Weltanschauung & Philosophie

Lucien Sève – ein großer marxistischer Philosoph

Lucien Sève verstarb am 23. März 2020 im Alter von 93 Jahren an den Folgen einer CoViD-19 Erkrankung.

Die Freidenker in Deutschland werden den marxistischen Philosophen in dankbarer Erinnerung behalten. Sein Denken gab uns wesentliche Impulse zu unserer Wissenschaftlichen Konferenz am 28. April 2018 zum 200. Geburtstag von Karl Marx: „Individuum und Gesellschaft – Menschenbild und Persönlichkeitstheorie im Marxismus“ (siehe Freidenker 03-2018).

Wir ehren Lucien Sève mit der nachstehenden der Würdigung seines Werkes durch Georges Gastaud* (23. März 2020).

 

Lucien Sève war, was seine philosophischen und theoretischen Positionen betrifft, ein großer Denker der Persönlichkeit, der Subjektivität und der Bildung.

Als Erbe der materialistischen Psychologie von Leontjew, Wygotski, Politzer, Wallon und anderen marxistischen Psychologen entwarf Sève begriffliche Konzepte, die für eine vollständig wissenschaftliche Psychologie unverzichtbar sind („Marxisme et théorie de la personnalité“, 1968 – dt. „Marxismus und Theorie der Persönlichkeit“, 1972)**. Zugleich lehnte er spiritistische Vorstellungen und flachen Biologismus rundheraus ab (man denke nur an den schockierenden Artikel, der in der KPF-Zeitschrift „L’école et la nation“ unter dem provozierenden Titel „Les dons n’existent pas“ („Die Begabungen existieren nicht“) veröffentlicht wurde). Dennoch schöpfte sein nicht-reduktionistischer Materialismus den eigentlichen Raum der Subjektivität und eines diesbezüglichen Arbeitsvorhabens voll aus, indem er mit Hilfe von Yves Clot den Beitrag von Sigmund Freud integrierte, wenn nicht sogar den Existenzialismus in einer rationalisierten Form (siehe „Je, trajectoires marxistes sur l’individualité“ – „Ich, marxistische Gedankenflüge zur Individualität“).

So entstand ein objektiver marxistischer Zugang zur Subjektivität. Übrigens hat der Marxismus nichts von einem „Kasernen-Kollektivismus“ und man ist überrascht, wie oft das Wort Individuum in der „Deutschen Ideologie“, dem Frühwerk von Marx und Engels (1846) vorkommt, das die Rolle eines „Methoden-Diskurses“ des historischen Materialismus spielt.

 

Die menschliche Entfremdung auf eine völlig wissenschaftliche Weise zu denken (und folglich auch die Aufhebung der Entfremdung und den Kommunismus)

Bei dieser philosophischen Arbeit von unmittelbarer wissenschaftlicher Tragweite (ich denke an Sèves Überlegungen zur psychologisch strukturierenden Dimension der Zeitnutzung und ihrer gesellschaftlichen Verankerung) entwickelte Sève kraftvoll die allgemeine Reflexion über den logisch-kategorialen Beitrag von Marx und Lenin, insbesondere zur Dialektik antagonistischer und nicht-antagonistischer Widersprüche. Ob in dem kollektiven Werk „Lénine et la pratique scientifique” („Lenin und die wissenschaftliche Praxis“) oder in seinem umfassenden Werk „Une introduction à la philosophie marxiste“ („Eine Einführung in die marxistische Philosophie“), Sève erhellte auf subtile Weise die objektiven Beziehungen der materialistischen Dialektik mit der hegelschen Logik; sowohl gegen Garaudy als auch gegen Althusser, einst seine Parteigenossen, hat Sève meisterhaft gezeigt, dass es möglich ist, die menschliche Entfremdung (also auch die Aufhebung der Entfremdung und den Kommunismus) auf eine völlig wissenschaftliche Weise zu denken; wogegen der „theoretische Antihumanismus“ von Althusser den von ihm als idealistisches Überbleibsel behandelten Begriff der Entfremdung und den nicht weniger entscheidenden Begriff der Negation der Negation kurzerhand ablehnte, während Garaudy im Gegenteil glaubte, er könne den gesamten Marxismus auf der Grundlage einer idealistischen und mit Glaubensvorstellungen kompatiblen Konzeption der Entfremdung rekonstruieren. Dabei ging es um die Grundlegung eines wissenschaftlich fundierten kommunistischen Humanismus, der den roten Faden von Sèves Werk bildet.

 

Die Dialektik des Universellen und des Partikularen macht es möglich, das empirische Aufscheinen des Universellen in den historisch gegebenen Bedingungen zu konzipieren

Grundlegender noch, Sève zeigte auf der Grundlage einer genauen Lektüre von Marx, insbesondere des „Kapitals“ und der Texte zur ökonomischen Methodologie (insbesondere „Die Methode der politischen Ökonomie“ – MEW 13/631-633), dass die Dialektik des Universellen und Partikularen bei Marx eine solche Subtilität annimmt, dass sie es ermöglicht, das empirische Aufscheinen des Universellen in den historisch gegebenen Bedingungen zu konzipieren. Das ist die Auflösung der alten skeptischen Aporie, die es dem universellen Begriff verwehrt, die Bewegung und Vielfalt der empirischen Realität angemessen widerzuspiegeln. Die beidseitig produzierte Konvergenz, auf der Seite des Begriffs durch das, was Marx die Produktion eines „Gedankenkonkretums“ nennt, und auf Seiten der Realität durch das empirisch erfahrbare Entstehen des Universellen (so verkörpert u.a. beispielsweise die Ware, die das Geld eigentlich ist, empirisch das abstrakte Universelle des Tauschwerts) ermöglicht eine subtile Form des dialektischen Realismus (der marxistische Begriff der Widerspiegelung hat nichts „Grobschlächtiges“ an sich) und ermöglicht es, die platten und entmutigenden Aporien der heute vorherrschenden neopositivistischen Ontologie und Gnoseologie endgültig abzuweisen.

Bei diesem Thema werde ich allerdings auf eine in „La Pensée“ widergegebene Kontroverse über die ontologische Reichweite der marxistischen Philosophie eingehen, da Sève dazu neigt, die Philosophie von Marx auf eine gnoseologische, rein auf die Erkenntnis bezogene Funktion zu beschränken und so das philosophische Denken auf das Studium der Widerspiegelung der materiellen Gegebenheiten durch den Geist zu beschränken: Ist aber nicht diese mentale Reflexion selbst eine Funktion oder sogar ein Stadium der sich bewegenden Materie? Denn wenn die Beziehung zwischen Geist und Materie notwendigerweise der Materie eingeschrieben ist, diesem Absoluten (zumindest vom Standpunkt des Materialismus aus gesehen), dann ist die Materie in keiner Weise auf das geistige, kognitive Verhältnis, in dem sie zum Geist steht, beschränkt (die Materie kann existieren, ohne von einer geistigen Reflexion getragen zu werden, während das Gegenteil unhaltbar ist, ohne in Idealismus zu verfallen).

Weil die Reflexion letztlich ein „Moment“ der Materie im Entstehen ist, weil das Verhältnis zwischen Materie und Geist wirklich materiell ist, kann die Reflexion wiederum mit den objektiven Daten, die sie reflektiert, – wenn auch nur tendenziell – übereinstimmen, d.h. zu ihrer wissenschaftlichen Reflexion werden: Ein bisschen Kritizismus führt weg von der materialistischen Ontologie, viel Kritizismus umfasst eine historisch-dialektische Ontologie und sogar eine „Dialektik der Natur“, die heute auf zehntausend Arten in den Naturwissenschaften keimt. Kurz gesagt, die materialistische Ontologie und die Dialektik der Natur sind die Grundlage für eine kritische Annäherung an die Theorie der Erkenntnis (und ich würde hinzufügen : der revolutionären Praxis); in die entgegengesetzte Richtung zu gehen, die zentrale Dimension der materialistischen Ontologie zu verleugnen und Marx zu einer kritischen Gnoseologie oder einer Philosophie der Praxis zusammenzufassen, bedeutet also notwendigerweise ein Abdriften in Richtung eines „marxianischen“ Wiederauflebens des kantischen Idealismus oder in Richtung einer Form von existentialistischer und subjektivistischer Romantik.

Die wichtigsten Divergenzen zwischen Sève und dem Marxismus-Leninismus ergaben sich jedoch vor allem im rein politischen Bereich. In den 1960er und 1970er Jahren hatte Sève tapfer gegen die sukzessiven rechten Abweichungen gekämpft, die die organischen Philosophen der PCF verwirrt hatten; sie verwechselten „De-Stalinisierung“ und „De-Salinisierung“  (Entsalzung = Verwässerung), denn sie stammten fast alle aus der Rechten der sogenannten stalinistischen Periode.

 

Die eiserne Verachtung seitens der Universität und der von mir so genannten philosophisch herrschenden Lehre („Doxa“), außerhalb derer niemand Karriere macht oder Zugang zu den Medien hat

So hatte Sève gegen die Exzesse von Henri Lefèbvre, dann die von Roger Garaudy und schließlich die seines alten Kameraden von der Ècole Normale Supérieure (E.N.S.), Louis Althusser, gekämpft. Obwohl seine Argumentation gegen die drei genannten Persönlichkeiten von hoher Qualität war, brachte diese philosophische Verteidigung des dialektischen Materialismus und des Marxismus-Leninismus für Sève – von den Wohlanständigen für zu KPF- und SU-nahe befunden – nur die eiserne Verachtung von Seiten der Universität und dem, was ich die philosophisch herrschende Lehre („Doxa“) nennen möchte, außerhalb derer niemand Karriere macht oder Zugang zu den Medien hat. An der Universität wurde Sève in den 1970er Jahren entweder ignoriert oder bespottet, wenn er nicht geradezu als „theoretischer Polizist“ behandelt wurde, während Althusser auf der strukturalistischen Welle ritt und, weiter in der KPF verbleibend, seinen der damaligen „Tendenz“ geschuldeten halbherzigen Flirt mit maoistischen Studenten auskostete. Was Garaudy betrifft, so war sein Ansehen an der Universität gering, ebenso wie sein verschwommener und ausufernder Humanismus, aber er genoss dennoch eine breite Unterstützung in den Medien, da er auf der Grundlage einer antisowjetischen und anti-leninistischen Haltung Zwietracht in der PCF säte.

 

Die euro-kommunistische Wende

Leider hat Sève aus unserer Sicht die eurokommunistische und „renovatorische“ Wende der KPF sehr schlecht verkraftet, als seinerzeit die Führung dieser Partei, die von der Sozialistischen Partei unter Mitterand rechts überrollt wurde und intern vom rechten und pseudo-intellektuellen Flügel der KPF (nacheinander von Leuten wie Fizsbins, Elleinstein, Juquin, Fiterman, Martelli…) zerrissen wurde, es für sinnvoll hielt, theoretischen Ballast abzuwerfen, um sich, wie sie meinte, vor den unaufhörlichen antisowjetischen und antikommunistischen Kampagnen der 1970er und 1980er Jahre zu schützen. Die Führung der KPF hielt es also für klug, ihren Bezug zum Marxismus-Leninismus fallen zu lassen, anscheinend ihre historische Solidarität mit der KPdSU zu verleugnen und ihren grundlegenden Bezug auf die Diktatur des Proletariats aufzugeben (22. Partei-Kongress, 1976). Die Führung der KPF hat nie aufgehört, ihr Abwerfen von theoretischem Ballast als „innovativen“ Ansatz darzustellen, indem sie diejenigen korrumpierte und zensierte, die gegen den Strom in der KPF daran erinnerten, dass der Marxismus-Leninismus kein glänzender Basar ist, auf dem man sein Geschäft auf gut Glück macht. In Wirklichkeit hat die Marchais-Führung der KPF, getrieben von der Sozialdemokratie und deren „kommunistischen“ Relaisstationen in den eigenen Reihen, nacheinander die ideologischen Schutzwälle, die seit 1920 die Kommunistische Partei von der Sozialistischen Partei trennten, (aufgrund einer ideologischen Mischung aus romantischem Utopismus und europäischem Pragmatismus) gesprengt: denn leider schon lange vor dem Auftreten des schwächlichen Robert Hue wurden die revisionistischen Grundlagen der „Wende“ („Mutation“ ) gelegt, und das „mutierende“ Ballast-Abwerfen marxistischer Konzepte wirkte sich, wie der Autor dieser Zeilen seinerzeit vergeblich warnte, schließlich insofern zu Gunsten von Mitterrand aus, als die Menschen immer noch dem Original (einer klassischen sozialdemokratischen Partei) den Vorzug geben vor der Kopie (einer orientierungslosen und… desorientierenden KP).

 

Aufgeben der „Partei-Form“ des Kommunismus

Wie oft bei Philosophen, die von Berufs wegen in der Systematisierung von Positionen erfahren sind, wandte sich Sève dann zum ersten Mal in seinem Leben gegen die Führung der KPF, indem er die immer mehr anti-leninistische und antisowjetische Vision der „Erneuerer“ unter Führung von Roger Martelli, Guy Hermier und anderen noch radikalisierte. Wenn man an dem rosa Faden der theoretischen Pseudo-Erneuerungen zieht und man logisch und konsequent sein will, landet man plötzlich bei den letzten Konsequenzen: Im Gegensatz zu einem Marchais, der dachte, er würde „nur“ die Diktatur des Proletariats aufgeben, aber den Marxismus-Leninismus „behalten“, und der dann den Marxismus-Leninismus aufgab, aber meinte, er wolle den Sozialismus und den demokratischen Zentralismus behalten, und der sich dann auf späteren Partei-Kongressen im Nachhinein davon verabschiedete, verstand Sève sehr schnell, dass die Demontage des Marxismus-Leninismus nicht vollständig sein würde, ohne einen Bruch mit dem Kern des Leninismus, der Theorie der Partei der Avantgarde.

Nachdem er zuerst die sehr enttäuschende Entscheidung getroffen hatte, die von Marchais vorgeschlagene Aufgabe der Diktatur des Proletariats gegen Althusser zu verteidigen, überholte Sève von da an die KPF von rechts: Darin bestand eben seine theoretische Radikalität, die jedem Philosophen in guten wie in schlechten Zeiten eigen ist. Im Geiste der Konsequenz, der so bezeichnend für wahre Philosophen und andere Logiker ist, erkannte Sève sehr schnell, dass die notwendige Aufgabe der „Partei-Form“ des Kommunismus in der Praxis darauf hinauslief, eine Form von amorphem Bewegungsstreben („mouvementisme“) zu befürworten. Die Führer der KPF werden sich mit einem sanften Tod ihrer Partei, die durch die Vor-Mutation der Jahre 1976/1993 und die auflodernde Mutation der Jahre 1990/2000 völlig fade gemacht und ihrer revolutionären Schlagkraft beraubt worden ist, zufrieden geben, ohne allerdings formell so weit zu gehen – schon um nicht den Befürwortern einer leninistischen Renaissance der KPF das Feld zu überlassen. Und obendrein gab es dann noch einen massiven Exodus der radikalsten „Erneuerer“, die sich nie mit den Zugeständnissen der nationalen Parteiführung zufrieden gaben, und die für sie immer zu spät kamen.

Insbesondere Sève – der sich von Gorbatschow faszinieren ließ – wird nie den wirklich konterrevolutionären Charakter der geopolitischen Umwälzungen der 1990er Jahre verstanden haben. Auch angesichts der Anzeichen einer weltweiten Umwälzung, die in empörender Weise den Kapitalismus-Imperialismus zum Nachteil des Lagers der Arbeit und der Völker begünstigte, hörte er nie auf, die Sowjetunion anzuschwärzen, die stalinsche Periode vollständig zu kriminalisieren und schließlich den Leninismus selbst radikal zu relativieren. Man kann sogar traurig feststellen, dass er in der Interpretation der revolutionären Geschichte des 20. Jahrhunderts am Ende zu seinem ursprünglichen Gegner, zu der Garaudy-Rechten,  übergelaufen ist.

 

Immer den Kommunismus in den Mittelpunkt seines Denkens stellen

Doch im Gegensatz zu Garaudy – der in der theoretischen Bedeutungslosigkeit und in der historiographischen Verirrung landete – hat der intelligente Revisionist, der Sève auf dem gesellschaftspolitischen Terrain geworden war, nie eine Form des flachen Revisionismus hervorgebracht: Sève hatte das Verdienst, den Kommunismus (d.h. die Entwicklung der Solidarität unter den Individuen) stets in den Mittelpunkt seines Denkens zu stellen. Diesen Kommunismus, den die KPF von Marchais kaum noch erwähnt hat, die bestenfalls von „Sozialismus“ spricht; für Marx, Engels und Lenin hingegen muss der Sozialismus (und alle historischen Erfahrungen haben direkt oder im Umkehrschluss die Richtigkeit dieser Perspektive gezeigt), notwendigerweise jederzeit über sich selbst hinausgehen, um nicht Gefahr zu laufen, zu stagnieren und sich zurückzubilden, indem er auf die Perspektive der Aufhebung der Entfremdung in einer kommunistischen Gesellschaft ohne Klassen und ohne politischen Staat abzielt: Denken wir an Kuba, das auf dem Höhepunkt der dunklen „Sonderperiode“ nach dem Sturz der UdSSR nie aufgehört hat, die wirklich kommunistischen Prinzipien des Primats der Forschung, der völlig freien medizinischen Versorgung, der internationalen Solidarität und der Bildung für alle zu vertreten.

Der antidialektische Irrtum von Sève bestand also darin, unter dem verlockenden und scheinbar linken Angebot des „kommunistischen Ziels hier und jetzt“ die eiserne Notwendigkeit der sozialistischen Revolution zu leugnen – notwendig gerade, um den Aufbau des Kommunismus mit dem Ziel des „Absterbens des Klassenstaates“ wirklich in Angriff zu nehmen –: d.h. die Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse, die Enteignung der Kapitalisten, gefolgt von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Diktatur des Proletariats, das die neue Gesellschaftsordnung verteidigt, und die demokratische und wissenschaftliche Planung der Produktion und des Austauschs entsprechend den sozialen Bedürfnissen. Kurz gesagt, dieser angebliche Vorstoß zum Kommunismus hier und jetzt, begleitet von schönen Worten über eine inhaltlose „Selbstverwaltung“ (weil ohne die vorherige Enteignung des Kapitals) kam –  ganz gegen den Willen von Sève (der nie mit dem kommunistischen Ideal seiner Jugend brach)  – gerade zur rechten Zeit, um dem flachen Reformismus der „neuen“ KPF einen trügerischen konzeptuellen Anschein zu geben und ihre Beteiligung an Regierungen vor und nach Maastricht unter Mitterrand und Jospin unter dem  superroten Anstrich „des schrittweisen Vormarsches zum Selbstverwaltungssozialismus“ zu verschleiern. Das erinnert uns an Sèves logisch-dialektische Polemik gegen die Engels‘sche Idee eines revolutionären Qualitätssprungs, der notwendigerweise die aufeinanderfolgenden Phasen natürlicher und historischer Prozesse trennt: als ob sogar die Natur sich, um etwas zu gelten, zum „starken Reformismus“ bekehren müsste, der von dem großen italienischen „Erneuerer“ Enrico Berlinguer eingeführt wurde. Deshalb haben wir als offen marxistische Aktivisten, diesen inhaltsleeren Gegensatz von Sozialismus und Kommunismus schon vor langer Zeit verkürzt: Wir sprechen jetzt von Sozialismus-Kommunismus und in derselben Weise wie Marx und Lenin (immer wieder „Staat und die Revolution“ lesen!) betonen wir klar und deutlich den Zusammenhang von sozialistischer Revolution, Diktatur des Proletariats und kommunistischem Absterben des Staates, einschließlich des sozialistischen Staates. Im Grunde halten wir es mit dem Hinweis Lenins, dass alle bewussten Arbeiter ihren sozialistischen Staat verteidigen und gleichzeitig den sozialistischen Staat überwachen müssen. Wenn also ein wenig „Kommunismus“ von der „klassischen“ sozialistischen Revolution wegführt, bringt viel marxistischer und proletarischer Kommunismus dahin zurück. Alle diejenigen übrigens, die z.B. in Lateinamerika einige Zeit lang einen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ aufbauen wollten, der die Diktatur des Proletariats und die Entwaffnung der bewaffneten Konterrevolution umgeht, sind jetzt leider dabei, ihren Fehler zu ermessen und hoffentlich zu korrigieren.

 

Einer der größten konzeptionellen Denker dessen, was Jacquard*** „Menschhaftigkeit“ („humanitude“) nannte

Dieses philosophische und vor allem politische Abdriften hat jedoch das Riesenwerk von Sève nicht dahin gebracht, jegliches Interesse am marxistischen Denken über die Zukunft zu verlieren: Lucien Sève, wenig verankert in den Kämpfen der Gegenwart und nun losgelöst von der KPF und von jeder organisierten Rekonstruktion einer echten kommunistischen Partei, bleibt der große Denker, der er war, der sich für die Bioethik begeisterte und in allen Wissenschaften bewandert war, bleibt einer der größten konzeptionellen Denker dessen, was Jacquard „Menschhaftigkeit“ nannte; Ist doch Ausbildung der Menschlichkeit des Menschen in dynamischer Weise kaum noch zu denken, ohne sich auf ein kommunistisches Projekt zu beziehen, „worin“, wie es das Manifest der Kommunistischen Partei vorsieht, „die freie Entwicklung eines jeden der Schlüssel für die freie Entwicklung aller ist“ (MEW 4/482).

 

Das Werk von Sève bleibt eine wichtige Stütze für die Wiederbelebung einer dialektisch-materialistischen Herangehensweise an den Kommunismus in unserer Epoche

Ohne die politischen Abweichungen des späten Sève zu beweihräuchern, noch mit den wenigen schwachen Aspekten seiner allgemeinen Annäherung an die Dialektik und die Erkenntnistheorie zu hart umzugehen: Das Werk von Sève bleibt eine wichtige Stütze für die Wiederbelebung einer dialektisch-materialistischen Herangehensweise an den Kommunismus in unserer Epoche. Die Marxisten-Leninisten unserer Zeit müssen mit ihm umgehen wie Lenin mit Georgi Plechanow, dem bedeutenden russischen marxistischen Theoretiker, der dennoch in einem Schlüsselmoment der modernen Geschichte die falsche Entscheidung für den Menschewismus und die Ablehnung des Oktober 1917 traf: Mit einem Wort, wir müssen uns daran erinnern, dass Lenin schalkhaft gesagt hat: „Ein kluger Idealismus steht dem klugen Materialismus näher als ein dummer Materialismus“ (wobei für Lenin ein „kluger“ Idealismus ein „dialektischer“ Idealismus war und ein „dummer“ Materialismus ein „metaphysischer, unentwickelter, toter, grober, unbegreiflicher“  Materialismus – LW 38/263 /Anm.d.Ü.) Abgesehen davon, dass das philosophische, logische, wissenschaftliche und anthropologische Werk von Sève insgesamt fest und kreativ auf der Seite des Materialismus und der Dialektik steht. Je nach dem Verhältnis zu dieser Front des Kampfes muss das Werk eines Philosophen in erster Linie beurteilt werden, auch aus einer klugen politischen Sicht.

 

Sève wurde von der ersten globalen Pandemie im Kontext der todbringenden  kapitalistischen Globalisierung fortgerissen.

Wenn es stimmt, dass der gewiss hochbetagte Sève von der ersten weltweiten Pandemie im Kontext der todbringenden kapitalistischen Globalisierung fortgerissen wurde, zeigt dieser tragische Umstand umso mehr, wie sehr unsere Zeit genötigt ist, entweder theoretisch und praktisch für den Kommunismus Partei zu ergreifen oder sich einem Kapitalismus zu überlassen, dessen im Wesentlichen vernichtender Charakter von Sève in unseren angeregten Diskussionen mir gegenüber ohne weiteres eingeräumt wurde. Mehr denn je, Genosse Lucien, „(Sozialismus… und) Kommunismus oder Tod!“

 

Ein Verteidiger der französischen Sprache

Ich schließe mit dem Hinweis, dass Sève für mich auch ein Schriftsteller ist, sogar ein Stilist der philosophischen Sprache. Es war für mich eine große Ehre, als Sève, verärgert darüber, dass Frankreich von oben herab dem Alles-englisch ausgeliefert worden ist, der Vereinigung CO.U.R.R.I.E.L. (Collectif Unitaire Républicain pour la Résistance, l’Initiative et  l’Émancipation Linguistique), der ich vorstehe, die Ehre erwies, mit uns den anhaltenden Mord an unserer Sprache zu verurteilen, weil, wenn wir nicht aufpassen, damit die programmierte Ausrottung des gesamten philosophischen Erbes des Landes von Descartes, Diderot und Politzer droht.

Auf jeden Fall ermutige ich die jungen, offen kommunistischen und leninistischen Intellektuellen des PRCF ausdrücklich, mit kritischem Geist, aber auch mit Respekt und großer Aufmerksamkeit eines der größten marxistischen Werke unserer Zeit zu lesen, und ich verneige mich zum Schluss sehr traurig vor dem bewegenden Andenken an einen aufgeschlossenen und wohlwollenden Menschen.

 

Übersetzung aus dem Französischen: Klaus von Raussendorff

 

Anmerkungen

* George Gastaud (Jhg. 1951) ist Philosoph und Nationaler Sekretär des Pôle de Renaissance Communiste en France (kurz: PRCF, dt: Pol der kommunistischen Wiedergeburt in Frankreich) sowie Chefredakteur der Monatszeitschrift „Initiative communiste“. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter die umfangreiche Einführung in die Philosophie im Lichte der materialistischen Dialektik „Lumières communes, cours laïque de philosophie à la lumière du matérialisme dialectique „, Delga, 2016 (ISBN 978-2-37607-104-4).
Tome 1 : Philosophie et matérialisme dialectique, 508 p.
Tome 2 : Une approche dia-matérialiste de la connaissance, 305 p.
Tome 3 : Sciences et matérialisme dialectique, 510 p.
Tome 4 : Pour une approche marxiste de l’homme, 496 p.

** Von Lucien Sève sind außerdem auf Deutsch erschienen u.a.: „Über die materialistische Dialektik“, 1976 und „Marxistische Analyse der Entfremdung“, 1978.

***Albert Jacquard (1925 bis 2013), französischer Populationsgenetiker, Gesellschaftsphilosoph und populärwissenschaftlicher Autor, hat über fünfzig Bücher veröffentlicht, darunter „L’heritage de la liberte : de l’animalite a l’humanitude“,1986 („Das Erbe der Freiheit: Von der Tierhaftigkeit zur Menschhaftigkeit“).

 


Foto: Francine Bajande
Quelle: L’Humanité