Weltanschauung & Philosophie

Wissenschaft – Technik – Weltanschauung

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 2-15, Juni 2015, S. 10-15, 74. Jahrgang

von Horst Schild

[Beitrag auf der Konferenz „Zweifel und Kritik an Fortschritt, Wissenschaft und Technik“ am 08.10.2011 in Dresden]

 

Seinen in die Jahre gekommenen Galilei lässt Bertolt Brecht einem jungen Wissenschaftler gegenüber sagen: „Ich halte dafür, dass das einzige Ziel der Wissenschaft darin besteht, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu erleichtern. Wenn Wissenschaftler, eingeschüchtert durch selbstsüchtige Machthaber, sich damit begnügen, Wissen um des Wissens willen aufzuhäufen, kann die Wissenschaft zum Krüppel gemacht werden, und … neue Maschinen mögen nur neue Drangsale bedeuten. Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschritt von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, dass euer Jubelschrei über irgendeine Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte.“[1]

Galilei fügt dann selbstkritisch hinzu: „… ich überlieferte mein Wissen den Machthabern, es zu gebrauchen, es nicht zu gebrauchen, es zu missbrauchen, ganz wie es ihren Zwecken diente.“[2]

Der alte Traum der Menschen, durch fortschreitende Wissenschaft, Technik und Produktion ihn von materieller Not, Krankheit und Angst zu erlösen, er ist nur zum Teil Wirklichkeit geworden – und das auch zu Lasten der Verelendung vieler Menschen, ja vieler Völker.

Müssen wir also die Wissenschaft fürchten, Sorge vor ihren Resultaten, auch technischen Resultaten, haben? Sind gar die Wissenschaftler schuld, wenn ihre Erkenntnisse von eben diesen „Machthabern“ missbraucht werden? Liegt es denn aber an den Physikern, wenn noch immer die Menschheit von Atomwaffen bedroht wird, an den Chemikern, wenn unsere Nahrungsmittel gepanscht, ja vergiftet werden? Ist die Wissenschaft schuld am Hunger in vielen Ländern, an Wirtschafts- und Finanzkrisen, an Arbeitslosigkeit, an der Zerstörung der Natur? – Hat sie nicht vielmehr unzählige positive Ergebnisse hervorgebracht, die aus unserem Leben sich wegzudenken niemand wünscht? Hat sie nicht realiter beigetragen, die Mühseligkeiten unserer Existenz zu erleichtern, unsere Beweglichkeit zu steigern, unsere Lebenserwartung zu erhöhen, Krankheiten zu heilen? Sollten wir nicht deshalb die Wissenschaft loben, sie gar verteidigen? Vielleicht finden wir mit dieser Konferenz eine Antwort.

Friedrich Engels forderte von der Wissenschaft vor allem eine größere Unbefangenheit und Rücksichtslosigkeit, um in Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter zu sein. Auf der anderen Seite aber musste Karl Marx schon vor eineinhalb Jahrhunderte vorsichtig einschränken: „ Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft durch Verlust an Charakter. In dem Maße, wie die Menschheit die Natur bezwingt, scheint der Mensch durch andere Menschen oder durch seine eigene Niedertracht unterjocht zu werden. Selbst das reine Licht der Wissenschaft scheint nur auf dem dunklen Hintergrund der Unwissenheit leuchten zu können … Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der anderen Seite, dieser Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine handgreifliche, überwältigende und unbestreitbare Tatsache.“[3]

Wie aktuell das anmutet! Noch vor wenigen Jahrzehnten hatte man in den führenden kapitalistischen Staaten voller Euphorie erwartet, dass die Umwälzungen in Wissenschaft und Technik die Widersprüche der Gesellschaft auflösen oder wenigstens sichtbar abschwächen werden. Rationalität und Effektivität, soziales Engagement und Fortschritt wurden in den Massenmedien gepriesen. Davon ist heute fast nichts mehr übrig geblieben, und die Medien spiegeln meist das Gegenteil wider. Die vordem vorwiegend optimistische Bewertung der Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik ist einer abwägenden, skeptischen Beurteilung gewichen. Nicht selten wird eine Flucht ins Irrationale deutlich. Der Fortschritt und auch die Rationalität, auf die man noch gestern hoffnungsvoll setzte, werden ersetzt durch die Überbetonung moralischer Werte, ethischer Prinzipien und nicht zuletzt religiöser und spiritueller Besinnlichkeiten. Im „Unterschichten-TV“ dominieren Spaß und Klatsch, Belanglosigkeit, Sex und Horror – aufklärende, populäre Sendungen zu Ergebnissen und Möglichkeiten der Wissenschaft, kritisches Hinterfragen zur Ambivalenz ihrer Nutzung sind weitgehend Fehlanzeige. Wissenschaftliches Denken, ja bereits Nachdenken über Wissenschaft soll und darf halt kein Allgemeingut werden. Die „Machthaber“ wollen dies aus dem Bewusstsein der Masse eliminieren. Eine gebildete Nation besitzt im Wertekanon eben dieser „Machthaber“ offenbar keinen hohen Stellenwert.

Wir wollen selbstverständlich nicht übersehen, dass die skeptisch-abwägende Einstellung der Menschen zu den Möglichkeiten der Wissenschaft nicht nur medial vermittelt, sondern auch durch sich objektiv aktuell und potenziell vollziehende Prozesse bedingt ist.

Zum einen sind Wissenschaftler in der Regel nicht freiberuflich tätig, sind abhängig bezahlte Arbeiter, Arbeiter, die Aufträge erhalten und diese auch abrechnen müssen. Meist sind sie ohne nennenswerten Einfluss auf die Nutzung dessen, was sie entdeckt oder erforscht haben. Das obliegt primär ihren Auftraggebern – Konzernen, Regierungen, politischen und militärischen Allianzen. Mehr noch: Wissenschaftliche Arbeit, sichtbar nicht nur an ingenieurwissenschaftlichen Großforschungsprojekten, erfolgt in steigendem Maße arbeitsteilig. Steht nicht dann dem einzelnen Wissenschaftler im kapitalistischen Wissenschaftsbetrieb das „Produkt“ seiner Tätigkeit genauso als ein Fremdes gegenüber, wie dem Arbeiter in der materiellen Produktion dessen Produkt? Entfremdung also auch in der wissenschaftlichen Arbeit? Wir möchten es zumindest zur Diskussion stellen.

Zum anderen haben die bisherigen Produktionsweisen mit ihrer qualitativen und vor allem quantitativen Ausdehnung menschlicher „Herrschaft“ über die Natur, auch mit Hilfe bzw. unter Nutzung der Wissenschaft, zu einem Zustand geführt, der die Verletzlichkeit und Begrenztheit unserer Erde in nahezu dramatischer Weise sichtbar macht. Effektivität des Produzierens, Verteilens, Konsumierens, ja weitgehend die gesamte Lebensweise der Gesellschaft stellen heute vorwiegend quantitative Größen dar und haben sich in gewisser Weise zum Selbstzweck des Produzierens entwickelt. „Die Produktion produziert … nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt“, bemerkte Marx, „sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand.“[4]

In der kapitalistischen Gesellschaft sieht man diesen Zusammenhang sehr wohl, und man setzt alle Mittel ein, um stetig und immer schneller Bedürfnisse zu schaffen. Aber nicht x-beliebige Bedürfnisse, sondern solche, die den Verkauf nach sich ziehen.[5]

Genau darum ist der in der Welt herrschende Komplex Wissenschaft-Technik nicht von den Interessen des herrschenden Kapitalismus zu trennen. Der Mensch (als Individuum, als Müller, Meier, Schulze) hat in wachsendem Maße die Kontrolle über die wissenschaftlich-technische Entwicklung verloren. Hinzu kommt, wie Heleno Sana richtig anmerkt, dass die Herstellung immer neuer Produkte in immer kürzeren zeitlichen Abständen weitgehend überflüssig und sinnlos geworden ist und keine andere Funktion erfüllt, als die kapitalistische Dynamik in Gang zu halten.[6]

Man konnte unlängst einen Werbespot sehen, wonach jemand ein bestimmtes Auto nicht braucht, aber es will. Ein Produkt also, das man gar nicht braucht, ohne einen praktischen Gebrauchswert. Kann etwas die Absurdität kapitalistischen Wirtschaftens mehr verdeutlichen? Und noch etwas: Welche und wie viel Manipulation wird aufgewandt, um solch eine Einstellung zu erlangen. Vom Verschleiß an Ressourcen ganz zu schweigen.

Der seit der industriellen Revolution entstandene und entwickelte Homo consumens ist aber keinem Naturgesetz adäquat, er ist eine Schöpfung des kapitalistischen Systems[7] und wird mit diesem verschwinden. Er muss es auch, um unser selbst willen.

Mit dem Entstehen der großen Industrie wurde ein noch bis heute vorherrschender quantitativer Typ von Technik generiert, der letztendlich an die Vorstellungen der Massenproduktion und des Massenabsatzes gebunden war. Es ist nicht zu übersehen, dass eine exzessive Weiterverfolgung dieses Techniktyps zwangsläufig in die zivilisatorische Sackgasse führt.[8] Indes lassen die aktuellen Umbrüche im Zuge der als wissenschaftlich-technische Revolution bezeichneten Entwicklungen erkennen, dass sich ein qualitativ neuer Techniktyp herausbildet und bereits herausgebildet hat. Das aber hat u. E. außerordentlich weitreichende Konsequenzen für nahezu alle Bereiche des menschlichen Daseins.

Wir wollen Technik sowohl als materialisierten Handlungszweck begreifen als auch als Mittel von Tätigkeiten und Handlungen (evtl. auch als Handlung selbst?). Zugleich verkörpert die Technik von je her einen Kernbereich gesellschaftlicher Produktivkräfte. Eine Folgerung ist, dass mit der Genese des genannten neuen Techniktyps auch die Genese eines qualitativ neuen geschichtlichen Typs der gesellschaftlichen Produktivkräfte einhergeht – mit all ihren Potenzen und Chancen, aber auch Risiken und Gefahren. Die Hauptgefahr erwächst aus der globalisierten, auf rücksichtslose Profitmaximierung orientierten kapitalistischen Wirtschaft, die mindestens zu einer globalen Zivilisationskrise führen kann, oder schlimmstenfalls, um mit Rosa Luxemburg zu reden, geradewegs in die Barbarei. Die als „Humanaktionen“ getarnten Aggressionskriege um Rohstoffe (heute noch Öl, morgen vielleicht schon Wasser) und um politische Einflussnahme sind dafür nur ein sichtbares Indiz. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass die in der Welt herrschende Technik nicht von den Interessen des herrschenden Kapitalismus zu trennen ist.[9]

Die bisherige „historische Logik“ der Produktivkraftentwicklung kann, mit Bezug auf die Technik, als Abfolge der Übertragung qualitativer und quantitativer Momente menschlicher Tätigkeit, nämlich ihrer Grundfunktionen, auf vom Menschen geschaffene Dinge – die Technik – angesehen werden. Bei genauerer Betrachtung lassen sich drei Grundfunktionen menschlicher Tätigkeit unterscheiden, die jeden Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur kennzeichnen: stoffformende, energetische und informationelle. Frühere Umbrüche und Revolutionen im System der Produktivkräfte – so auch die klassische industrielle Revolution – zielten vorwiegend auf die Übertragung stoffformender und energetischer Funktionen. Erinnert sei an den Marxschen Vergleich von Hand- und Dampfmühle mit feudaler und kapitalistischer Gesellschaft. Gegenwärtig dominiert die Einbeziehung informationeller und kommunikativer Grundfunktionen, also die menschliche geistige Tätigkeit. Die Informations- und Kommunikationstechnologien stellen eine Objektivierung menschlicher Funktionen der Verarbeitung, Weiterleitung und Speicherung von Informationen sowie der Kommunikation dar. Der Computer, erst recht in Vernetzung, ist universell anwendbar. Damit aber findet der Prozess der Funktionsübertragung Mensch-Technik seinen qualitativen Abschluss. Ein Endpunkt ist oder wird erreicht. Das heißt natürlich nicht, dass damit auch quantitative Grenzen erreicht sind. Und es heißt auch nicht, dass der Mensch seiner Tätigkeitsfunktionen verlustig geht. Er behält sie natürlich, vielleicht nicht ganz in ihren ursprünglichen Dimensionen.

Wenn unterstellt werden soll, dass es außer den genannten keine weiteren qualitativen Grundfunktionen menschlicher Tätigkeit existieren, heißt das: Derzeit erleben wir mit Blick auf die hervorgebrachte Technik eine grundlegende Zäsur der Menschheitsentwicklung. Aus ihr ergeben sich Fragen nach den Triebkräften, Determinanten und Kriterien künftiger technischer Entwicklung. Sichtbar werden sie z. B. im Verhältnis menschlicher Tätigkeit und Technik als Mittel dieser Tätigkeit. Dieses Verhältnis kann charakterisiert werden, indem (neue)Technik immer auch eine Neuorganisation menschlicher Tätigkeit bewirkt. Man könnte deshalb die Geschichte der Menschheit – mit Sicht auf die gesellschaftlichen Produktivkräfte – auch als einen Prozess permanenter Neuorganisation menschlicher Tätigkeit interpretieren. Dabei umfasst Neuorganisation mindestens drei Aspekte: die Funktionsübertragung Mensch-Technik, die Funktionserweiterung für den Menschen (hier nicht der Grundfunktionen) sowie auch die Neuschaffung menschlicher Funktionen. Bisher wurde die Entwicklung durch den ersten Aspekt (der Übertragung) dominiert, die aktuellen Informations- und Kommunikationstechnologien und ihr Umgang mit ihnen drängen uns die Frage auf, ob nicht künftig der Aspekt der Rücknahme übertragener und damit zugleich der der Neuschaffung gewollter menschlicher Funktionen eine entscheidende Bedeutung erhält, weil sie zugleich eine Rückkehr zum Menschsein bedeuten kann. Warum will ich das betonen?

Ich möchte dazu die neuen Dimensionen der gegenwärtigen technischen Entwicklung und ihrer Komponenten kurz umreißen, ohne dabei auf Vollzähligkeit zu achten.

  1. Ausgehend vom menschlichen Vermögen zur Komplexitätsbewältigung haben wir es mit hyperkomplexen Systemen zu tun, mit inhärenten Tendenzen der Irreversibilität, aber mit Möglichkeiten des Entstehens nicht gewünschter Ordnungen und des Missbrauchs. Derartige Systeme sind mit tradierten Strategien nicht mehr ausreichend beherrschbar zu gestalten. Prononciert kann man von „Machbarkeit ohne Beherrschbarkeit“ sprechen. Bekanntlich sind komplexe Systeme und Prozesse dadurch gekennzeichnet, dass ihr Verhalten von einer größeren Anzahl von Einflussgrößen abhängt. Die Verflechtung der Systemelemente zu immer komplizierteren Strukturen geht einher mit einer wachsenden Vielfalt sich nicht wechselseitig determinierender Beziehungen der Elemente untereinander. Dadurch wird der Zufall wesentlich. Vorhersagen und Systembeschreibungen besitzen nunmehr Wahrscheinlichkeitscharakter, sind nicht mehr funktional-analytisch beschreibbar. Das hat Folgen für Sicherheit und Zuverlässigkeit, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, die sich aber tagtäglich belegen lassen.
  2. Die aktuellen und künftigen technischen Systeme dringen verstärkt in bisher verschlossene Dimensionen der Makro- und Mikrobereiche ein. Zugleich werden neue materielle Bewegungsformen und Strukturen für die technische Nutzung erschlossen. – Mobiltelefon, Biotechnik usw.
  3. Sowohl die kumulativ-quantitativen Prozesse der Technikentwicklung als auch das Entstehen qualitativ neuer technischer Systeme haben sichtbar dazu geführt, dass sich sozio-technische Mischstrukturen entwickelt haben und ausweiten, deren Dimensionen und Wirkungen nicht mehr vorrangig individuelle oder Gruppenbefindlichkeiten tangieren, sondern die soziale Organisation insgesamt betreffen. Sichtbar wird das für jeden an der weltweiten Vernetzung und etwa an der Dezentralisierung und Vereinzelung der Arbeitsplätze in Produktion und Verwaltung. Es wäre darum zwingend notwendig, die gesellschaftliche, technische bzw. sozio-technische Komplexität aus der Sicht des Einzelnen sozial und human-ökologisch zu gestalten und zu beherrschen. Diese Forderung übersteigt aber objektiv die Möglichkeiten kapitalistisch-imperial orientierten Wirtschaftens. Oder anders formuliert: Die Dimensionen technischer Entwicklung als Teil der Produktivkraftentwicklung stoßen an die Grenzen der Produktionsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, deren geopolitische, ökonomische und militärische Dominanz sich von Beginn an auf das gewaltige Potenzial seiner technischen Errungenschaften gründete.[10]
  4. Wenn diese letzte Aussage wahr ist, dann wird ein neuer, erweiterter Gestaltungsansatz zwingend notwendig. Technik (und selbstverständlich nicht nur sie) muss wieder menschlichen Wertmaßstäben unterworfen werden. Das erfordert zunächst die demokratische Einbeziehung neuer Akteure, neuer Subjekte. Und es muss weit über die bisherige Strukturiertheit der Wirtschaft, ja der Gesellschaft insgesamt hinausgehen.

Drastisch zugespitzt kann man formulieren: Unter den derzeitigen imperialistisch globalisierten, High-Tech-geprägten Verhältnissen besteht die grundlegende Frage darin, ob es gelingt, den Menschen weiter eine sichere Zukunft zu eröffnen, oder ob sich die Geschichte der Menschheit überhaupt schließt. Die Antwort darauf ist durchaus offen! Dennoch haben wir eine Chance, wenn wir die Anstrengung nicht scheuen, qualitativ neue Entwicklungsgesetze aufzudecken, auch wenn wir mit bisherigen geistigen und praktischen Entwicklungsmodellen brechen müssen.

Was können wir Freidenker als Teil einer Weltanschauungsgemeinschaft mit unserem bescheidenen personellen Potenzial dazu beitragen?

Tatsächlich ist die Suche nach Antworten zum Wesen künftiger Technik, zum „quo vadis“ des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts und den offensichtlich immer geringer werdenden Möglichkeiten, ihn im Rahmen eines tradierten mechanisch-rationalen, auf quantitatives Wachstum orientierten Denkstils beherrschen zu können, primär eine Herausforderung an Welt-Anschauung, an materialistisch-dialektische Weltanschauung. In ihr darf ein solch wichtiger und allgegenwärtiger Bereich wie die Technik nicht ausgeklammert werden. Darum sollten wir nach Wegen suchen, dem Bündnis von Wissenschaft und Weltanschauung, vom Natur- und Technikwissenschaftler mit dem Geisteswissenschaftler wieder Leben einzuhauchen. Beginnend mit dem Dialog, unsere Aufklärungsstrategie selbstverständlich einschließend.

Die technische Entwicklung muss nicht zwangsläufig mit dem Verlust des Menschlichen einhergehen. Die unstrittige Tendenz zur Entpersonalisierung und Anonymisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen als Folge der aktuellen technischen Entwicklung im Kapitalismus ist durchaus kompensierbar und auch partiell umkehrbar. Praktikable Vorschläge dafür können aber eben kaum allein vom engagierten Einzelwissenschaftler und Ingenieur oder gar vom Berufspolitiker erwartet werden. Gemeinsam aber sind sie nicht auszuschließen. Und zweifellos müssen sie erkämpft werden.

Einige bescheidene Ansatzpunkte für unser mögliches Diskussionsangebot will ich auflisten:

  1. Der Fortschrittsbegriff sollte wieder zu einer dominanten Kategorie des theoretischen Erfassens unserer heutigen Situation und künftiger Perspektiven der menschlichen Gesellschaft werden. Wir brauchen ein qualitativ neues Fortschrittsverständnis. Nicht etwa lediglich ein quantitatives.[11]
  2. Zu entwickeln ist ein neues Verhältnis zu einem theoretisch begründeten und vernünftigen Umgang mit unseren arbeits- und lebensweltlichen Grundlagen sowie mit und selbst.
  3. Wir brauchen das Verständnis für neue Entwicklungstriebkräfte, für neue Produktionsziele sowie für Mittel und Methoden der Komplexitätsbeherrschung, z. B. die gezielte Komplexreduktion.
  4. Insoweit jedwede Technik als eine sozio-kulturelle bzw. sozialökonomische Tatsache begriffen wird, die von der Natur „geborgt“ ist und damit der Naturgesetzlichkeit unterliegt, sollten wir die Problematik der Wirkungen (und Rückwirkungen), die Folgen also, ansprechen.
  5. Schließlich sind wir auch den ethischen Aspekten, vor allem dem Nach- und Vordenken über Sinnfragen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung verpflichtet. Ohne zu moralisieren, sollten wir über Strategien für eine humane Gestaltung und Nutzung der Technik nachdenken. Selbstverständlich, ohne von deren nötigen politischen Rahmen zu abstrahieren.

Dr. phil. habil. Horst Schild, Dresden, ist Referent des Verbandsvorstands des Deutschen Freidenker-Verbandes

 

[1] Brecht, Bertolt: Leben des Galilei. In: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1977, S. 104

[2] Ebd.

[3] Marx, Karl: Rede auf der Jahresfeier des „People’s Paper“ am 14. April 1856 in London. In: MEW, Bd. 12, S. 3f.

[4] Marx, Karl: Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Einleitung. In: MEW, Bd. 13, S. 624

[5] Vgl. Legay, Jean-Marie: Wer hat Angst vor der Wissenschaft? Leipzig/Jena/Berlin 1984, S. 125

[6] Siehe: Sana, Heleno: Macht ohne Moral. Die Herrschaft des Westens und ihre Grundlagen. Neue Kleine Bibliothek 93. Köln 2003 (zit. nach einem Internetauszug), S. 2. Als Statussymbole wurden die Kathedralen von einst längst von den Hochhäusern der Banken und Konzerne abgelöst, und das „Hosianna“ von ehedem musste dem „Sale!“ von heute weichen.

[7] Ebd.

[8] Die folgenden Ausführungen basieren auf: Schild, Horst / Zschaler, Bernd: Plädoyer für Technikphilosophie. Dresden o. J. (unveröff. Manuskript)

[9] Vgl. Sana, Heleno, a. a. O., S. 2

[10] Vgl. Sana, Heleno, a.a.O., S. 1

[11] So kann ein künftiger Sozialismus nicht einfach nur ein besserer Kapitalismus sein. Aber er muss besser sein als der Kapitalismus.


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   Horst Schild: Wissenschaft – Technik – Weltanschauung (Auszug aus FREIDENKER 2-15, ca. 340 KB)


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