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Das Geheimrezept für den Erfolg des chinesischen Kommunismus

Die Kommunistische Partei Chinas feierte am Donnerstag, den 1. Juli 2021 ihren 100. Geburtstag. Viele westliche Beobachter dachten nach dem Ende der UdSSR, dass China einen ähnlichen Weg wie die Sowjetunion gehen würde – ein großer Fehler. China eilt heute von einem Erfolg zum nächsten. Wie ist der Erfolg der KP zu erklären?

von Dennis Simon


Teil 1

Erstveröffentlichung am 01.07.2021 auf RT DE

Am 1. Juli feiert die Kommunistische Partei Chinas ihren 100. Jahrestag. Anfang der 1990er Jahre gab es viele Beobachter im Westen, die gedacht und gewünscht haben, dass die Partei dieses Jubiläum nicht erleben würde. Die regierenden kommunistischen Parteien in Osteuropa waren entweder zusammengebrochen oder verwandelten sich in sozialdemokratische Parteien. Auch einige ehemals starke kommunistische Parteien im Westen konnten sich dem Sog nicht entziehen, so etwa in Italien. Die Geschichte schien sich eindeutig gegen den Kommunismus gestellt zu haben. Manche westliche Denker stellten die These auf, dass nun ein neues goldenes Zeitalter für den Liberalismus und die westliche Demokratie beginne und dass in diesem Sinne die Geschichte ein Ende erreicht habe.

Wiederholte Prognosen von „China-Experten“, dass die KP Chinas schwach und unbeliebt sei und daher Chinas Regierungssystem kollabieren werde, bewahrheiteten sich jedoch nicht. Dennoch übertragen westliche Beobachter viele negative Klischees und Vorurteile, die sich um die Sowjetunion und die anderen osteuropäischen sozialistischen Staaten gebildet hatten, einfach auf China, ohne sich genau mit den Details zu befassen.

Inzwischen zeigen jedoch westliche Studien, dass Chinas Regierungspartei fest im Sattel sitzt und eine sehr große Unterstützung seitens der Bevölkerung genießt. Ein Institut der US-amerikanischen Harvard-Universität führte zwischen 2003 und 2016 jährlich unter tausenden Chinesen Umfragen zu ihrer Zufriedenheit mit den staatlichen Strukturen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene durch. Im letzten Jahr antworteten 95,5 Prozent der Teilnehmer, dass sie „relativ zufrieden“ oder „sehr zufrieden“ mit der Politik der chinesischen Zentralregierung seien. Berichte von Reisenden aus China, die sich vorurteilsfrei mit normalen Chinesen unterhalten, ergeben ein ähnliches Bild: Die meisten haben angesichts der stetigen Verbesserung der Lebensverhältnisse in den letzten vier Jahrzehnten großes Vertrauen in die Partei.

Wie ist dieser Erfolg der Kommunistischen Partei Chinas, der scheinbar den bisherigen Erfahrungen des traditionellen osteuropäischen Sozialismus widerspricht, zu erklären? Offenkundig haben die chinesischen Kommunisten einen Arbeitsstil und eine theoretische Perspektive entwickelt, die es ihnen erlaubten, die Fehler und Versäumnisse anderer sozialistischer Staaten zu vermeiden. Um das zu verstehen, muss man sich mit der Geschichte der KP Chinas befassen.

Im ersten Teil des Beitrages geht es um die bitteren Erfahrungen der chinesischen Kommunisten mit der Bevormundung Chinas durch die Zentrale der kommunistischen Weltbewegung in China in den 1920er und 1930er Jahren. Um die KP Chinas zu verstehen, ist es unerlässlich, sich mit diesen historischen Wurzeln zu befassen, denn die grundlegenden Elemente für den erfolgreichen Kurs der Partei wurden in diesem Zeitraum erarbeitet.

In einem zweiten Teil des Beitrages sollen dann die Strategien der KP Chinas nach der Machtergreifung betrachtet werden. Basierend auf dem innovativen und flexiblen Umgang mit dem Marxismus, den sich Chinas Kommunisten angeeignet hatten, gelang es der KP, mit dem Konzept der „Neuen Demokratie“ einen eigenen chinesischen Pfad zum Sozialismus zu entwickeln und, nachdem in den 1970er Jahren die Probleme der Planwirtschaft sowjetischen Stils immer offenkundiger wurden, mutige wirtschaftliche Reformen vorzunehmen.

Als in China die Kommunistische Partei gegründet wurde, war die internationale kommunistische Bewegung straff organisiert. Es gab ein Zentrum in Moskau, das gegenüber den einzelnen Sektionen der Kommunistischen Internationale (Komintern) weisungsbefugt war. Diese Organisationsform entsprach der damaligen Erwartung einer baldigen Weltrevolution. Angesichts der Oktoberrevolution sowie weiterer Revolutionsversuche in Deutschland, Österreich, Ungarn sowie weiteren Staaten war das keine unrealistische Perspektive, auch wenn wir heute wissen, dass dieses Szenario letztendlich nicht eingetreten ist.

Die Kommunistische Partei Chinas, die bei ihrer Gründung nur einige Dutzend Mitglieder hatte, wuchs aufgrund der gewaltigen sozialen und politischen Widersprüche im Land sehr schnell. Einerseits befand sich das Land auf dem Serviertablett für die kolonialen Interessen diverser imperialistischer Staaten. Es gab keine starke Zentralregierung, sondern in verschiedenen Regionen herrschten verschiedene Warlords, die auf dem Rücken der armen Landbevölkerung Privatarmeen und einen Anhang von korrupten Beamten und Lakaien unterhielten. Dieser Umstand empörte patriotisch gesinnte Chinesen. Zudem war die Situation für die meisten Bauern und armen Stadtbewohner unerträglich. Reiche Großgrundbesitzer führten ein komfortables Leben, während die Lebensverhältnisse der meisten Chinesen auf einem erbärmlichen, vormodernen Niveau waren, vergleichbar mit dem oder möglicherweise noch schlechter als jenes ihrer Vorfahren vor 200 bis 300 Jahren.

Neben den Kommunisten gab es noch eine weitere chinesische Partei, die vorgab, gegen diese doppelte, innen- wie außenpolitische Schande anzukämpfen: Die Nationalisten der Kuomintang. Die Komintern orientierte die chinesische Sektion darauf, der größeren Kuomintang beizutreten und in dieser zu arbeiten, um ihre Ziele zu verwirklichen. Sowjetische Berater spielten eine wichtige Rolle beim Aufbau der Kuomintang. Nachdem im Jahr 1925 jedoch der sowjetfreundliche Gründer der Kuomintang, Sun Yat-sen, starb und an seine Stelle der rechtsgerichtete Militärmachthaber Chiang Kai-shek trat, wurde die Situation für die Kommunisten immer schwieriger.

Die KP Chinas verfolgte damals eine Strategie, die auf die Eroberung der Macht zuerst in den Städten abzielte. Angesichts des Vormarschs der Kuomintang organisierten die Kommunisten im März 1927 einen erfolgreichen Aufstand in Schanghai gegen den lokalen Warlord. Dieser Aufstand erschreckte die rechten Kräfte in der Kuomintang sowie die westlichen Staaten. Die Kommunisten organisierten Proteste gegen die kolonialen Enklaven der westlichen Staaten in Schanghai.

Im April verriet Chiang seine kommunistischen Verbündeten und veranstaltete ein Massaker in der Stadt und in den anderen Gebieten, welche die Kuomintang kontrollierte, bei dem Tausende von Kommunisten ermordet wurden. In dieser Zeit verlor die Kommunistische Partei etwa 15.000 ihrer 25.000 Mitglieder. Es folgte ein Bürgerkrieg zwischen der Kuomintang, die ab 1928 fast das gesamte chinesische Staatsgebiet kontrollierte, und der Kommunistischen Partei, der bis zum Angriff Japans im Jahr 1936 wütete.

Das Scheitern dieser Einheitsfront mit der Kuomintang und der anschließende Verlust von Tausenden ihrer Genossen wirkten tief auf die chinesischen Kommunisten. Sie mussten erkennen, dass die Komintern-Führung nicht unbedingt immer den besten Einblick in die konkrete Lage im Inneren der verschiedenen Länder hatte. Eine Gruppe von Marxisten um Mao Zedong begann, basierend auf den Realitäten Chinas, den Marxismus zu „sinisieren“. Es dauerte jedoch noch einige Jahre, bis sich diese Linie in der Partei gegenüber anderen Strömungen, die für eine einfache Übernahme des sowjetischen Marxismus standen, durchsetzen konnte.

Zwar musste nach dem Debakel in Shanghai der damalige Vorsitzende der Partei zurücktreten, aber es kam nicht zu einer grundlegenden Änderung der Strategie. Während sich die Parteiführung auf die Städte konzentrierte, organisierten andere Kommunisten die Bauernschaft. Es gelang ihnen, die Bauernschaft zum Aufstand zu bringen und eine Reihe von „Sowjetgebieten“ zu organisieren. Mao Zedong leitete in der Provinz Jiangxi das größte Sowjetgebiet. Dem späteren chinesischen Parteichef gelang es Anfang der 1930er Jahre, drei Einkreisungsversuche der Kuomintang abzuwehren und erfolgreiche Gegenkampagnen zu starten, obwohl seine kommunistischen Milizen gegenüber den Kuomintang-Truppen bis zu eins zu zehn in der Unterzahl waren.

Obwohl es anfangs Maos Kurs und dessen eigenständige Aktionen kritisierte, zog das Zentralkomitee der KP Chinas in sein Gebiet um, da es dies als sicheres Gebiet betrachtete. Dadurch wurde allerdings Maos Einfluss verringert. Nach Maos dritter erfolgreicher Abwehrkampagne gegen die Angriffe der nationalistischen Truppen wurde er paradoxerweise auf einer Parteikonferenz im Oktober 1932 sogar von den meisten seiner Führungsposten enthoben. Das wirkte sich negativ auf die Leitung der kommunistischen Truppen aus. Während es der KP noch gelang, den vierten Einkreisungsversuch abzuwehren, musste die Partei beim fünften Angriff der Kuomintang auf Jiangxi ihre Stellungen räumen.

Der entscheidende Faktor für die Niederlage der Kommunisten war, dass die Parteiführung, die überwiegend aus jungen Intellektuellen bestand, die in der Sowjetunion ausgebildet worden waren, und ein von der Komintern entsandter Militärberater, der Deutsche Otto Braun, Maos erfolgreiche Guerillataktiken verwarfen und stattdessen auf konventionellere Militärtaktiken setzten, die die sowjetische Rote Armee im russischen Bürgerkrieg angewandt hatte.

Zudem hatte Mao die Widersprüche zwischen Chiang Kai-shek und den anderen nationalistischen Generälen erfolgreich ausgenutzt, was zu einer Reduzierung der Mobilisierungsfähigkeit auf der Seite der Nationalisten führte. Die Führung der KP hingegen betrachtete alle Kuomintang-Kräfte gleichermaßen als Feinde, was die Anzahl der Truppen erhöhte, die Chiang Kai-shek für seine Kampagne gegen das Sowjetgebiet in Jiangxi zur Verfügung hatte.

Die fünfte Kuomintang-Kampagne endete mit einem Desaster für die Kommunisten. Zehntausende ihrer besten Kämpfer starben. Die Partei musste das Sowjetgebiet aufgeben und sich zurückziehen. Dieser Rückzug markiert den Start des „Langen Marsches“. Einige Monate nach Rückzugsbeginn fand die Konferenz von Zunyi statt. Die Kommunistische Partei analysierte hier die vergangenen Kämpfe und versuchte, die Gründe für den Misserfolg zu benennen.

Die dogmatischen Kräfte, die auf ein Kopieren des sowjetischen Modells pochten, wurden abgelöst. Mao wurde wieder in die Parteiführung geholt. Er und seine Weggefährten setzten eine politische und militärische Strategie um, die trotz der hohen Verluste beim Langen Marsch die Partei stabilisierte und ihr ermöglichte, im Laufe der Jahre die entscheidende Landbevölkerung zunehmend für sich zu gewinnen. Im zweiten chinesischen Bürgerkrieg von 1945 bis 1949 – nach dem Intermezzo des japanischen Angriffs auf China, der Chiang Kai-shek zu einem Zweckbündnis mit den Kommunisten zwang – gelang es Mao Zedong schließlich, den verhassten Feind, Chiang Kai-shek, zu besiegen und ein „Neues China“ zu gründen, das die doppelte Schmach der ausländischen imperialistischen Unterdrückung und der sozialen Rückständigkeit beenden sollte.

Die Realität hatte gezeigt, dass der Pfad der Dogmatiker, die eine Theateraufführung der Oktoberrevolution mit chinesischen Untertiteln anstrebten, nicht zum Erfolg führen würde. Die Kommunistische Partei Chinas bewies die Fähigkeit, flexibel zu sein, ohne ihre ursprüngliche Mission aus den Augen zu verlieren, sowie Fehler aufzudecken, aus ihnen zu lernen und ihren Kurs zu korrigieren.

Zudem erkämpfte sie ihre politische wie theoretische Unabhängigkeit gegen äußere Einflüsse, insbesondere gegen den sowjetischen Hegemonismus. Ab 1935 agierte die Kommunistische Partei Chinas zunehmend praktisch unabhängig von der Komintern. Diese Fähigkeiten erlaubten es den chinesischen Kommunisten später, weitere bedeutende Herausforderungen zu meistern – etwa der Bruch mit der Sowjetunion sowie die zunehmenden Probleme mit der Planwirtschaft sowjetischen Stils in den 70er Jahren – und über die letzten vierzig Jahre Hunderte von Millionen Chinesen aus der Armut zu befreien.

Link zur Erstveröffentlichung auf RT DE: https://de.rt.com/meinung/120057-geheimrezept-fur-erfolg-chinesischen-kommunismus/


Teil 2

Erstveröffentlichung am 02.07.2021 auf RT DE

Mit Eroberung der Macht im Jahr 1949 – die weitgehend ohne sowjetische Unterstützung erfolgte – kamen auf die Kommunistische Partei Chinas neue Herausforderungen zu. Das Land war noch rückständiger als Russland, als die Bolschewiki dort die Macht ergriffen hatten. Entgegen den ursprünglichen Erwartungen der Begründer des Kommunismus, Karl Marx und Friedrich Engels, brachen die Revolutionen nicht in hochentwickelten kapitalistischen Staaten mit einem entwickelten Proletariat aus, sondern in rückständigen, halbkolonialen, halbfeudalen Staaten, in denen es neben dem Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital noch eine ganze Reihe weiterer, „vormoderner“ Probleme gab.

Um diese Herausforderung zu meistern, entwickelte Mao Zedong das Konzept der „Neuen Demokratie“. Seine Grundgedanke war, dass die Demokratie sich in den unterentwickelten Staaten anders entwickeln müsse als im Westen, wo die parlamentarische Demokratie letztendlich zur Festigung der Kapitalmacht geführt habe. Aufgrund der Besonderheit der materiellen und sozialen Verhältnisse in China gebe es die Möglichkeit, die revolutionären Klassen – für ihn waren das in der damaligen Lage die Arbeiterklasse, die Bauernschaft, das Kleinbürgertum sowie die nationale Bourgeoisie, also im Prinzip fast die gesamte chinesische Bevölkerung außer einer Handvoll Kollaborateure und Kompradoren – zum Sozialismus zu führen unter Umgehung einer klassischen bürgerlichen Revolution. Diese von der Arbeiterklasse geführte revolutionäre Klassenkoalition – die auf der chinesischen Fahne durch die vier kleinen Sterne dargestellt werden, die um den großen Stern, die Kommunistische Partei, kreisen – könne im ersten Schritt die Reste des Feudalismus und der kolonialen Abhängigkeit besiegen und anschließend auch den Aufbau des Sozialismus in Angriff nehmen. Mao sprach sich dafür aus, die Rolle der nationalen Bourgeoisie genau zu studieren, statt sie in einen Topf mit den Kompradoren zu packen:

„Da China ein koloniales und halbkoloniales Land ist, das unter den von anderen Staaten verübten Aggressionen zu leiden hat, besitzt die chinesische nationale Bourgeoisie zu bestimmten Zeiten und in einem bestimmten Grade noch revolutionäre Eigenschaften. Hier darf das Proletariat die revolutionären Eigenschaften der nationalen Bourgeoisie nicht ignorieren, es hat vielmehr die Aufgabe, mit ihr eine Einheitsfront gegen den Imperialismus und gegen die Regierungen der hohen Bürokratie und der Militärmachthaber zu bilden.“

Mao plädierte zudem dafür, aufgrund der enormen Rückständigkeit Chinas dem Privatkapital gewisse Freiräume zu lassen:

„Die staatliche Wirtschaft einer vom Proletariat geleiteten neudemokratischen Republik trägt sozialistischen Charakter, sie ist die führende Kraft der gesamten Volkswirtschaft, doch wird diese Republik das übrige kapitalistische Privateigentum nicht beschlagnahmen, und sie wird auch eine Entwicklung der kapitalistischen Produktion nicht untersagen, soweit diese ’nicht die Lebenshaltung der Nation kontrolliert‘, denn die Wirtschaft in China ist noch außerordentlich rückständig.“

Mao warnte jedoch davor, ein klassisches bürgerliches Regime zu errichten. Das sei angesichts der innen- wie außenpolitischen Lage Wahnsinn, denn es würde China wieder direkt zum Objekt kolonialer Ausbeutung machen – prophetische Worte, wenn man an die Situation in Russland und den anderen postsowjetischen Ländern in den Jahren nach 1991 denkt.

In diesen Zeilen, die um die Jahreswende 1939/1940 geschrieben wurden, ist eindeutig das Modell zu erkennen, an das sich Deng Xiaoping – neben den Erfahrungen der Sowjetunion mit der Neuen Ökonomischen Politik – orientierte, als er Ende der 1970er-Jahre einen Reformprozess einleitete.

Die KP beschloss eine Reihe von landwirtschaftlichen Reformen, bei der Großgrundbesitzer und reiche Bauern enteignet wurden und ihr Land an landlose Bauern verteilt wurde. Zugleich startete er mit sowjetischer Unterstützung eine staatliche Industrialisierungskampagne, die den Grundstein für die moderne chinesische Wirtschaft legte. Diese Schritte erwiesen sich als erfolgreich, da sie dem damaligen Entwicklungsniveau des Landes entsprachen. Die landwirtschaftliche Produktion stieg. Die industrielle Produktion stieg sogar noch schneller. Zwischen 1953 und 1957 vervierfachte sich etwa die Stahlproduktion von jährlich 1,3 Millionen Tonnen auf 5,2 Tonnen. In dieser Zeit wurden die ersten modernen Fabriken in China errichtet. Bereits im Jahr 1956 baute China sein erstes eigenes Fahrzeug.

Mao war aber mit dem Tempo der Entwicklung nicht zufrieden. Er studierte auch das sowjetische Entwicklungsmodell, dem China bisher folgte, und kam zu dem Schluss, das die KPdSU die Schwerindustrie überbetont, die Produktion von Konsumgütern hingegen vernachlässigt habe. Basierend auf diesen Analysen startete Mao im Jahr 1958 den sogenannten „Großen Sprung nach vorn“, bei dem die Bauern, von denen viele erst vor wenigen Jahren in den Besitz von Land gekommen waren, zu riesigen Volkskommunen zusammengeschlossen wurden. Zudem wurde von den Bauern erwartet, mit einfachsten Mitteln industrielle Erzeugnisse zu produzieren.

Die Kampagne endete in einem Desaster. Die wirtschaftliche Leistung Chinas sank dramatisch. Da die fehlgeleitete wirtschaftliche Politik durch Missernten und den Rückzug sämtlicher sowjetischer Berater aus dem Land im Jahr 1960 verstärkt wurde, kam es zu einer großen Hungersnot. Eine Resolution der KP Chinas zur Geschichte aus dem Jahr 1981 spricht daher von „bedeutenden Verlusten“, die China in diesen Jahren erlitten habe.

Der Partei gelang es jedoch, den falschen Kurs zu beenden. Im Jahr 1962 fand eine große Konferenz statt, an der über 7.000 Parteikader aus dem gesamten Land teilnahmen. Ein führendes Parteimitglied gestand, dass die Hungersnot zu 70 Prozent auf von Menschen gemachte Fehler zurückzuführen sei. Im Laufe der Konferenz beklagten sich viele Teilnehmer, dass die Führung die Bekämpfung von Bürokratismus und die Stärkung der innerparteilichen Demokratie nicht genügend beachte. Sie verlangten, sprechen zu können. Die Parteiführung entsprach diesem Wunsch. Der linksextreme Kurs der letzten Jahre wurde kritisiert. Es wurde betont, dass es wichtig sei, die Wahrheit in den Fakten zu suchen und sich stets nach den Massen zu richten. Mao trat von einigen Ämtern zurück und überließ die Führung der täglichen Regierungsgeschäfte moderaten Kräften, die eine nach dem Grundmuster der „Neuen Demokratie“ orientierte Wirtschaftspolitik einleiteten.

Mao hatte jedoch die Grundfehler seiner linken Orientierung ab Mitte der 1950er-Jahre immer noch nicht verstanden, sodass er im Jahr 1966 mit der „Kulturrevolution“ eine erneute linksextreme Phase einleitete. Mao rief junge Aktivisten auf, sich gegen die etablierte Parteigremien zu positionieren. Als Losung für diese Rebellion wählte er den Spruch „Bombardiert das Hauptquartier“. Er warf den moderaten Kräften, etwa dem chinesischen Präsidenten Liu Shaoqi und Deng Xiaoping, ohne sie beim Namen zu nennen, vor, eine „bürgerliche Diktatur“ errichtet zu haben, und sprach sogar von „weißem Terror“.

Maos Kampagne stürzte das Land ins Chaos. Offizielle Parteigremien wurden von Rotgardisten durch sogenannte Revolutionäre Komitees ersetzt. Erfahrene Parteikader wurden von Mobs drangsaliert, was zu vielen Todesopfern führte. Liu etwa wurde verhaftet und starb kurz darauf. Deng wurde mehrmals „gesäubert“.

Es kam auch zu Kämpfen zwischen einzelnen Fraktionen innerhalb der Roten Garden. Um das Absinken des Landes in einen Bürgerkrieg zu verhindern, musste vielerorts die chinesische Volksbefreiungsarmee einschreiten und die Kontrolle übernehmen. Mao erklärte im Jahr 1969 die Kulturrevolution für beendet, doch linke Kräfte behielten bis nach Maos Tod im Jahr 1976 die Oberhand. Aber kurz vor seinem Tod rehabilitierte Mao Deng und holte ihn in die Regierung. Nach Maos Tod gelang es den moderaten Kräften, die linksradikalen Kräfte um Maos Ehefrau, die sogenannte Viererbande, zu verhaften.

Die „Kulturrevolution“ wurde danach als „verantwortlich für den gravierendsten Rückfall und die schlimmsten Verluste der Partei, des Landes und des Volkes seit der Gründung der Volksrepublik“ verurteilt. Deng leitete eine Zeit des intensiven Studiums der Geschichte der letzten Jahrzehnte ein, um die Fehler der Partei sowie ihre Errungenschaften richtig einschätzen zu können, mit dem Ziel, eine richtige Praxis zu entwickeln. Die kollektive Parteiführung und innerparteiliche Demokratie sollten gestärkt werden. Statt jedoch, wie es in der Sowjetunion und in vielen anderen sozialistischen Staaten üblich war, die vorherige Parteiführung komplett zu negieren und zu verleumden, versuchte die Kommunistische Partei Chinas, positive und negative Aspekte von Maos Führung klar herauszuarbeiten.

Parallel zu dieser Aufarbeitung der eigenen Geschichte leitete Deng, basierend auf der wirtschaftlichen Erfahrung der letzten Jahrzehnte, eine Reihe von marktwirtschaftlichen Reformen ein. Ziel der Reformen war es, die wirtschaftliche Entwicklung zu beschleunigen und die strukturellen Probleme der Planwirtschaft sowjetischen Stils zu überwinden. Die Planwirtschaft leistete zwar in der Anfangsphase des wirtschaftlichen Aufbaus, in der die Entwicklung der schwerindustriellen Grundlagen im Vordergrund stand, gute Dienste. Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Wirtschaft jedoch zeigte sich, dass die Planwirtschaft hier nicht in der Lage war, eine nachhaltige Entwicklung zu sichern.

Deng betonte zudem, dass geteilte Armut nicht Sozialismus sei. Er sprach sich gegen die dogmatische Sicht aus, die die Planwirtschaft zu einer Art Fetisch machte und sie trotz der sichtbaren Mängel erhalten wollte. Die Partei müsse dem Volk eine langfristige Entwicklungsperspektive und eine zunehmende Verbesserung der Lebensverhältnisse bieten, um ihre historische Mission erfüllen zu können. Es sei egal, ob eine Katze schwarz sei oder weiß, solange sie dem Endziel diene, Mäuse zu fangen. Im Jahr 1981 erklärte der Parteitag der KP Chinas, dass der Hauptwiderspruch in der chinesischen Gesellschaft jener zwischen den ständig wachsenden materiellen sowie kulturellen Bedürfnissen der Bevölkerung und der rückständigen Wirtschaft sei.

Entgegen des Vorurteils vieler westlicher Beobachter jedoch, wonach Deng in China den Kapitalismus restauriert habe, betonte die Partei von Beginn der Reformen an, dass diese dem Zweck dienen, den Sozialismus in China zu stärken. Rein wirtschaftlich betrachtet waren die Reformen ein voller Erfolg bei der Entwicklung der Produktivkräfte. Zwischen 1978 und 2018 wuchs die chinesische Wirtschaftlich laut öffentlich zugänglichen Statistiken jährlich um durchschnittlich über neun Prozent. Im Jahr 2018 war die chinesische Wirtschaft 37-mal größer als 1978. Betrug das BIP pro Kopf im Jahr 1978 umgerechnet 156 Dollar, stieg dieser Wert bis zum Jahr 2017 auf 8.830 Dollar. Während China vor Beginn der Reformen im Wesentlichen ein Agrarland mit einigen schwerindustriellen Anlagen gewesen war, stieg es durch die Reformen zunächst zum Status der Werkbank der Welt auf, um in den letzten 15 Jahren dann zunehmend auch auf dem Gebiet der Hochtechnologie und der Dienstleistungen den Anschluss zu finden. Das Klischee von billigem, minderwertigem Plastikspielzeug aus China ist längst überholt. Heute werden in China die modernsten und komplexesten technischen Erzeugnisse produziert. Dieser rasante Aufstieg so eines großen Landes ist ein in der Geschichte einmaliger Vorgang.

Freilich entwickelten sich nicht alle Regionen und alle sozialen Schichten gleichmäßig. Das war der Führung der KP Chinas auch von Anfang an klar. Deng hatte schon früh die Parole ausgegeben, dass zunächst einige Bereiche reich werden müssen, damit der Aufschwung anschließend die Gesamtgesellschaft erfassen kann.

Im Westen sprach man abschätzig von den chinesischen Wanderarbeitern und von „chinesischen Löhnen“. Tatsächlich waren die Lebensbedingungen der Wanderarbeiter nicht beneidenswert. Jedoch muss jede Entwicklung in ihrem historischen und sozialen Kontext erfasst werden, um zu einem richtigen Urteil zu kommen: Die Arbeiter kamen aus extrem ärmlichen Verhältnissen und die Arbeit in der Stadt bedeute für sie einen, wenn auch bescheidenen, sozialen Aufstieg, den sie auch massenhaft nutzten. Das ist ein entscheidender Unterschied zur kapitalistischen Entwicklung in westlichen Staaten sowie zur Restaurierung des Kapitalismus in Osteuropa. Dort war die Einführung der industriellen Produktion beziehungsweise Wiederherstellung bürgerlicher Verhältnisse begleitet von einem Abrutschen breiter Bevölkerungsmaßen ins absolute Elend. In China sehen wir eine gegenteilige Entwicklung.

Es ist natürlich einfach für westliche Kritiker, die keine Verantwortung für reale Menschen haben, die Missstände in einem rückständigen Land, das über 100 Jahre unter westlicher Ausbeutung und der aktiven Behinderung seiner Entwicklung litt, oberflächlich zu kritisieren. Die geschichtliche Entwicklung ist jedoch keine Folge von „Wünsch Dir was“. Dass Gleichmacherei und Linksradikalismus nicht in der Lage waren, die Lebensverhältnisse der Bevölkerung zu verbessern, konnten die chinesischen Kommunisten aufgrund ihrer eigenen Erfahrung sehen.

Neben der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist kennzeichnend für die Erfolge der Reformpolitik, dass es gelang, Hunderte Millionen Bürger aus der Armut zu befreien. In den letzten zehn Jahren wuchsen die Löhne durchschnittlich jährlich um zehn Prozent. Auch inflationsbereinigt steigen die chinesischen Löhne eindeutig. In den 2000er-Jahren waren die relativen Lohnsteigerungen sogar noch größer. So betrugen die inflationsbereinigten jährlichen Lohnsteigerungen in der Industrie 10,5 Prozent, im Baugewerbe fast zehn Prozent und für Wanderarbeiter über zehn Prozent. Im landwirtschaftlichen Sektor waren die Steigerungen teilweise noch rasanter. Landarbeiter konnten, je nach ihrer Branche, Lohnsteigerungen zwischen 11,7 Prozent (Baumwolle) und 21,4 Prozent (Schweinezucht) erwarten. Während der globale Zuwachs der Löhne zwischen 2008 und 2017 ohne China nur 13 Prozent betrug, betrug er mit China 22 Prozent, wie die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) berichtete. Sogar im Pandemie-Jahr 2020 betrug die reale Lohnsteigerung für städtische Arbeiter über fünf Prozent.

Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen städtischer chinesischer Haushalte stieg von 1.510 Yuan im Jahr 1990 auf 43.000 Yuan im Jahr 2020. Im Jahr 2019 betrug das durchschnittliche Monatsgehalt laut einem Regierungsbericht in 37 bedeutenden chinesischen Städten knapp über 1.200 Dollar. Somit erhalten Dutzende Millionen Chinesen Löhne, die höher sind als jene, die Arbeiter in weiten Teilen Osteuropas erwarten können. So betrug etwa das monatliche Durchschnittsgehalt in der Ukraine im Jahr 2019 nur knapp 390 US-Dollar, im EU-Mitgliedsstaat Bulgarien 690 Euro. Wenn die aktuelle Entwicklung anhält, dürften Chinas Städte in Bezug auf die Höhe der Löhne bald südliche EU-Staaten wie Griechenland und Portugal überholen. Westliche Kommentator sollten also demnächst lieber noch mal überlegen, ehe sie sich abfällig über „chinesische Löhne“ äußern.

Doch der Aufschwung beschränkte sich nicht auf die Städte. Auch in den Dörfern ist eine deutliche Verbesserung der Einkommenssituation zu verzeichnen. Betrug das jährliche Einkommen von Chinas Bürgern auf dem Land im Jahr 1990 nur knapp 690 Yuan, stieg dieser Wert im Jahr 2020 auf 17.130 Yuan. Dieser Anstieg des gesamtgesellschaftlichen Reichtums lässt sich in der Verringerung der Anzahl der armen Landbevölkerung nachvollziehen. Lebten im Jahr 1978 noch 770 Millionen Menschen auf dem Land in absoluter Armut (tägliches Einkommen von umgerechnet weniger als 2,3 Dollar), gelang es der KP, diesen Wert bis zum Ende des letzten Jahrs auf null zu senken. China hat die extreme Armut erfolgreich besiegt.

In den letzten 20 Jahren wurde zudem ein umfassendes Sozialversicherungssystem aufgebaut, das seit 2014 auch die schon unter Mao aufgrund des extrem niedrigen Entwicklungsniveaus eher benachteiligte ländliche Bevölkerung erfasst. Das Versicherungssystem umfasst fünf Säulen: Alters-, Kranken-, Arbeitslosen-, Arbeitsunfähigkeits- und Mutterschaftsversicherung. Die Beschäftigten selbst müssen nur für drei Versicherungen Beiträge leisten, nämlich für die Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung. Die anderen Versicherungen trägt allein die Unternehmerseite. Auch sind die Beitragssätze für die einzelnen Versicherungen nicht paritätisch oder gar zulasten der Beschäftigten wie in Deutschland, sondern Beschäftigte zahlen allgemein weitaus geringere Sätze als die Unternehmerseite.

Im Vergleich zu hochentwickelten Staaten weist Chinas Sozialversicherung noch viele Mängel auf. Jedoch wäre das eben ein sinnloser Vergleich; man könnte auch die Kompetenz von Erstklässlern und Universitätsabsolventen zur Beantwortung hochkomplexer gesellschaftlicher Fragen „vergleichen“. Im chinesischen Kontext stellen die Meilensteine der letzten Jahre enorme Verbesserungen dar. Zu Beginn der Volksrepublik, als China eines der ärmsten Länder der Welt war, bestand die Hauptaufgabe der chinesischen Sozialpolitik noch darin, sicherzustellen, dass alle Chinesen genügend Nahrungsmittel zur Verfügung hatten.

Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs haben sich auch die Bedürfnisse und Wünsche der chinesischen Bevölkerung entwickelt. Im Unterschied zu den oftmals dogmatischen Kräften, die die osteuropäischen sozialistischen Staaten anführten, spürt die KP Chinas den Puls der Bevölkerung und ist in der Lage, die Regierungspolitik entsprechend anzupassen. So erklärte die Partei etwa im Jahr 2017, dass der Hauptwiderspruch in China mittlerweile jener zwischen der ungleichmäßigen sowie ungenügenden Entwicklung und den ständig wachsenden Bedürfnis der Bevölkerung nach einem besseren Leben sei. Damit wurde eine Trendwende der chinesischen Politik kodifiziert, die bereits Mitte der 2000er-Jahre einzusetzen begonnen hatte, als die Regierung das alleinige Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung zunehmend durch einen die wirtschaftliche und soziale Entwicklung vermittelnden Entwicklungsansatz ersetzt hatte, der in den letzten zehn Jahren sogar zunehmend ökologische Probleme adressiert. Zudem wurde Ende der 2000er-Jahre ein neues, für Entwicklungsstaaten sehr fortschrittliches Arbeitsrecht verfasst. Der Staat begnügte sich jedoch nicht damit, es bei der Verkündung zu belassen, sondern leitete Massenkampagnen ein, um die Arbeiter über ihre neuen Rechte zu informieren und sie aufzufordern, diese bei Bedarf auch in Anspruch zu nehmen.

Gewiss: In China gibt es auch heute noch (relative) Armut, sowohl in den Städten als auch auf dem Land. Und natürlich gibt es auch einige sehr reiche Menschen. Diese relative Armut ist in China auch kein Geheimnis, sondern wird in Regierungsberichten als im weiteren Verlauf der Entwicklung zu lösendes Problem thematisiert und von chinesischen Forschern wissenschaftlich untersucht. Jedoch muss man eben die Entwicklungstendenz betrachten, und die ist für die gesamte Bevölkerung eindeutig positiv. Armut kann nicht einfach durch Wunschdenken und „linke“ Parolen beseitigt werden.

Es gibt einige westliche Beobachter, die wegen der Rolle des Marktes und des Privatkapitals anzweifeln, ob Chinas System tatsächlich noch sozialistisch ist. Werfen wir einen Blick auf die Struktur der chinesischen Wirtschaft. Im Jahr 2020 erwirtschafteten chinesische Staatsbetriebe 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und machten 60 Prozent der Marktkapitalisierung aus. Dabei gibt es verschiedene Formen von Staatseigentum: von riesigen Unternehmen, die direkt einer Kommission der Zentralregierung unterstehen, über mittlere Unternehmen, die von Provinzregierungen kontrolliert werden, bis hin zu Kleinstunternehmen, die von Gemeinden verwaltet werden. Neben diesem direkten staatlichen Sektor gibt es noch einen nicht zu vernachlässigenden genossenschaftlichen Bereich. Die Staatsunternehmen spielen insbesondere bei der Rohstoffgewinnung, in der Schwerindustrie, in der Energiebranche sowie in bestimmten Konsumgütersektoren (etwa bei der Autoproduktion) eine bestimmende Rolle. Zudem ist auch der ganze Finanzsektor fest in staatlicher Hand, der wiederum eine enorme Kontrollmöglichkeit über andere Wirtschaftszweige bietet. Von den 119 chinesischen Unternehmen, die von der Zeitschrift Fortune Magazine auf die Liste der 500 weltweit umsatzstärksten Unternehmen aufgenommen wurden, sind über 80 Prozent Staatsfirmen.

Neben der direkten wirtschaftlichen Kontrolle einzelner Unternehmen übt der Staat auch durch weitere Kanäle Einfluss auf die Wirtschaft aus. Zwar wurde im Zuge der Reformen ab 1978 die Kommandowirtschaft aufgegeben, jedoch hielt die KP daran fest, die wirtschaftliche Entwicklung planmäßig zu gestalten und sie nicht dem blinden Zufall der unsichtbaren Hand zu überlassen. Es werden immer noch makroökonomische Fünfjahrespläne mit konkreten Zielen aufgestellt, deren Einhaltung der Maßstab ist, an dem der Erfolg der Regierungspolitik gemessen wird.

Diese Ziele werden nicht im dunklen Kämmerlein diktiert, sondern unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse von den zuständigen Behörden vorgestellt und erst nach mehrmaligen intensiven Diskussionsrunden auf verschiedenen Ebenen beschlossen. So werden Jahre, manchmal Jahrzehnte im Voraus bestimmte Entwicklungsziele gesetzt, und der Staat mobilisiert anschließend alle zur Verfügung stehenden Kräfte, um diese Ziele zu verwirklichen. Dabei handelt es sich meist um Projekte zur Hebung des Lebensstandards der Bevölkerung, etwa die Verbesserung der Verkehrsanbindung entlegener Provinzen.

Beispielhaft ist zudem die staatliche Armutsbekämpfungskampagne ab dem Jahr 2013. Zu diesem Zweck bündelte der Saat riesige Ressourcen. Die Zentralregierung reservierte allein im Jahr 2019 ungefähr 13 Milliarden US-Dollar für Projekte im Rahmen der Armutsbekämpfung. Zudem mobilisierte die staatliche Entwicklungsbank Chinas 57 Milliarden US-Dollar für die Kampagne. Über 500.000 Mitglieder der KP Chinas wurden damit beauftragt, erstmals als Sekretär in einem Dorf zu dienen. Drei Millionen Kader wurden in unterentwickelte Gebiete geschickt. Im Westen wenig bekannt ist, dass im Zuge der Kampagne 1.800 Menschen ihr Leben opferten. Auch die planmäßige Unterordnung aller Privatinteressen unter die Bekämpfung der COVID-19-Pandemie im letzten Jahr, die sehr niedrige Todeszahlen sowie eine rasche Wiederherstellung des normalen Lebens ermöglichte, und die anschließende schnelle wirtschaftliche Erholung belegen, dass in China nicht Kapitalinteressen regieren, sondern der Staat systematisch zum Wohle der breiten Massen arbeitet.

Allein anhand rein ökonomischer Kriterien lässt sich also ein derart großer quantitativer Unterschied des staatlichen Einflusses in wirtschaftliche Aktivitäten feststellen, dass dieser einen grundlegenden qualitativen Unterschied zum westlichen, kapitalistischen Modell bewirkt. Kündigte jemand an, in Westeuropa oder den USA die Wirtschaftsstruktur nach chinesischem Vorbild umzustrukturieren, gingen Unternehmerkreise und konservative Kräfte sofort auf die Barrikaden, um – aus ihrer Sicht zu Recht – gegen die drohende Einführung des Sozialismus zu protestieren.

Doch es gibt noch weitere Faktoren, die dazu beitragen, dass in China ein Sozialismus – wenn auch in einem frühen Entwicklungsstadium – herrscht und kein Kapitalismus oder gar „Turbokapitalismus“. In China wird dem Kapital ein gewisser Freiraum geboten, aber diesem sind – im Kontrast zu den westlichen Staaten – klare Grenzen gesetzt. Abgesehen davon, dass die bestimmenden Kommandohöhen der Wirtschaft vom Staat und nicht von Privatmonopolisten gelenkt werden, hat die KP viele indirekte Mittel der Kontrolle über den privatwirtschaftlichen Bereich. Seit einigen Jahren etwa müssen Parteizellen in allen Unternehmen gegründet werden, in denen mindestens drei Parteimitglieder sind. Diese können sich zwar nicht direkt in die wirtschaftlichen Belange einmischen, aber die Aktivitäten des Unternehmens überwachen und bei Problemen diese an höhere Ebenen weiterleiten. Die Parteizellen spielen eine Rolle etwa bei der Sozialhilfe sowie zunehmend bei den, wie es im Jargon des Business English heißt, Human Resources und im Management.

Auch befinden sich die wichtigen Bastionen des, wie es in der marxistischen Fachsprache heißt, „Überbaus“ fest in der Hand der Partei: die staatlichen Institutionen, die Armee, die Sicherheitskräfte, die Medien, die Massenorganisationen. Darüber hinaus übt die Partei aufgrund ihres hohen Ansehens in der chinesischen Gesellschaft einen moralischen Druck auf alle Privatunternehmer aus. So wurde etwa auch das Privatkapital für die Armutsbekämpfungskampagne mobilisiert. Beispielhaft für die Stärke des Staates, der die Interessen der Volksmassen vertritt, ist, dass die staatlichen Aufsichtsbehörden im November letzten Jahres den geplanten Börsengang der Ant Group (einer Finanzplattform, die zur Alibaba-Gruppe des chinesischen Milliardärs Jack Ma gehört) verhinderten. Anschließend wurde eine Richtlinie verkündet, die den Aufsichtsbehörden größere Eingriffsmöglichkeiten in große Privatunternehmen im Technologiebereich ermöglicht. Im Dezember starten die Aufsichtsbehörden ein Kartellverfahren gegen die Alibaba-Gruppe, das in einer Strafe in Höhe von vier Prozent des Firmenumsatzes des Jahres 2019 (umgerechnet etwa 2,3 Milliarden Euro) resultierte. Die Partei lässt privatwirtschaftlichen Initiativen zwar gewisse Freiräume, verhindert aber aufgrund ihres enormen politisch-gesellschaftlichen Übergewichts, dass sich diese Einzelpersonen organisieren, gemeinsame Interessen vertreten und so als Klasse politisch handeln können. Der Trend in China weist eindeutig in die Richtung, dass das private Kapital gebändigt und in den Dienst der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung gestellt und so, wie man philosophisch sagen würde, „aufgehoben“ wird. Das ist freilich ein langer, teils widersprüchlicher Prozess.

Dieser Rahmen, in dem sich die chinesischen „Kapitalisten“ bewegen, bedeutet letztendlich, dass sie gar nicht vergleichbar sind mit ihren Kollegen im Westen. Wenn man eine Sache analysieren will, darf man sie nämlich nicht vereinzelt, herausgelöst aus ihrem Kontext untersuchen, sondern man muss sie so betrachten, wie sie in der Realität existiert, also mit allen ihren komplexen gesellschaftlichen Verbindungen. Daher ist es nicht zulässig, aufgrund der Tatsache, dass einige Chinesen über privates Kapital verfügen und sich bereichert haben, zur Schlussfolgerung zu gelangen, dass China ein kapitalistisches Land ist, denn dann vernachlässigt man den Kontext, in dem dieses Phänomen existiert, und der deutet eindeutig darauf hin, dass in China ein sich in der Entwicklung befindendes sozialistisches System vorliegt, das dem Wohle des Volkes dient.

Nach dieser Betrachtung der Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas und der aktuellen Lage können wir die eingangs aufgeworfene Frage beantworten, wodurch ihr Erfolg und die nachhaltige Unterstützung, die sie in der Bevölkerung genießt, zu erklären ist. Folgende Merkmale sind zentral, um dieses Mysterium zu entziffern: Die Partei hat Mechanismen etabliert, um begangene Fehler zu identifizieren und zu beheben, statt auf einem falschen Kurs zu bestehen, nur um das Gesicht zu wahren, was oftmals in den Ländern des traditionellen Sozialismus geschah. Zudem ist die Partei in der Lage, negative Entwicklungen möglichst frühzeitig zu beheben, noch bevor sie ernste Probleme erzeugen. Wesentlich für Begründung dieses problemorientierten Arbeitsstils war das Aufgeben eines engen ideologischen Ansatzes, der die Beibehaltung gewisser Glaubenssätze über die politische Praxis stellt. Das ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der Aufgabe des Marxismus als theoretisches Leitsystem, wie die Kommunistische Partei Chinas unermüdlich betont. Stattdessen entwickelt die Partei den Marxismus immer weiter und konkretisiert ihn unter Berücksichtigung der realen Verhältnisse in China. Im Mittelpunkt der politischen Praxis der Partei stehen die Bedürfnisse der einfachen Chinesen. Indem die KP Chinas ihre Lebenssituation von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag verbessert und eine Perspektive für die Errichtung einer modernen, sozialen und umfassend entwickelten Gesellschaft bietet, kann sie sich ihre Unterstützung sichern, wie die im ersten Teil des Beitrags zitierte Studie der Harvard University belegt.

Link zur Erstveröffentlichung auf RT DE: https://de.rt.com/meinung/120115-das-geheimrezept-fuer-den-erfolg-des-chinesischen-kommunismus-teil-2/

Dennis Simon ist Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes, Landesverband Berlin


Bild: Feierlichkeiten anlässlich des 100. Jahrestages der Gründung der KP Chinas in Peking
Foto: Li Xiang/XinHua
Quelle: www.xinhuanet.com