Kultur & Kunst

Wa(h)re Filmkunst, Falsche Fälschung

Eine Polemik gegen den „wichtigen“ Film

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 2-13, Juni 2013, S. 18-21, 72. Jahrgang

von Hans-Günther Dicks

 

„Der Film ist für uns die wichtigste der Künste.“ So stand es in den 1970er und frühen 1980er Jahren auf großen Bannern neben der Leinwand bei den internationalen Filmfestivals in Moskau oder Taschkent, und mehr noch als durch dieses Zitat musste ich als junger linker Filmkritiker aus dem „Westen“ mich geschmeichelt fühlen durch die darunter genannte Quelle: Wladimir Iljitsch Lenin. Heute, beim Nachdenken über die Rolle der Filmkunst in 21. Jahrhundert, scheint mir klar: Der Satz auf den Bannern stimmt längst nicht mehr, er war schon in den 1980er Jahren nicht mehr aktuell. Das Filmschaffen der sozialistischen Länder, das zwischen den Bannern präsentiert wurde, schien nur wenig noch mit Lenins Ausspruch zu tun zu haben, dafür umso mehr mit dem Versuch, mit Hollywood-Imitationen den Weltmarkt zu erobern. Ohnehin hatte das Kino längst seinen Spitzenplatz unter den Bildmedien an das Pantoffelkino Fernsehen abtreten müssen. Also: Hier irrte Lenin? Nein, denn sein Ausspruch entstammt einem Gespräch im Februar 1922 mit Anatoli Lunatscharski, dem damaligen Volkskommissar für das Bildungswesen(!) des noch jungen Sowjetstaats. In einem Riesenland mit noch weitgehend analphabetischer Bevölkerung musste der durch Bilder und Musik unmittelbar verständliche Film als das Medium der ersten Wahl gelten.

Das Lenin-Zitat ist weitgehend bekannt, weniger bekannt ist die spätere Erklärung Lunatscharskis dazu in einem Artikel der „Komsomolskaja Prawda“: „Dass er (Lenin) bereit war, unter allen anderen Künsten dem Film den ersten Platz zuzusprechen, zeigt, dass er an der Kunst vor allem ihre gewaltige agitatorisch-propagandistische Kraft schätzte.“ Also was nun, Kunst oder Propaganda? Kino als Aufklärung für die tumbe Masse, als Waffe in der ideologischen Auseinandersetzung oder als Mittel schlichter Unterhaltung oder gar sozialer Besänftigung durch die „Traumfabrik“? Die Frage ist falsch gestellt, gerade so als gäbe es nicht Filme, die Kunst und Propaganda aufs beste vereinen! Filme wie Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925), „Die Stunde der Hochöfen“ von Fernando Solanas (1968) oder den unvergesslichen „Salt of the Earth“ (1954) von Herbert J. Biberman, deren revolutionärer Kraft die Herrschenden oft nur durch Verbote glaubten beikommen zu können! Die Bilder von der großen Treppe in Odessa, über die das hungernde Volk panisch vor den Kugeln der zaristischen Kosaken flüchtet, sind noch heute, fast neunzig Jahre nach dem Entstehen von Eisensteins Film, so eingebrannt in das kollektive Bildergedächtnis, dass sogar die Bierwerbung sich ihrer bedient. Es muss ihnen etwas eigen sein – nennen wir es das subkutane Element – das über den vermittelten Inhalt, die „Story“ oder die Information hinaus, richtiger vielleicht: unter diesen hindurch in unsere Wahrnehmung träufelt wie heilende Medizin – oder eben wie schleichendes Gift. Denn nicht zufällig zählte zu den Bewunderern des „Potemkin“ auch Joseph Goebbels, der den Propagandafilmen der Nazis nur zu gerne eine ähnliche Wirksamkeit verschrieben hätte. In den Filmen der Leni Riefenstahl oder den Durchhaltefilmen des Veit Harlan kann man beängstigend nacherleben, wie weit es ihm gelungen ist.

Von Goebbels stammt auch die Erkenntnis, dass Propaganda umso sicherer wirkt, je weniger sie als Propaganda erkennbar ist. Vieles aus den vorgeblich „unpolitischen Unterhaltungsfilmen“ der Nazizeit schlüpfte nach 1945 gerade deshalb durch die Maschen der alliierten Zensoren, die das deutsche Volk vom braunen Ungeist reinigen sollten – und so ganz nebenbei auch Leinwände frei machten für die jeweils eigenen filmischen „Botschaften“. Und da aus dem einstigen Alliierten im Osten nun der neue Feind geworden war, griff man auch hier zum alten Instrumentarium des Verbots. Allerdings erfand man, um das im Grundgesetz Art.5 festgelegte generelle Zensurverbot zu umgehen, ein „Gesetz zur Überwachung strafrechtlicher und anderer Verbringungsverbote“ (GÜV), mit dem das Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft (!!) noch 1963 Filme wie Eisensteins „Alexander Newski“ oder Jiri Krejciks „Das höhere Prinzip“ über den Terror der Nazis nach dem Attentat auf Heydrich verbieten konnte. Auf Importe aus westlichen Ländern fand das GÜV natürlich keine Anwendung.

Keine Frage also, auch die Feinde der Aufklärung haben die Möglichkeiten der Propaganda mit Bildern im Kampf der Ideologien sehr wohl erkannt. Sie begnügen sich nicht mit defensiven Verboten. Ihre Medien, allen voran das Fernsehen, setzen Themen, besetzen die Begriffe des politischen und kulturellen Diskurses.

Sie streuen oder verstärken mehr oder minder gezielt die Desinformationen, mit denen die Mächtigen ihre Weltdeutung allgemeinverbindlich machen möchten. Oder hat man in den TV-Nachrichten jemals etwas über das „Merkel-Regime“ oder das „Obama-Regime“ gehört? Solche Etiketten klebt man nur Regierungen im Iran auf oder – je nach politischer Wetterlage – in Ägypten oder Syrien. Ein Wort wie „Krise“ darf fallen, auch mal das Wort Banken- oder Finanzkrise, aber „Systemkrise“ kommt den TV-Analysten kaum über die Lippen. Und kann man noch daran zweifeln, dass unsere Demokratien mehr und mehr zu „Mediokratien“ geworden sind, wenn in Italien nach dem korrupten Medienzar Berlusconi nun ein Medienstar ohne politisches Programm wie der TV-Komiker Beppe Grillo mehr Wählerstimmen auf sich zieht als alle anderen Parteien? Das Massenmedium Fernsehen als Instrument der Volksverdummung? Wie anders soll man es nennen, wenn nach dem „Tod“ einer Figur aus der TV-Serie „Lindenstraße“ der WDR Anrufe von Zuschauern erhält, die sich um die frei werdende Wohnung bewerben?

Gewiss, Propaganda ist das nicht, subkutane schon gar nicht. Dazu eignet sich Fiktionales, also der Spielfilm weit besser, zumal dann, wenn der Boden dafür durch entsprechende mediale Sozialisation gut vorbereitet ist. Ein Kamerazoom auf eine Hakennase würde in einem heutigen Film höchstens Irritation auslösen – im Nazi-Film, auch dem „unpolitischen Unterhaltungsfilm“ denunzierte er ihren Träger zweifelsfrei als Juden. Wenn in Francis Coppolas „Apocalypse Now“ der Aufzug der Hubschraubergeschwader samt ihrer tödlichen Fracht mit der Musik aus Wagners „Walkürenritt“ unterlegt wird, verrät der fast fröhliche Marschtakt die kriegskritische Botschaft an den Effekt. In der nach 1989 losbrechenden Welle (west-)deutscher Komödien über die untergegangene DDR reichte schon ein Kameraschwenk durch eine Amtsstube, um beim dort – wie überall auf der Welt üblich – hängenden Porträt des Staatsoberhauptes allgemeines Gelächter im Kino auszulösen. Und dabei hat, anders als zur Nazizeit, kein Propagandaminister oder Reichsfilmintendant den Filmemachern solche Szenen ins Drehbuch geschrieben. Sie verwenden sie freiwillig, wenn auch vermutlich gedankenlos.

Aber, so höre ich schon die Einwände der Gutmeinenden, es gibt doch auch „fortschrittliche“ Filme, solche, die mutig Tabuthemen aufgreifen und Breschen schlagen wollen in die mediale Einheitsfront der Desinformation. Ja, es gibt sie, oder richtiger: Es gab sie, aber das ist lange her, ein paar Beispiele habe ich genannt. Doch hat vielleicht der Hunger nach solcher Filmkunst uns unseren kritischen Sinn vernebelt, so dass wir nur zu schnell bereit sind, Filme wegen ihrer „wichtigen“ Themen als fortschrittlich zu nehmen, die auf der subkutanen Ebene eher Rückschritt bedeuten. Ein Beispiel fällt mir ein, das in den 1980er Jahren unter Linken sehr kontrovers diskutiert wurde: der Spielfilm „Under Fire“ des kanadischen Regisseurs Roger Spottiswoode, mit Hollywood-Topstars wie Nick Nolte, Ed Harris, Gene Hackman und Jean-Louis Trintignant kassenträchtig besetzt und gedreht in Chiapas, Mexico. Er kam im Herbst 1983, gut vier Jahre nach dem Sieg der Sandinistas in Nicaragua, in die Kinos und erzählt von drei US-amerikanischen Kriegsreportern, die anno 1979 aus dem Krieg im Tschad nach Nicaragua gehen, weil sich dort, so hoffen sie, im Kampf der Sandinistas gegen Diktator Anastasio Somoza die spannenderen, also karrierefördernden „Stories“ für ihre jeweilige Redaktion ergeben.

Die Handlung, ein Mix aus Liebe, Krieg, Konflikt, Heldenpathos und Bewährung, ist auf den ersten Blick so banal wie hunderte von Hollywood-Stories. Kontrovers und darum hier erwähnenswert ist der Film, weil er den Konflikt zwischen Aufklärung und Manipulation zum Kernpunkt seiner Argumentation macht und zugleich selber vor ihm kapituliert. Die Hauptfigur, der Fotoreporter Russell Price (Nick Nolte), bekommt zwar nicht das ersehnte Interview mit dem Rebellenchef, aber wenigstens einen Fototermin mit deren Comandante Rafael. Allerdings muss Price, dessen professionelle Neutralität allmählich der Sympathie für die Freiheitskämpfer weicht, dafür sein Berufsethos aufgeben. Denn Rafael ist tot, gefallen im Kampf, was die Somoza-Propaganda weidlich auszuschlachten weiß, und Prices manipuliertes Foto des noch „lebenden“ Rafael soll den Rebellen einen propagandistischen Zeitgewinn sichern.

Zugegeben, „Under Fire“ zeigt, und das trug ihm rasch das euphorische Lob vieler Linken hierzulande ein, ein Bild des Somoza-Clans und seiner brutalen Soldateska, wie es bis dahin nicht zu sehen war; denn gewiss hatten die Medien vor 1979 das von den USA aus- und an der Macht gehaltene System nie als „Regime“ gebrandmarkt. Ein „wichtiges Thema“ ohne Zweifel, und darum ein „wichtiger Film“. Aber konnte man deshalb hinwegsehen über all das, was er an subkutanen Botschaften gleich mitvermittelte? Dass einmal mehr das Heil für die Welt aus God’s own country kam? Dass nicht die Kraft der solidarischen Massen, sondern allein die mutige Tat des Einzelnen die Geschichte bestimmt? Dass der edle Zweck eben jedes Mittel rechtfertigt und die Roten so fälschen wie die Schwarzen? Wie viele ähnliche Actionfilme konnte auch „Under Fire“ eine Spur von „Authentizität“ beanspruchen durch einen realen Vorfall: Am 20. Juni 1979 war der ABC-Reporter Bill Stewart von Soldaten der Somoza-Nationalgarde erschossen worden. Im Film steht für ihn der TV-Reporter Alex Glazier (Gene Hackman), dem Price die Freundin und Radioreporterin Claire (Joanna Cassidy) ausspannt und dessen Tod rechtzeitig den Weg frei macht für das unerlässliche, politisch-korrekte Happyend.

Vielleicht aber muss man noch viel radikaler fragen. Der Kritiker Klaus Kreimeier spricht in seiner Rezension zu „Under Fire“ vom „Imperialismus der Bilder-Industrie“. Sollen wir „Under Fire“ und ähnliche Filme als imperialistische Desinformation verdammen? Dagegen spricht nicht nur die medienpolitische Machtlosigkeit der Linken, sondern schon die Euphorie, mit der der Film auch dort begrüßt wurde; sein Finale mit Sieg und Sandinista-Hymne wirkte seinerzeit sicher unbewusst auch als Balsam für die wunde Kämpferseele. Auch kann man liberalen Filmemachern wie Spottiswoode ihre subjektiv ehrliche Motivation ebenso wenig absprechen wie den Versuch, durch attraktive Besetzung zu einem Publikum vorzudringen, das man – hier sind wir wieder bei Lenin! – vielleicht schon als „medial analphabetisiert“ bezeichnen kann. Also was tun? Mehr denn je sind wirklich linke Medienprojekte, wo es sie noch gibt, in kümmerliche Nischenprogramme abgedrängt; auch die billigere Technik und das Internet haben daran wenig ändern können. Aber statt zu resignieren sollte man öfter mal genauer hinsehen und hinhören und das subkutane Gift der herrschenden Medien aufspüren und denunzieren. Fortschrittliche Kulturmenschen fordern schon seit Jahrzehnten erfolglos, eine kritische Medienerziehung zum verbindlichen Schulfach zu machen. Das wird lange dauern. Doch wie wär’s inzwischen mit einem „shit storm“ aller Flatrate-Besitzer gegen jeden Sender, der das wirtschaftsliberale Credo der Mächtigen nachbetet oder deren verbale Nebelkerzen von „Demokratie“ versus „Diktatur“ weiter verbreitet?

Hans-Günther Dicks ist Mitglied des Landesvorstandes des DFV Berlin


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Bild: pixabay.com / User: geralt