generell ein Selbstverteidi­gungsrecht überfallener Länder.“ Das sind die Worte von – Gregor Gysi![6] Allerdings stehen sie in seinem Brief, in dem er die Kritik einiger linkerer Linken an der Erklärung der Partei- und Fraktionsspitze zu ihrem Abstimmungs­verhalten im Bundestag zu Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert.

Aber die Parteistreitereien beiseite, ist genau dies der Punkt, um den es geht: Ver­stößt das Eingreifen Russlands in den Krieg gegen das Gewaltverbot und gegen die Sou­veränität der Ukraine, oder handelt es sich um die Wahrnehmung des auch den Volksre­publiken Donezk und Lugansk zustehenden Selbstverteidigungsrechts?

Präsident Putins Begründung

„Wir sehen, dass die Kräfte, die 2014 den Staatsstreich in der Ukraine inszeniert haben, die Macht ergriffen haben, sie mit der Hilfe dekorativer Wahlverfahren behalten und den Weg einer friedlichen Konfliktlösung ver­lassen haben. Acht Jahre lang, acht endlose Jahre lang haben wir alles Mögliche getan, um die Situation mit friedlichen politischen Mitteln zu regeln. Alles war vergeblich.

Wie ich bereits in meiner letzten Rede sagte, kann man nicht ohne Mitgefühl auf das schauen, was dort geschieht. Es ist un­möglich geworden, es zu tolerieren. Wir müssen diese Gräueltaten, diesen Völker­mord an Millionen von Menschen, die dort leben und die ihre Hoffnungen auf Russland, auf uns alle gesetzt haben, beenden. Ihre Hoffnungen, die Gefühle und der Schmerz dieser Menschen waren die Hauptmoti­vation für unsere Entscheidung, die Unab­hängigkeit der Volksrepubliken in Donbass anzuerkennen.

Ich möchte zusätzlich Folgendes betonen. Die führenden Nato-Länder unterstützen zum Erreichen ihrer eigenen Ziele extreme Nationalisten und Neonazis in der Ukraine, die ihrerseits den Bewohnern der Krim und Sewastopols ihre freie Entscheidung für die Wiedervereinigung mit Russland nie ver­zeihen werden.

Sie werden zweifellos versuchen, auf der Krim einen Krieg zu provozieren, wie sie es im Donbass getan haben, um unschuldige Menschen zu töten, wie es die Mitglieder der Strafeinheiten der ukrainischen Nationa­listen, Hitlers Komplizen im Großen Vater­ländischen Krieg, getan haben. Sie erheben auch unverhohlen Anspruch auf eine ganze Reihe anderer russischer Gebiete.

Betrachtet man die Abfolge der Ereignisse und die eingehenden Berichte, so ist der Showdown zwischen Russland und diesen Kräften nicht zu vermeiden. Es ist nur eine Frage der Zeit. Sie bereiten sich vor und warten auf den richtigen Moment. Sie sind sogar so weit gegangen, dass sie den Erwerb von Atomwaffen anstreben. Das werden wir nicht zulassen. (…)

Man hat uns einfach keine andere Möglichkeit gelassen, Russland und unser Volk zu verteidigen, als die, zu der wir heute greifen müssen. Die Umstände verlangen von uns entschlossenes und sofortiges Handeln. Die Volksrepubliken des Donbass haben Russland um Hilfe gebeten.

In diesem Zusammenhang habe ich, gemäß Kapitel 7 Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen, mit der Zustimmung des russischen Föderationsrates und in Umsetzung der von der Föderalen Versammlung am 22. Februar dieses Jahres ratifizierten Verträge über Freundschaft und gegenseitigen Beistand mit der Volksrepublik Donezk und der Volks­republik Lugansk, die Entscheidung getrof­fen, eine Sonder-Militäroperation durchzu­führen.

Ihr Ziel ist der Schutz der Menschen, die seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt sind. Und zu diesem Zweck wer­den wir uns um die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine bemühen und diejenigen vor Gericht stellen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölke­rung, einschließlich der Bürger der Russi­schen Föderation, begangen haben.“[7]

Völkerrechtswidrig – ja oder nein?

Die entscheidende Frage zur Beurteilung lautet: Kommt den Volksrepubliken Donezk und Lugansk das Recht auf Eigenständigkeit zu, wie es die Russische Föderation am 22.02.2022 anerkannt hat, oder sind sie wei­terhin als Teile der Ukraine anzusehen?

Dazu müssen wir ins Jahr 2014 zurück­blicken, auf den sogenannten „Euro-Mai­dan“. Am 21.02.2014 hatten Präsident Janu­kowitsch und Vertreter der Opposition die Übereinkunft für eine friedliche Lösung der Krise unterzeichnet (u. a. mit vorgezogenen Wahlen im Dezember 2014). Bundesaußen­minister Steinmeier sowie seine polnischen und französischen Kollegen Radoslaw Sikor­ski und Laurent Fabius garantierten die Ein­haltung des Kompromisspapiers. Januko­witsch hielt sich an die Vereinbarung, die Polizei wurde von den Straßen abgezogen.

Tags zuvor hatten Scharfschützen auf den Maidan gefeuert, eine Kommission unter Lei­tung eines Staatsanwalts der nationalistischen Swoboda-Partei schanzte alle Schuld an dem Massaker den Berkut-Polizeieinheiten der Re­gierung zu. Das wurde in den Westmedien begierig nacherzählt. Jedoch befand sich das Konservatorium, von dessen Dach gefeuert wurde, an jenem Tag unter Kontrolle von Maidan-Einheiten, deren Einsatz die Nazi-Parteigründers Andrij Parubij und Dmytro Jarosch, Chef der Einheit „Rechter Sektor“, kontrollierten. Von den ca. 80 Erschossenen waren auch 20 Berkut-Polizisten.[8]

„Die Demonstranten auf dem Maidan aber lehnen das Abkommen ab“ und „Januko­witsch flieht in der Nacht in die Ostukraine“, geht die Erzählung weiter.[9]

Steinmeier wollte von dem tags zuvor ausgehandelten Abkommen nichts mehr wissen und rechtfertigte den Putsch damit, dass der damalige Präsident Wiktor Januko­witsch „geflohen” und daher ein Staatsnot­stand ausgebrochen wäre. Tatsächlich hatte Janukowitsch Kiew verlassen, um bei einem Parteitag seiner „Partei der Regionen” im ost-ukrainischen Charkow zu sprechen. Am 22.02.14 stürmte der „Rechte Sektor” Regie­rungsviertel und Parlament. Parlamentarier wurden verprügelt und unter Druck gesetzt, um Präsident Janukowitsch abzuwählen – was in der ukrainischen Verfassung nicht vorgesehen ist.

Dem Maidan-Putsch unter dominierender Mitwirkung der extremen Rechten folgte die Einsetzung einer nicht verfassungsmäßigen Regierung, die Rehabilitierung faschistischer Verbrecher und eine Zwangsukrainisierung auf sprachlicher Ebene. Sie hoben das Gesetz auf, das den Status der russischen Sprache im Osten und Süden des Landes garantierte.[10] Russisch verlor seinen Status als Amtssprache und durfte fortan weder in der Verwaltung noch im Bildungswesen verwendet werden. Kinder mussten nun in Ukrainisch unter­richtet werden, auch wenn deren Eltern diese Sprache nicht beherrschten.

Volksaufstand gegen „Euro-Maidan“ – Putschisten reagieren mit Gewalt

Der entfesselte extreme Nationalismus und die Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung führten zu einer gerechten Empörung im Osten der Ukraine. Es kam am 1.und 2. März 2014 in den östlichen Landes­teilen zu Protesten und zum Volksaufstand, der über die Besetzung lokaler und regionaler Regierungsgebäude schließlich zur Proklama­tion der Unabhängigkeit von den Kiewer Zentralbehörden führte. Das illegale, durch Staatsstreich an die Macht gelangte Kiewer Regime sollte keine Regierungsgewalt über den Donbass erlangen.

Gegen die zunehmende rassistische Hetze des Maidan-Regimes gegen alles Russische setzten die so Bedrohten eine authentische antifaschistische Volksrevolution. Am 7.April 2014 wurden in Donezk und am 27. April 2014 in Lugansk Volksrepubliken ausgerufen.

Kiew suchte nicht nach einer politischen Lösung für die legitime Unzufriedenheit eines Teils seiner Bevölkerung im Osten, sondern rief eine „Anti-Terror-Operation“ aus und wollte die militärische Entscheidung, womit im April 2014 der Bürgerkrieg begann. Gegen die Volksmilizen der „Separatisten“ wurden insbesondere Neonazi-Bataillone an die Front geschickt, die ungestraft Übergriffe begingen. Darüber wurde, längst vergessen, sogar „bei uns“ berichtet: „Schmutziger Kampf in der Ukraine: Neonazis im Dienst der Regie­rung“.[11]

In Odessa haben Nationalisten am 2. Mai 2014 im Gewerkschaftshaus 48 Gegner des Putsches bei lebendigem Leib verbrannt, nie­mand wurde bestraft.

Die gegen das Putsch-Regime aufstän­dischen ostukrainischen Bürger wurden von der Kiewer Propaganda fortan „prorussische Separatisten“ genannt, und die Westmedien folgten breitwillig. Damit soll aus dem Bewusstsein verdrängt werden, dass hier über 4 Millionen Menschen leben. Mit dieser perfiden Methode wird die Bevölkerung entmenschlicht, ihre Opfer zählen nicht, sie sind sozusagen „selbst schuld“.

Was wurde aus den „Minsker Vereinbarungen“?

Um die Gewalt zu beenden, wurde am 5. September 2014 in Minsk das Minsker Proto­koll (Minsk-I), unterzeichnet, das einen Waffenstillstand vorsah, Kiew setzte jedoch seine Angriffe auf den Donbass fort, erlitt aber im Januar/Februar 2015 eine schwere Nie­derlage in der Schlacht um Debalzewo.

Es folgte das Abkommen Minsk II, beteiligt wiederum Deutschland, Frankreich, Russ­land und die Ukraine, die Donbass -Re­publiken unterschrieben über eine Kontakt­gruppe ebenfalls. Ergebnisse: Sofortiger Waf­fenstillstand, Abzug aller schweren Waffen, OSZE-Überwachung, und sofort soll ein Dia­log über die Modalitäten der Durchführung regionaler Wahlen, … ebenso über den künftigen Status dieser Gebiete“ stattfinden.[12]

Das Abkommen sollte dem Bürgerkrieg ein Ende setzen und die Einheit des Landes bewahren, scheiterte aber an der Weigerung der ukrainischen Führung, zentrale Punkte des Abkommens umzusetzen, insbesondere, die Gesetze und Verfassungsänderungen, die diesen Republiken einen autonomen Status im Rahmen der Ukraine sichert, in direkten Verhandlungen zwischen der Zentralregie­rung und den Vertretern der Donbass-Re­publiken zu vereinbaren.

Russland beantragte am 13. Februar 2015 im UN-Sicherheitsrat eine Resolution, mit der die Minsk II-Vereinbarungen unterstützt und ihre Umsetzung gefordert wird. Der Entwurf wurde am 17. Februar 2015 einstimmig als Resolution 2202 (2015) verabschiedet. Damit ist Minsk II geltendes Internationales Recht!

Von West-Politikern und Medien wurde das Abkommen jedoch sofort als „Sieg Pu­tins“ kritisiert, da Russland nicht als Konflikt­partei gebrandmarkt, sondern als Garantie­macht des Abkommens ebenso wie Frank­reich und Deutschland anerkannt wurde.[13] In der Folge, sieben Jahre lang, tat der Westen nichts, um seinen „Schützling“ Ukraine zur Erfüllung des Abkommens anzuhalten.

Im Gegenteil und im Widerspruch zu Minsk II erklärte der Sonderbeauftragte des US-Außenministeriums für die Ukraine, Kurt Volker am 23.01.2018, „dass die von Russ­land geschaffenen DNR- und LNR-Forma­tionen im Donbass aufgelöst werden sollten, da sie nicht mit der Verfassung der Ukraine vereinbar seien.“[14]

Selbst der Waffenstillstand und die Trup­penentflechtung entlang der „Kontaktlinie“ waren nur begrenzt haltbar, allein 2017 regi­strierte die OSZE über 400.000 Verstöße.[15] Im Verlauf von acht Jahren kamen bis jetzt über 14.000 Menschen im Dobass ums Leben.

Das letzte Außenminister-Treffen im „Nor­mandie-Format“ (Deutschland, Frankreich, Russland, Ukraine), hat am 19.12.2019 statt­gefunden, doch wenige Tage danach relati­vierte Präsident Selensky wieder die getrof­fenen Vereinbarungen zur Umsetzung von Minsk II.[16]

Am 24.03.2021 erließ er das Dekret Nr. 117 zur Umsetzung der Entscheidung des Natio­nalen Sicherheits- und Verteidigungsrates vom 11.03.2021, „die vorübergehende Beset­zung“ der Krim und des Donbass zu been­den.[17] Auch diese definitive Absage an Minsk II stieß bei den westlichen Garantiemächten auf kein Wort der Kritik.

Stattdessen gingen Paris und Berlin dazu über, das Abkommen eigenhändig zu beerdi­gen: Im Oktober 2021 schlugen sie ein Treffen vor, doch als die russische Seite (29.10.22) ei­ne gute Vorbereitung und substanzielle Ver­einbarungen verlangte, lehnten sie ab (04. 11.22), weil Russland einen direkten Dialog zwischen Kiew und dem Donbass forderte.

„Das allerdings ist einer der zentralen Punkte des Minsker Abkommens. Wenn Berlin und Paris das nun als unannehmbar bezeichnen, dann beerdigen sie de facto das Minsker Abkommen.“[18] Am 15.11.22 trafen sich die Außenminister der Ukraine, Deutsch­lands und Frankreichs, um Russland öffent­lich vorzuwerfen, es habe sich „zum wieder­holten Male“ einem Ministertreffen im Nor­mandie-Format verweigert.“ Mit seiner Er­widerung veröffentlichte Außenminister Lawrow entgegen dilpomatischer Gepflogen­heiten den kompletten Briefwechsel:

„Ich bin sicher, dass Sie die Notwendigkeit dieses unkonventionellen Schrittes verstehen, denn es geht darum, der Weltgemeinschaft die Wahrheit darüber zu vermitteln, wer die völkerrechtlichen Verpflichtungen wie erfüllt, die auf höchster Ebene vereinbart wurden.“

Vor einer Offensive gegen den Donbass

Seit dem 12. Februar 2022 gab es eine extreme Zunahme an Explosionen besonders im Gebiet von Donezk und Lugansk. Der Schweizer General a.D. Jacques Baud: „Das ist nur bekannt, weil alles von der OSZE-Mission im Donbas protokolliert wurde. Es handelte sich sicher um den Anfang einer Offensive gegen den Donbas. Dieses Vor­gehen des ukrainischen Militärs hat im Grunde genommen alles ausgelöst. Zu diesem Zeitpunkt war für Putin klar, dass die Ukraine eine Offensive gegen die beiden Republiken durchführen will.“[19] (Wir veröffentlichen das Interview mit Jacques Baud leicht gekürzt am Ende dieses Beitrags.)

Arnold Schölzel: „Am 17. Februar begann die ukrainische Artillerie, die seit acht Jahren Wohngebiete im Donbass beschießt, die Kanonade auf erheblich entferntere Viertel auszudehnen. Diese Ausweitung war ohne USA und NATO in der Tat undenkbar.“[20]

Am 15.02.2022 hat die russische Duma einen Antrag der Kommunistischen Partei Russlands zur Anerkennung der Volksrepu­bliken DVR und LVR mit 351 gegen 16 Stimmen angenommen. Der Alternativantrag der Mehrheitspartei Einiges Russland, die Aufforderung zunächst durch die Regierung prüfen zu lasse, wurde abgelehnt. Die Begrün­dung lautete, dass sich die Ukraine nicht an die Minsker Vereinbarungen halte. Mit der Anerkennung soll der Schutz der Einwohner der Republiken vor äußeren Bedrohungen gewährleistet werden.[21]

Die KPFR erklärte: „Die eigentliche Ur­sache der Krise ist, dass die amerikanischen Marionettenspieler der Kiewer Führung und der Bandera-Banden beharrlich versuchen, ein Schlachthaus im Donbass zu organisieren. Zur Verfolgung ihrer geopolitischen Ziele sind sie erneut bereit, Blutvergießen zu insze­nieren. Praktisch alle kampffähigen Einheiten der ukrainischen Streitkräfte sind an der Gren­ze zur DVR und LVR stationiert: 125.000 Soldaten und Offiziere. Schwere Artillerie und Panzer werden dorthin verlegt. Es wird ständig Luftaufklärung betrieben. Alles deutet darauf hin, dass eine offensive Operation gegen die Volksrepubliken Donezk und Lugansk vorbereitet wird. Die Anerkennung der DVR und der LVR muss die entschlossene Antwort Russlands auf die Provokationen der USA sein.“[22]

Die DVR und die LVR, die aufgrund der Referenden 2014 ihre Unabhängigkeit erklärt hatten, waren sieben Jahre lang bereit, als Re­gionen mit Sonderstatus Teil der Ukraine zu sein, wie es in den Minsker Vereinbarungen festgeschrieben ist. Nach der Kiewer Abkehr von Minsk II baten am 21. Februar 2022 die Oberhäupter der Volksrepubliken Donezk und Lugansk, Denis Puschylin und Leonid Pasetschnik, den russischen Präsidenten Wladimir Putin um die Anerkennung der Unabhängigkeit der beiden Republiken.[23]

  • Die Sezession der Donbass-Republiken ist kein Verstoß gegen das Völkerrecht, denn dies ist eine innerstaatliche Ange­legenheit, zu der das Internationale Recht naturgemäß nichts sagt.
  • Sie verstößt wahrscheinlich gegen die ukrainische Verfassung, doch diese wurde von den Putschisten suspendiert.
  • Die russiche Anerkennung verstößt auch nicht gegen das Völkerrecht, und an die ukrainische Verfassung ist Russland nicht gebunden.
  • Nach den anschließend angenommenen Verträgen über Beistand und Freund­schaft zwischen Russland und den Donbass-Republiken waren die Bedin­gungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Selbstverteidigung gem. UN-Charta gegeben.
„Westliche Wertegemeinschaft“ fest an der Seite der Putschisten

„Kurz nach dem Putsch von 2014, im Jahr 2015, errichteten die Putschisten das so ge­nannte International Peacekeeping and Secu­rity Center, eine von den USA betriebene Militärbasis im Westen der Ukraine, nahe der polnischen Grenze, die laut New York Times vom 14. März 2022‚ seit 2015 eine Dreh­scheibe für westliche Militärs zur Ausbildung ukrainischer Streitkräfte‘ war.

Die Times fügte hinzu: ‚Truppen aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kana­da, Polen, Schweden und Dänemark haben dort unter anderem 35.000 Ukrainer im Rah­men eines Projekts namens ‚Operation Uni­fier‘ ausgebildet.‘ Das ist die ‚Operation‘, die darauf abzielte, die Westukraine mit der rus­sischsprachigen Bevölkerung im Osten und Süden, die den faschistischen Putsch ablehn­te, gewaltsam zu ‚vereinen‘. Zu den von den USA bezahlten Truppen gehörten die moder­nen Nachfahren der privatisierten Black­water-Truppen von Erik Prince, die während des Regimewechsel-Kriegs … im Irak Zivilisten abschlachteten und 1,5 Millionen Iraker töteten.“[24]

Am 24.04.2014 antwortete die Bundesre­gierung auf eine Kleine Anfrage der LINKEN Abgeordneten Dr. Alexander Neu et al. betr. „Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der NATO bis Mitte März 2014“:

„… Die Ukraine hat bisher an fast allen NATO-geführten Operationen teilgenommen und stellt regelmäßig Kräfte für die schnelle Eingreiftruppe (NATO Response Force). Um die hierfür notwendige Interoperabilität der Streitkräfte zu gewährleisten, ist die Ukraine eng in das Übungsprogramm der NATO eingebunden und nimmt an Standardisie­rungsmaßnahmen teil. Ferner nimmt die Ukraine als Partner der NATO an Formaten wie z. B. dem Euro-Atlantischen Partner­schaftsrat teil und kann auf eine Vielzahl von Kooperationsangeboten zugreifen, die allen Partnerstaaten der NATO offenstehen. […]“[25]

Dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk wurden am 27. Februar 2022 im Bundestag stehende Ovationen entgegenge­bracht – obwohl oder weil der Nazi-Verehrer am Grab des ukrainischen Faschisten Ban­dera in München Blumen niedergelegt hatte, ist unklar.

Die Bundesregierung „versprach“ Waffen­lieferungen an die Ukraine und will ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung auflegen. So ein „Sonder­vermögen“ hieß früher schlicht und ergreifend Kriegskredite. Damit hat die Sozialdemo­kratie seit 1914 einschlägige Erfahrungen.

Voller Zufriedenheit berichtete Nato-Gene­ralsekretär Jens Stoltenberg am 17.03.2022: „Man muss bedenken, dass seit der illegalen Annexion der Krim 2014 die Nato-Alliierten Zehntausende von ukrainischen Soldaten geschult haben, die jetzt an der Front stehen. Und wir haben sie ausgerüstet. Die ukra­inische Armee ist jetzt wesentlich stärker, viel besser ausgerüstet als 2014.“[26]

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Die Interessen des „Westens“ und das Spiel der NATO

Warum wurde die NATO gegründet?

Ihr erster Generalsekretär, Lord Ismay, gab auf diese Frage 1950 folgende Antwort:

„Die NATO wurde gegründet, um die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten.”[27]

Der Drang der NATO nach Osten

1990 klang es noch so:

Am 2. Februar 1990 nach einem Treffen mit dem damaligen US-Außenminister James Baker sagte Genscher: „Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das Nato Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt nicht nur für die DDR sondern ganz generell.“[28]

1990 bestand die NATO aus 16 Staaten:
USA, Kanada, Vereinigtes Königreich, Frankreich; Deutschland, Türkei, Italien, Spanien, Niederlande, Belgien, Griechen­land, Portugal, Dänemark, Norwegen, Luxemburg, Island;

Mit der Ausdehnung des NATO-Blocks nach Osten kamen 14 Staaten hinzu:

  • 1999: Polen, Tschechien, Ungarn;
  • 2004: Rumänien, Bulgarien, Slowakei, Litauen, Lettland, Estland, Slowenien;
  • 2009: Kroatien, Albanien;
  • 2017: Montenegro;
  • 2020: Nordmazedonien.

Im Februar 2019 beschloss das Parlament in Kiew die Ergänzung der ukrainischen Verfassung, die nun eine „strategische Orien­tierung der Ukraine zum vollständigen Beitritt zur EU und der Nato“ beinhaltet. Die „Unab­änderlichkeit unserer europäischen Entschei­dung“ unterstrich Andrej Parubi, der als Rechtsextremist auch Parlamentspräsident ist.[29]

Denn sie wissen, was sie tun:

Zbigniew Brzezinski war Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter. In seinem Buch „The Grand Chessboard” aus dem Jahr 1997 beschreibt er die geopolitische Bedeu­tung der Ukraine wie folgt:

„Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Platz auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiges Land dazu beiträgt, Russland zu verändern. Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein.

Russland kann ohne die Ukraine immer noch den Status eines Imperiums anstreben, aber es würde dann zu einem überwiegend asia­tischen imperialen Staat werden, der mit größerer Wahrscheinlichkeit in schwächende Konflikte mit erregten Zentralasiaten hinein­gezogen werden würde, die dann über den Verlust ihrer jüngsten Unabhängigkeit ver­ärgert wären und von ihren islamischen Mit­streitern im Süden unterstützt würden. Auch China würde sich angesichts seines zuneh­menden Interesses an den neuen unab­hängigen Staaten in Zentralasien wahrschein­lich gegen eine Wiederherstellung der russischen Vorherrschaft über Zentralasien wenden.

Erlangt Moskau jedoch die Kontrolle über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Ein­wohnern, ihren bedeutenden Ressourcen und ihrem Zugang zum Schwarzen Meer zurück, erhält Russland automatisch wieder die Mittel, um ein mächtiger imperialer Staat zu werden, der Europa und Asien umfasst. Der Verlust der Unabhängigkeit der Ukraine hätte unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zum geopolitischen Dreh- und Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas machen.”[30]

Wer erinnert sich nicht gern, an die Worte von Joe Biden? Allerdings sprach er sie schon vor ca. 25 Jahren, am 20.06.1997 in Dela­ware, und zwar vor dem US-Committee on Foreign Relations: „Das Einzige was Russland zu einer heftigen militärischen Reaktion zwingen würde – wäre eine Expansion der NATO an die russische Grenze.“

1999 begann die NATO mit ihrer lange vorbereiteten Aggression zur Zerstörung Ju­goslawiens, über die wir seit Jahrzehnten im „Freidenker“ immer wieder geschrieben ha­ben. Präsident Slobodan Milošević warnte wiederholt, dass dieses Muster auch gegen andere „ungehorsame“ Staaten angewandt werden könnte.

Die nicht veröffentlichten, aber maßgeb­lichen Beweggründe für diesen völkerrechts­widrigen Angriffskrieg erfuhr MdB Willy Wimmer ein Jahr später bei einer Konferenz in Bratislava. Wir dokumentieren nachfol­gend seinen nach der Konferenz verfassten Brief an Bundeskanzler Gerhard Schröder.

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„Fehlentscheidung revidieren, US-Stationierung nachholen“

Offener Brief von Willy Wimmer, Mitglied des Bundestages, Vorsitzender des CDU-Bezirksverbandes Niederrhein, Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE

an

Herrn Gerhard Schröder, MdB, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Bundeskanzleramt, Schlossplatz 1, 10178 Berlin

Berlin, den 02.05.00

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

am vergangenen Wochenende hatte ich in der slowakischen Hauptstadt Bratislava Gelegenheit, an einer gemeinsam vom US-Außenministerium und American Enterprise Institute (außenpolitisches Institut der repu­blikanischen Partei) veranstalteten Konferenz mit den Schwerpunktthemen Balkan und NATO-Erweiterung teilzunehmen. Die Ver­anstaltung war sehr hochrangig besetzt, was sich schon aus der Anwesenheit zahlreicher Ministerpräsidenten sowie Außen- und Ver­teidigungsminister aus der Region ergab. Von den zahlreichen wichtigen Punkten, die im Rahmen der vorgenannten Themenstellung behandelt werden konnten, verdienen es ei­nige, besonders wiedergegeben zu werden:

  1. Von Seiten der Veranstalter wurde ver­langt, im Kreise der Alliierten eine möglichst baldige völkerrechtliche Anerkennung eines unabhängigen Staates Kosovo vorzunehmen.
  1. Vom Veranstalter wurde erklärt, dass die Bundesrepublik Jugoslawien außerhalb jeder Rechtsordnung, vor allem der Schlussakte von Helsinki, stehe.
  2. Die europäische Rechtsordnung sei für die Umsetzung von NATO-Überlegungen hinderlich. Dafür sei die amerikanische Rechtsordnung auch bei der Anwendung in Europa geeigneter.
  3. Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei geführt worden, um eine Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem 2. Weltkrieg zu revidieren. Eine Stationierung von US-Soldaten habe aus stra­tegischen Gründen dort nachgeholt werden müssen.
  4. Die europäischen Verbündeten hätten beim Krieg gegen Jugoslawien deshalb mit­gemacht, um de facto das Dilemma über­winden zu können, das sich aus dem im April 1999 verabschiedeten «Neuen Strategischen Konzept» der Allianz und der Neigung der Europäer zu einem vorherigen Mandat der UN oder OSZE ergeben habe.
  5. Unbeschadet der anschließenden legalistischen Interpretation der Europäer, nach der es sich bei dem erweiterten Auf­gabenfeld der NATO über das Vertragsgebiet hinaus bei dem Krieg gegen Jugoslawien um einen Ausnahmefall gehandelt habe, sei es selbstverständlich ein Präzedenzfall, auf den sich jeder jederzeit berufen könne und auch werde.
  6. Es gelte, bei der jetzt anstehenden NATO-Erweiterung die räumliche Situation zwischen der Ostsee und Anatolien so wiederherzu­stellen, wie es in der Hochzeit der römischen Ausdehnung gewesen sei.
  7. Dazu müsse Polen nach Norden und Sü­den mit demokratischen Staaten als Nachbarn umgeben werden, Rumänien und Bulgarien die Landesverbindung zur Türkei sicher­stellen, Serbien (wohl zwecks Sicherstellung einer US-Militärpräsenz) auf Dauer aus der europäischen Entwicklung ausgeklammert werden.
  8. Nördlich von Polen gelte es, die vollständige Kontrolle über den Zugang aus St. Petersburg zur Ostsee zu erhalten.
  9. In jedem Prozess sei dem Selbst­bestimmungsrecht der Vorrang vor allen anderen Bestimmungen oder Regeln des Völkerrechts zu geben.
  10. Die Feststellung stieß nicht auf Widerspruch, nach der die NATO bei dem Angriff gegen die Bundesrepublik Jugo­slawien gegen jede internationale Regel und vor allem einschlägige Bestimmungen des Völkerrechts verstoßen habe.

Nach dieser sehr freimütig verlaufenen Ver­anstaltung kommt man in Anbetracht der Teilnehmer und der Veranstalter nicht umhin, eine Bewertung der Aussagen auf dieser Kon­ferenz vorzunehmen. Die amerikanische Seite scheint im globalen Kontext und zur Durch­setzung ihrer Ziele bewusst und gewollt die als Ergebnis von 2 Kriegen im letzten Jahr­hundert entwickelte internationale Rechts­ordnung aushebeln zu wollen. Macht soll Recht vorgehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt. Als eine ähn­liche Entwicklung den Völkerbund traf, war der Zweite Weltkrieg nicht mehr fern. Ein Denken, das die eigenen Interessen so absolut sieht, kann nur totalitär genannt werden.

Mit freundlichen Grüßen W. Wimmer

*

Wimmers Bewertung gibt es nichts hinzuzufügen. Anzumerken bliebe, dass die Absichten der USA, sich auf dem Balkan einzunisten, zunächst mit der Errichtung des Camp Bondsteel in der – völkerrechtlich zu Serbien gehörenden Provinz Kosovo und Metohija begann, und dann mit der Auf­nahme weiterer Teile des zerschlagenen Jugoslawiens in die NATO fortgesetzt wurde. Dies diente der Einkreisung Russlands von Südwesten her, und damit eines Korridors rund um die Ukraine.

Über die Bedeutung der Ukraine in diesem Spiel gibt der nächste Beitrag Auskunft.

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Für Russland ist der Status der Ukraine eine existenzielle Bedrohung”

Rede von STRATFOR Chef George Friedman am 4. Februar 2015 – ein Jahr nach dem Maidan-Putsch in Kiew – vor dem „Chicago Council on Global Affairs”

Kernaussagen aus dem Vortrag „Konflikte: Europas Bestimmung?“, zusammengestellt von Rainer Rupp [31]

„Es wird Konflikte in Europa geben, es gab schon Konflikte, in Jugoslawien und jetzt auch in der Ukraine. … Der islamistische Extremismus ist ein Problem für die Vereinigten Staaten, aber keine existenzielle Bedrohung. …Wir haben andere außenpo­litische Interessen. Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahr­hunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptinteresse war sicherzu­stellen, dass dieser Fall nicht eintritt.

Wenn Sie ein Ukrainer sind und Ausschau halten, wer Ihnen helfen kann, dann kommen als Einzige die Vereinigten Staaten in Frage. Letzte Woche, oder etwa vor 10 Tagen war der Oberbefehlshaber der „US-Army Europe” General Ben Hodges zu Besuch in der Ukraine. Er kündigte dort an, dass US-Ausbilder demnächst offiziell in die Ukraine kommen sollen, nicht nur inoffiziell. Er hat dort tatsächlich Orden an die ukrainischen Kämpfer verteilt, obwohl es gegen militä­risches Protokoll ist, dass Soldaten Orden von fremden Armeen annehmen. Doch er tat das, weil er damit zeigen wollte, dass die ukrai­nische Armee seine Armee ist. Dann ging er weg und verkündete in den Baltischen Staa­ten, dass die Vereinigten Staaten Panzer, Artillerie und andere Militärausrüstung in den baltischen Staaten, Rumänien, Polen und Bulgarien in Stellung bringen würden. Das ist ein sehr interessanter Punkt.

Und gestern haben die Vereinigten Staaten angekündigt, dass sie vorhaben, Waffen in die Ukraine zu liefern, das wurde in der Nacht wieder dementiert, aber sie tun das, die Waffen werden geliefert. Und bei all diesen

Handlungen agieren die Vereinigten Staaten außerhalb des Rahmens der NATO, weil NATO-Entscheidungen von allen NATO-Mitgliedern einstimmig getroffen werden müssen und jedes Land ein Veto einlegen kann. Der Punkt bei der ganzen Sache ist, dass die USA ein „Cordon Sanitaire“, einen Sicherheitsgürtel um Russland herum auf­bauen. Und Russland weiß das.

Russland glaubt, die USA beabsichtigen die Russische Föderation zu zerschlagen. Ich denke, wir wollen sie nicht töten, sondern ihnen nur ein wenig weh tun. Jedenfalls sind wir wieder beim alten Spiel.

Die Vereinigten Staaten haben ein funda­mentales Interesse. Sie kontrollieren alle Oze­ane der Welt. Keine andere Macht hat das je­mals getan. Aus diesem Grund können wir in andere Länder eindringen, aber sie können das nicht bei uns. Das ist eine schöne Sache. Die Aufrechterhaltung der Kontrolle über die Ozeane und im Weltall ist die Grundlage un­sere Macht.

Der beste Weg eine feindliche Flotte zu be­siegen ist zu verhindern, dass diese gebaut wird. Der Weg, den die Briten gegangen sind, um sicherzustellen, dass keine europäische Macht die Flotte bauen konnte, ist, dass die Europäer einander bekämpften. Die Politik, die ich empfehlen würde, ist die, die Ronald Reagan angewendet hat, im Iran und Irak (Iran-Irak-Krieg 1980-88). Er finanzierte bei­de Seiten, sodass sie gegeneinander kämpften und nicht gegen uns. Es war zynisch, be­stimmt nicht moralisch, aber es funktionierte.

Und das ist der Punkt: die Vereinigten Staa­ten sind nicht in der Lage, ganz Eurasien zu okkupieren. In dem Moment, wo unsere Stie­fel den Boden berühren, sind wir demo­graphisch zahlenmäßig unterlegen. (…) Also sind wir nicht in der Lage, überall militärisch zu intervenieren, aber wir sind in der Lage, erstens, gegeneinander kämpfende Mächte zu unterstützen, damit sie sich auf sich selbst konzentrieren können. Sie zu unterstützen, politisch, finanziell, militärisch und mit Beratern.

Die Frage, die sich jetzt für die Russen stellt: Werden sie die Ukraine wenigstens als eine neutrale Pufferzone erhalten, oder wird der Westen so weit in die Ukraine vordringen, dass er nur noch 100 km von Stalingrad und 500 Km von Moskau entfernt ist. Für Russ­land ist der Status der Ukraine eine existen­zielle Bedrohung. Und die Russen können das nicht ignorieren. Und wie weit werden die USA gehen, falls Russland sich weiterhin an die Ukraine klammert?

Es ist kein Zufall, dass General Hodges, der ernannt wurde, um für all dies gerade zu stehen, davon spricht Truppen in Rumänien, Bulgarien, Polen und den baltischen Staaten in Stellung zu bringen, dem Intermarum, dem Territorium zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee, wie Pilsudski es erträumte. Für die USA ist das die Lösung.

Die Frage, auf die wir keine Antwort haben, ist, wie wird Deutschland sich verhalten. Die unbekannte Variable in Europa sind die Deutschen. Während die USA diesen Sicherheitsgürtel aufbauen, nicht in der Ukraine, sondern westlich davon und die Russen einen Weg suchen, den westlichen Einfluss in der Ukraine zurückzudrängen – wissen wir nicht wie die deutsche Haltung ausfallen wird.

Deutschland befindet sich in einer sehr eigenartigen Lage. Der ehemalige Bundes­kanzler Gerhard Schröder sitzt im Auf­sichtsrat von Gazprom. Die Deutschen haben eine sehr komplexe Beziehung zu den Russen. Die Deutschen wissen selbst nicht was sie tun sollen. Sie müssen ihre Waren exportieren, die Russen können ihnen ihre Waren ab­nehmen. Andererseits, wenn sie die Freihan­delszone verlieren, dann müssen sie etwas anderes aufbauen. Die Urangst der USA ist, dass deutsches Kapital und deutsche Tech­nologien sich mit russischen Rohstoffen und russischer Arbeitskraft verbinden – eine einzigartige Kombination, vor der die USA seit Jahrhunderten eine Höllenangst haben.

Wie wird sich das also abspielen? Die USA haben ihre Karten bereits auf den Tisch gelegt: die Linie zwischen dem Baltikum und dem Schwarzen Meer. Die russischen Karten lagen schon immer auf dem Tisch: Das Mindeste was sie brauchen ist eine neutrale Ukraine, keine pro-westliche. Weißrussland ist eine andere Frage.

Wer mir nun sagen kann, was die Deut­schen tun werden, der kann mir auch sagen, wie die Geschichte der nächsten zwanzig Jahre aussehen wird. Aber leider haben sich die Deutschen noch nicht entschieden. Und das ist immer das Problem Deutschlands. Wirtschaftlich sehr mächtig, geopolitisch sehr fragil. Und es weiß nie, wie es beides versöh­nen kann. Seit 1871 ist das die deutsche Frage, die Frage Europas. Denken Sie über die deut­sche Frage nach, denn sie kommt jetzt wieder auf uns zu. Wir müssen uns ihr jetzt stellen und wir wissen nicht wie. Wir wissen nicht was die Deutschen tun werden.”

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„Unsere“ Interessen an der Ukraine haben Tradition

Die Interessen des „Westens“ an der Beherr­schung der Ukraine sind keineswegs erst 1990 entstanden, und auch nicht erst 1933.

Mit der Entstehung des Imperialismus Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Stimmen von Politikern, führenden Militärs und Ideologen der Herrschenden immer do­minanter, die Russland primär als Konkur­renten auf der internationalen Bühne wahr­nahmen, ja einen Krieg gegen das Zarenreich für unvermeidbar hielten. Als Ziele eines sol­chen Krieges wurden letztlich die Zerschla­gung Russlands und seine weitgehe[32]nde Zurückdrängung aus Europa propagiert.

Der spätere Staatssekretär und Reichs­kanzler Bernhard von Bülow amtierte als Botschaftsrat in St. Petersburg, als er am 10. Dezember 1887 in einem Bericht an das Auswärtige Amt formulierte: „Wir müssen eventuell dem Russen so viel Blut abzapfen, daß derselbe sich nicht erleichtert fühlt, sondern 25 Jahre außerstande ist, auf den Beinen zu stehen.

Wir müssen die wirtschaftlichen Hilfsquellen Rußlands für lange hinaus durch Verwüstung seiner Schwarzerd-Gouvernements, Bombar­dierung seiner Küstenstädte, möglichste Zerstörung seiner Industrie und seines Han­dels zuschütten. Wir müßten endlich Rußland von jenen beiden Meeren, der Ostsee und dem Schwarzen Meer, abdrängen, auf denen seine Weltstellung beruht.“[33]

Der Chef des Großen Generalstabes, Generaloberst Helmuth Graf von Moltke d.J., formulierte in einem Schreiben vom 10. Februar 1913 gegenüber seinem österrei­chisch-ungarischen Amtskollegen Franz Con­rad von Hötzendorf: Er sei „nach wie vor der Ansicht, dass ein europäischer Krieg … kommen muss, in dem es sich in letzter Linie handeln wird um einen Kampf zwischen Germanentum und Slawentum. Sich hierauf vorzubereiten, ist Pflicht aller Staaten, die Bannerträger germanischer Geisteskultur sind.“[34]

Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow, hat im August 1914 seine Gedanken über die Ziele im bevorstehenden Krieg in einem Erlaß für den deutschen Botschafter in Wien formuliert: „Insurgierung nicht nur Polens, sondern auch der Ukraine erscheint uns sehr wichtig; 1. als Kampfmittel gegen Rußland; 2. weil im Falle glücklichen Kriegsausganges die Bildung mehrerer Pufferstaaten zwischen Rußland und Deutschland bzw. Österreich-Ungarn zweck­mäßig würde, um den Druck des russischen Kolosses auf Westeuropa zu erleichtern und Rußland möglichst nach Osten abzu­drängen.“[35]

In einer Kriegszielschrift von Heinrich Claß im September 1914 hört sich das so an: „Wir wünschen ferner, daß Rußland auch im Süden auf die vorpetrinische Grenzen [vor Zar Peter I., 1709] zurückgeworfen wird, am besten hinter den Dnjepr zurückweicht, damit den wichtigsten Teil der Schwarzmeerküste verliert und also auch im Süden das Gesicht völlig von Europa, dort im besonderen von der Balkanhalbinsel, abgewendet erhält.“[36]

Reichskanzler Theobald von Bethmann Holl­weg verfasste am 9. September 1914 eine geheime Denkschrift zu den deutschen Zielen für die Millionen deutscher Soldaten an den Fronten zu leiden und zu sterben hatten: „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muß Frankreich geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallen­völker gebrochen werden.“[37]

„Bereits 1915/16 hatten Großindustrielle wie z. B. Emil Kirdorf (Vorstandsvorsitzender der Gelsenkirchener Bergwerks AG und Mit­glied des Geschäftsführenden Ausschusses des Alldeutschen Verbandes) und Alfred Hu­genberg (Vorsitzender des Direktoriums der Krupp-Werke und Gründungsmitglied des Alldeutschen Verbandes) für die entsprechen­den finanziellen Voraussetzungen gesorgt, um in Deutschland den Gedanken für eine von Rußland ‚unabhängige‘ Ukraine zu propagie­ren. Zu diesem Zweck wurde die Zeitschrift Osteuropäische Zukunft aus der Taufe gehoben, als deren Herausgeber nach außen ein am 11. Dezember 1915 gegründeter ‚Verband deut­scher Förderer der ukrainischen Freiheits­bestrebungen‘ firmierte, bei dem es sich um nichts anderes als eine Filiale des Alldeut­schen Verbandes handelte.“[38]

Paul Rohrbach war 1914 bis 1918 Mitar­beiter im Reichsmarineamt, dann im Aus­wärtigen Amt, wo er sich als Wortführer einer antirussischen Politik hervortat. „‚Wer Kiew hat, kann Rußland zwingen‘ – so ein Leit­spruch von Paul Rohrbach (1869 – 1956), eines vor und während des Ersten Weltkrieges hochgeachteten deutschen Publizisten mit dem Thema Geopolitik.

Er war ausgebildeter protestantischer Theo­loge und Nationalliberaler, warb für den deutschen ‚Platz an der Sonne‘ als ‚ethischer Imperialist‘ (so Walter Mogk, der 1972 eine

der wenigen Studien über ihn verfasst hat).

Der weitgereiste und kenntnisreiche Rohr­bach hatte praktische Erfahrungen in der Ko­lonialverwaltung, und von 1914 bis 1918 war er für das Auswärtige Amt tätig.

Sein stärkstes Interesse galt der Ukraine. Ohne deren Terrain, so sein Kalkül, sei Russland ohnmächtig, nicht mehr ausge­stattet ‚mit Eisen, Kohle, Korn, Häfen‘ – reif für eine ‚Zertrümmerung‘. Eben deshalb müs­se Deutschland eine ‚ukrainische Bewe­gung‘in Gang setzen.“[39]

„Oft nutzte er bei öffentlichen Auftritten das Bild, ‚daß Rußland sich auseinander­nehmen läßt wie eine Apfelsine‘ und daß dabei ‚bei gehöriger Vorsicht durch keinen Riß und keine Wunde ein Tropfen Saft zu fließen braucht‘. Ganz besonders kümmerte sich Rohrbach um die Ukraine, gelegentlich bei PR-Veranstaltungen vor großem Publi­kum. ‚Alles große Leben in Rußland muß versiegen, wenn ein Feind die Ukraina packt‘, schrieb er in seinem 1916 erschienenen ‚Weltpolitischen Wanderbuch‘.

Die Bedeutung der Ukraine müsse man sich zunutze machen, verlangte er in dem Werk: ‚Wenn aber der Tag kommt, wo Rußland das Schicksal herausfordert, und dann hat zufällig dort, wo bei uns die Entscheidungen getroffen werden, jemand soviel Kenntnis von den Din­gen und soviel Entschlossenheit, daß er die ukrainische Bewegung richtig loszubinden weiß – dann, ja dann könnte Rußland zer­trümmert werden.‘“[40]

Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger forderte in seiner Kriegszieldenkschrift vom 2. September 1914 „ehrgeizig, ‚Rußland sowohl von der Ostsee als auch vom Schwarzen Meer abzuschließen‘. Das Mittel der Wahl sei die ‚Befreiung der nichtrussischen Völkerschaf­ten‘ im Zarenreich ‚vom Joch des Mosko­witertums und Schaffung von Selbstverwal­tung im Innern der einzelnen Völkerschaften‘.

Rußland zerschlagen, den Teilgebieten Autonomie oder gar Eigenstaatlichkeit zu­sprechen – das nannte man vornehm ‚Dekom­positionstheorie‘. Wer das zerlegte Rußland kontrollieren sollte, war für Erzberger klar: ‚Alles dies unter militärischer Oberhoheit Deutschlands, vielleicht auch mit Zollunion.‘ Das klang größenwahnsinnig, aber man füh­rte schließlich eine Kriegszieldiskussion.“

Der erwähnte Verband Freie Ukraine (Verband deutscher Förderer der ukrainischen Freiheitsbestrebungen) wirkte für die Los­trennung der Ukraine von Russland.

Hauptanliegen war die Propagierung der wirtschaftlichen Bedeutung der Ukraine in Politik-, Wirtschaft- und Pressekreisen, die wiederum als „Multiplikatoren“ wirken soll­ten. Dazu fanden Vortrags- und Diskus­sionsabende statt. Die ideologische Basis stammte von Paul Rohrbach, der mit einer „Dekompositionstheorie“ die russische Macht durch Entwicklung des Nationalismus der „russischen Fremdvölker“ brechen wollte.

In einer Selbstdarstellung von 1916 der Verbandszeitung Osteuropäische Zukunft heißt es: „Der Weg nach Osten und Südosten ist frei geworden. Damit hat sich für Deutschlands Handel und Industrie eine neue Bahn aufgetan.“

In einem Einladungstext schrieb der Verband 1916, es gehe darum in der Ukraine „unübersehbare Naturschätze zu heben“ und dort lebe „das 39 Millionen-Volk der Ukrainer, das […] sich danach sehnt, völlig befreit und staatlich neu geformt, unser Bundesgenosse zu werden“.[41]

Eine 1917 als Sonderdruck erschienene Denkschrift, stellte fest: „Nur in der Ukraine – nicht im Zentrum und im Norden – ist Rußland tödlich zu treffen“, die „Vorschiebung der Besetzungsgrenze bis zur Donezlinie […] würde Rußland zum langsamen Ersticken verurteilen“.

Die Faschisten knüpften an diese „Vordenker“ an: „Die reichen Felder der Ukraine locken – schrieb Joseph Goebbels am 16.06.1941 in sein Tagebuch.

Gemeint war damit nicht nur die Aneignung agrarischer Flächen, sondern auch der Zugriff auf industrielle Ressourcen in dem zu unterwerfenden Terrain. Zudem wollte Hitlerdeutschland seine Verfügung über die Ukraine geostrategisch nutzen, als Durchgang zur Kaukasusregion und zum zentralasiatischen Raum. Die Krim sollte zur „germanischen Siedlung“ werden, als deut­sche Militärstation das Schwarze Meer beherrschen. Und die Besetzung der Ukraine galt als der entscheidende Schlag zur „De­komposition“ des „Russischen Reiches“. Die­ses sollte – nicht nur in seiner kommuni­stischen Form – aus dem Rang der Groß­mächte ein für allemal verdrängt werden, durch „völkische“ Zergliederung, die Ver­nichtung von Massen „rassisch minderwer­tiger Untermenschen“ einbegriffen.[42]

Arno Klönne weiter: „Seit der Oktober­revolution von 1917 wurde die ‚traditionelle‘ Russophobie mit dem Hass auf die Bolschewiki angereichert. Damit erhielt sie eine vollkommen neue Qualität. Jetzt ging es neben der angestrebten Gewinnung von ‚Siedlungsraum‘ für deutsche Bauern und Weltkriegsveteranen, neben der Ausbeutung der Bodenschätze und landwirtschaftlichen Ressourcen vor allem darum, den historisch ersten Versuch zu ersticken, eine gegenüber dem Kapitalismus alternative Gesellschafts­ordnung zu errichten. Von nun an bildeten die ‚Russophobie‘ und die Vorbereitung einer ‚sozialen Revanche‘ ein Amalgam in der Ideologie und Politik der Herrschenden.“

Das Revanche-Motiv ist modifiziert auch gegen heutigen Staatskapitalismus in Russ­land aktuell, der die Ausplünderung durch das internationale Finanzkapital verwehrt.

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Klaus Hartmann ist stellvertretender Bundesvorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes

Quellen

[1] http://www.frikoberlin.de/tmp/aufruf_20220318.pdf

[2] https://www.freidenker.org/?p=10689#eroeffnung

[3] Interview mit „Bild“, 16.05.2014

[4] 03.09.2014, http://www.spiegel.de/politik/ausland/barack-obama-in-estland-kritik-an-putin-versprechen-an-baltikum-a-989672.html

[5] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-kampfdrohne-101.html

[6] https://www.welt.de/bin/BriefvonGysi%20_bn-237217057.pdf

[7] https://www.linkedin.com/pulse/putins-rede-24022022-michal-talma-sutt

[8] https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/europa/2138301-Der-wackelige-Heldenmythos-der-Ukraine.html

[9] https://www.nzz.ch/international/ukraine-chronologie-der-maidan-revolution-ld.1290571

[10] https://www.spiegel.de/politik/ausland/krim-krise-die-fatalen-fehler-der-kiewer-regierung-a-956680.html

[11] https://www.focus.de/politik/ausland/das-bataillon-asow-schmutziger-kampf-in-der-ukraine-neonazis-im-dienst-der-regierung_id_4058717.html

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Minsk_II

[13] Putin als „Sieger“: Minsk-II erhöht Druck auf Poroschenko in Ukraine. In: Abendzeitung München, 13. Februar 2015; Jacques SchusterIn Minsk gibt es nur einen einzigen Sieger – Putin. In: Welt Online, 12. Februar 2015.

[14] https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/112-ua-volker-says-called-peoples-republics-donbas-eliminated.html

[15] https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/die-gewalt-kann-jederzeit-gestoppt-werden/story/13734340

[16] https://www.anti-spiegel.ru/2022/hat-russland-mit-der-anerkennung-des-donbass-das-minsker-abkommen-beerdigt/?doing_wp_cron=1648714312.3164069652557373046875

[17] Berliner Zeitung, 6.4.2021

[18] https://www.anti-spiegel.ru/2021/kein-wort-in-den-medien-der-westen-hat-das-minsker-abkommen-beerdigt/

[19] https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-4-vom-15-maerz-2022.html#article_1306

[20] https://www.jungewelt.de/artikel/421466.wer-wind-sät.html

[21] http://russland-ticker.de/ukraine-appell-zur-anerkennung-der-abtruennigen-donbass-republiken-wird-auf-putins-schreibtisch-landen

[22] https://cprf.ru/2022/02/recognition-of-the-dpr-and-lpr-must-be-russias-firm-answer-to-us-provocations/

[23] https://rtde.site/russland/133873-russland-uber-moglichkeit-ruckkehr-volkrepubliken/

[24] Antikriegs-Koalition der USA, https://unac.notowar.net/2022/03/23/ukraine-u-s-out-now-remains-our-anti-imperialist-antiwar-credo/

[25] Bundestag, DS 18/1221, 24.04.2014

[26]°https://www.zdf.de/nachrichten/politik/stoltenberg-nato-ukraine-krieg-russland-100.html

[27] https://www.aachener-zeitung.de/politik/welt/nato-wird-70-jahre-alt_aid-47573835

[28] https://www.youtube.com/watch?v=S5HtBba-i28

[29] https://www.epochtimes.de/politik/ausland/ukraine-nimmt-beitritt-zu-eu-und-nato-als-ziele-in-verfassung-auf-a2788396.html

[30] Zbigniew Brzezinski, The Grand Chessboard, 1997, S. 46

[31] https://www.freidenker.org/?p=12423

[32] https://kritisches-netzwerk.de/sites/default/files/Dr%20%20Reiner%20Zilkenat%20-%20Wer%20Kiew%20hat%20kann%20Russland%20zwingen!.pdf

[33] Reiner Zilkenat, https://kpf.die-linke.de/mitteilungen/detail/unternehmen-barbarossa-der-ueberfall-auf-die-sowjetunion-am-22-juni-1941-1/

[34] ebenda

[35] Reiner Zilkenat, http://ag-friedensforschung.de/themen/1wk/ukraine.html

[36] Reinhard Opitz R., Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945, Bonn 1994, S. 249

[37] http://ag-friedensforschung.de/themen/1wk/ukraine.html

[38] ebenda

[39] Arno Klönne, https://www.heise.de/tp/features/Die-Ukraine-Objekt-der-Begehrlichkeit-3366718.html

[40] Jörg Kronauer, Die ukrainische Sache, in junge Welt, Donnerstag, 21. Juni 2012

[41] https://de.wikipedia.org/wiki/Freie_Ukraine

[42] Arno Klönne, https://www.heise.de/tp/features/Die-Ukraine-Objekt-der-Begehrlichkeit-3366718.html


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Klaus Hartmann: Der Krieg in der Ukraine und wir (Auszug aus FREIDENKER 1-22, ca. 791 KB)


Bild: Protestaktion von Mitgliedern des Freidenker-Verbandes und der Bürgerinitiative Offene Heide am 15. März 2020 in Burg (bei Magdeburg).
Die Kaserne war als „Etappe“ des gegen Russland gerichteten NATO-Manövers „Defender Europe 2020“ eingeplant.
Foto: Andreas Cienskowski