Arbeit & Soziales

Der Abstieg von „Made in Germany“

Aspekte der Deindustrialisierung des imperialistischen Deutschlands

Redebeitrag auf der Konferenz des Deutschen Freidenker-Verbandes „Deindustrialisierung “ am 20. April 2024 in Retgendorf bei Schwerin

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 3-24, September 2024, S. 16-24, 83. Jahrgang

von Manfred Sohn

Zum Einstieg in das Thema mag es reichen, ein paar Überschriften aus Zeitungsartikeln vor allem der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung „ (FAZ), der „jungen welt“ (jw) und einiger anderer Zeitungen aus dem Zeitraum vom Dezember letzten Jahres bis zum April diesen Jahres zu zitieren:

  • Am 20. Januar 2024 titelt die FAZ in ihrer Rubrik „Unternehmen“: „BASF verfehlt eigene Erwartungen – Der Chemieriese schreibt eine weitere Milliarde Euro auf Anlagen ab. Anleger hoffen, dass es schlechter nicht mehr kommen kann.“
  • Dieser Galgenhumor speist sich aus der Stimmung, die einen Monat vorher, am 16./17. Dezember 2023, die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) so auf den Punkt bringt: „Nur wenig Zuversicht in der Chemiebranche – Teure Energie, Konjunkturflaute, leere Staatskasse – Die Stabilisierung des wichtigen Industriebereichs lässt auf sich warten.“
  • Hinter den diese beiden Blätter vor allem umtreibenden Sorgen der Anleger geraten andere, viel stärker besorgte Kreise leicht aus dem Blickfeld – immerhin meldet die FAZ am 7. Februar 2024: „Miele streicht 2700 Stellen – Die Nachfrage nach Haushaltsgeräten sinkt, die Kosten steigen, Besserung ist nicht in Sicht.“
  • 500 weitere Beschäftigte verlieren im sächsischen Freiberg ihre Arbeit, weil Anfang April dort die größte in Betrieb befindliche Solarmodulproduktion Europas geschlossen wird – Schlagzeile der jW am 18. Januar 2024: „Ein verspätetes Ultimatum – Solarpanels aus Sachsen gegenüber chinesischen nicht konkurrenzfähig. … Besitzer fordern Subventionen.“ Das hier angesprochene, an die Politik gerichtete Ultimatum beeindruckt nicht – die Arbeitsplätze sind futsch. In dem Artikel bringt der Autor Alexander Reich die Kernzahlen dieser Prozesse auf den Punkt: „Sonnenkollektoren aus der Volksrepublik (China – M.S.) seien in Europa oft genug zu einem Viertel der hiesigen Herstellungskosten erhältlich, erklärte der Firmenboss. Im Schnitt ist die Produktion von Solarpanels in Europa etwa doppelt so teuer, besagt eine Studie… Demnach sanken die Kosten für die Herstellung von Sonnenkollektoren im vergangenen Jahr in China um 42 Prozent. Von 26 Cent pro Watt Ende 2022 auf nunmehr 15 Cent pro Watt. In Europa bewegten sich die Produktionskosten derweil bei um die 30 Cent pro Watt. In den USA seien es 40 Cent, in Indien 22. Studienautor Huaiyan Sun geht davon aus, dass der Anteil der in China produzierten Komponenten für Solarmodule auf dem Weltmarkt noch jahrelang bei satten 80 Prozent liegen wird. Im Segment der fortgeschrittenen n-Typ-Zellen sogar bei 95 Prozent. Eine Marktmacht, die enorme Skaleneffekte mit sich bringt.“
  • Karl Wurzbacher resümiert die Pleitewelle, die diese Lage nicht nur im Bereich der Solarenergie, der Chemie oder der sogenannten weißen Waren, also Küchengeräte mit sich bringt, am 11. April 2024 in der jW so: „Rekord bei Firmenpleiten – Niedergang der deutschen Wirtschaft setzt sich fort. 1.297 Unternehmensinsolvenzen im März. Bevölkerung verarmt. Aussichten trübe.
  • Woran das Sorgenkind, die Chemieindustrie, der Deutschland über Jahrzehnte seine starke Stellung im Konzert der Industriemächte verdankte, vor allem leidet, faßt die FAZ am 8. Februar 2024 so zusammen: „Teure Energie belastet die Industrieproduktion – Die Chemieindustrie fällt auf das Niveau von 1995 zurück / Deutsche Energieerzeugung sinkt.“ Die Produktion der energieintensiven Branchen sei innerhalb nur eines Jahres um 10,2 Prozent gesunken – nach 7 Prozent im Vorjahr. In der Chemieindustrie summiert sich der Zweijahresrückgang auf 25 Prozent – noch fünf oder sechs weitere solche Jahre und die Branche ist faktisch verschwunden. Das, rechnet das Blatt vor, drohe vielen der energieintensiven Branchen neben der Chemie, also Metallerzeugung, Glasindustrie, Papierherstellung, Kokereien, Mineralölverarbeitung – insgesamt gemessen an der Wertschöpfung 16 Prozent der gesamten Industrie.
  • Folge: „Conti streicht 7.150 Stellen“ – so der Titel der FAZ vom 15. Februar 2024 zur Entwicklung des traditionsreichen Reifenherstellers in Hannover.
    In den Sog der Entwicklung gerät mehr und mehr die Autoindustrie, dem bisherigen Kronjuwel der Wirtschaftskraft von „Made in Germany“. Die „Hersteller in Europa werden Marktanteile verlieren“, titelt die FAZ am 31. Januar 2024 über die ganze Seite einer ausführlichen Analyse und nimmt dabei auch den deutschen Platzhirschen VW ins Visier einer düsteren Zukunftsaussicht: „… Volkswagen … gehört … zu den Unternehmen mit schwindenden Aussichten auf Erträge.“ Das Unternehmen habe es „nicht geschafft, sich einen Kosten- und Technologiefortschritt zu erarbeiten.“ Daher bestehe das große „Risiko, trotz hoher Investitionen nie einen Euro zu verdienen.“ Die Innovationstreiber säßen inzwischen nicht mehr in Europa, sondern in China oder bestenfalls noch Kalifornien, vor allem aber fehle eine konkurrenzfähige Batterieindustrie: „In Europa fehlt das Knowhow für die kostengünstigen LFP-Zellen aus Lithium-Eisenphospat, mit denen mittlerweile alle Chinesen arbeiten, und damit entsteht schon einmal ein struktureller Nachteil bei den Kosten.“
  • Das Gesamtergebnis faßt die FAZ am 16. Januar 2024 so zusammen: „Deutschland fällt zurück – Hohe Preise, Energiekosten, geopolitische Spannungen: Die deutsche Wirtschaft ist im vergangenen Jahr geschrumpft und verliert im internationalen Vergleich an Boden.“
  • Im Lager der Unternehmen breiten sich angesichts dessen Fluchtgedanken aus: „Ich will diese Regierung nicht mittragen“, stöhnt in einem auf mehr als einer halben Seite ausgebreiteten „Unternehmergespräch“ der Geschäftsführer des Autozulieferers Nass Magnet am 4. März 2024 in der FAZ und kündigt an, in Zukunft lieber im Ausland investieren zu wollen.
  • Isabel Schnabel, Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB) warnt in der FAZ vom 17. Februar 2024 vor einer „Krise der Wettbewerbsfähigkeit“ im gesamten Euro-Raum und sorgenvoll beantwortet die FAZ auf fast einer ganzen Seite am 10. Februar 2024 die im Titel selbst gestellte Frage „Verliert Deutschland seine Industrie?“ im Kern mit einem resignierten „Ja“, verweist auf den Verlust von 61.000 Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe seit 2018, hofft aber, daß man die Arbeitskräfte „in anderen Branchen sinnvoll einsetzen“ könne.
  • Nach dem schon so gut wie sicheren „Aus“ für die deutsche Chemieindustrie und vor dem drohenden Absturz der deutschen Autoindustrie gerät im Frühjahr 2024 vor allem die Stahlindustrie in den Fokus der Strudelanalysten. Das sei „Ein heißes Eisen“, befindet die FAZ am 17. Februar 2024. Zwar unterstütze die Bundesregierung die Stahlhersteller bei der Umrüstung auf Wasserstoff, aber „manche Ökonomen“ seien „skeptisch, ob „Grüner Stahl Made in Germany“ tatsächlich eine Zukunft habe. Der Spagat sei anspruchsvoll: „Wenn Thyssenkrupp heute Brammen herstellt, also die tonnenschweren Stahlriegel, die etwa zu Blechen für die Automobilindustrie weiterverarbeitet werden, beträgt der Anteil der Energiekosten an den Produktionskosten für eine Tonne Stahl nach Unternehmensangaben 5 Prozent. Nach der grünen Transformation könnten es bis zu 50 Prozent sein.“ Wie das ohne dauerhafte Staatssubventionen leistbar sein solle, wisse zur Zeit niemand. Derweil marginalisiert sich dieser frühere deutsche Musterknabe im Weltmarkt weiter: „Der weltweit größte Stahlkonzern ist das chinesische Staatsunternehmen Baowu. Es produziert 130 Millionen Tonnen Stahl im Jahr… Zum Vergleich: Deutschland produzierte im vergangenen Jahr mickrige 35 Millionen Tonnen. Selbst der fünftgrößte Stahlhersteller Chinas produziert mehr.“
  • Dem ersten deutschen Stahlhersteller, dem die Luft ausging, war gleichzeitig der traditionsreichste: „Thyssen-Stahl vor harten Einschnitten“ titelte die FAZ am 13. April 2024 und meldete, die Produktion solle verkleinert und es sollten „vermutlich Tausende Stellen gestrichen werden“. Wirtschaftsminister Habeck, heißt es dort weiter, „bedauert die Entscheidung“. Kein Wunder: Noch im Juli 2023 hatte er vor laufenden Kameras freudestrahlend einen Förderbescheid über zwei Milliarden Euro überreicht – der Deal war so konstruiert, daß die Zuschüsse erhalten bleiben und sogar an einen künftigen Käufer von Thyssenkrupp übergehen, wenn es dabei bleibt, daß mit dem Geld der alte Hochofen durch eine sogenannte Direktreduktionsanlage ersetzt wird, in der dann Gas, später vielleicht auch Wasserstoff anstelle von Koks benutzt wird, um den Stahl zu kochen. Das freut vor allem den tschechischen Investor Kretinsky, der laut FAZ vom 27. April zunächst 20 Prozent, später die Mehrheit des Unternehmens übernehmen will. Das Risiko, daß diese 2 Milliarden am Markt ergebnislos verpuffen, tragen nicht mehr die Thyssens, Krupps und Nachfolger, sondern die Krauses, die mit ihren Steuergroschen die Kassen des Staates gefüllt haben, aus denen die zwei Milliarden fließen.
  • Klar ist: An allem ist der Chinese schuld – und der Russe, der ihm hilft. Eine ganze Seite widmet am 11. März 2024 die FAZ unter der Rubrik „Die Ordnung der Wirtschaft“ einen Artikel unter der fordernden Überschrift „Wirtschaftspolitik als Waffe“, dem sie quer über die ganze Zeitungsseite sinnigerweise das Foto eines gerade untergehenden Handelsschiffes voranstellt. „Angesichts der Umbrüche in der Weltwirtschaft“ müssten „Deutschland und die EU ihre Handelspolitik stärker an Sicherheitsinteressen ausrichten“, fordern die beiden Autoren und konkretisieren, es müssten – „notfalls außerhalb des WTO-Rechts… raschere und vorhersagbare Sanktionsentscheidungen ermöglicht werden.“ Fast beschwörend klingt es, wenn die FAZ am 9. April über den Besuch der US-Finanzministerin Janet Yellen in China mit den Worten berichtet „Yellen fordert Peking zum Umdenken auf“ und die „Schwemme von Billigstahl auf dem Weltmarkt“ beklagt, die „den Industrien in anderen Ländern schwer geschadet“ habe. Das wiederum kennzeichnet Wolfgang Pomrehm in der jungen Welt vom 6./7. April 2024 zu Recht als „kolonialen Katzenjammer“ und stellt fest: „… seitdem es nicht mehr hauptsächlich die alten Industrienationen sind, die im Rest der Welt ihre Waren absetzen und die lokalen Industrien niederkonkurrieren, gibt es im Westen eine Renaissance der Zölle“.

Wie erwartet zog die US-amerikanische Regierung rasselnd im Mai die Zugbrücken in ihrem Land nach oben und löste vor allem in Europa eine mittlere Panik aus, als sie die Erhöhung des Zollaufschlags auf Elektroautos aus China von 25 auf 100 Prozent, Halbleiter auf 50 Prozent und auf Stahl, Aluminium, Solarzellen, Hafenkräne und Medizinprodukte ebenfalls von rund 7,5 Prozent auf in der Regel 25 Prozent verkündete[1]. „Flutet China die EU mit E-Autos?“ fragte die FAZ denn auch am Tag danach und verallgemeinerte die Lage der europäischen Industrie in der Formulierung „USA oder China – die EU in der Klemme“.

Der hier schlagzeilenartig zusammengefasste Trend aus der Jahreswende 2023/24 hat sich zum Sommer 2024 hin nicht nur nicht abgeschwächt, sondern eher vertieft und chronifiziert.

„Chemie ohne Basis“, titelte die FAZ am 15. Mai 2024 und rechnete vor, wie illusionär die Zielsetzung sei, das „Herz der chemischen Industrie“, die Aufspaltung von Erdgas oder Erdöl in Ethylen und Prophylen als den Grundbausteinen unzähliger chemischer Produkte wie Folien, Schäume, Kleber, Dämmmaterial, Textilgewebe usw. usf. statt mit Gas mit Strom zu betreiben. Die vor allem dafür von der chemischen Industrie insgesamt benötigte Strommenge würde sich bis zum dem politisch gesetzten Zieldatum 2050 „auf 685 Terrawattstunden im Jahr erhöhen – sie würde dann mehr Strom verbrauchen als heute das ganze Land.“ In dieser Rechnung ist der Hunger der Stahlindustrie und anderer energieintensiver noch nicht einmal enthalten. Das billige Gas aus Russland, das eine Brücke in die Zukunft bilden könnte, fließt nicht mehr – am 18. Mai berichtet die FAZ ausführlich über „Die neue Welt des teureren Gases“ und stellt fest, dieser Energieträger sei zwar nicht mehr so teuer wie „im Krisenherbst 2022“, hätte sich aber eben stabil auf einem Preis eingependelt, der für die Verbraucher, die mit Gas heizen, grob eine Verdoppelung gegenüber dem ersten und zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts bedeutet – mit entsprechenden Sparzwängen für alle anderen Konsumbereiche.

Gesamtergebnis: „Konjunktur ohne Schwung“ titelt die FAZ am 24. Mai und zitiert den Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Martin Wansleben, der von „alarmierenden Anzeichen einer schrittweisen Deindustrialisierung“ spricht und vor einer „Verschärfung des Handelsstreits mit China“ warnt – „Politisch brächen die Dämme, dies sei ‚brandgefährlich‘. Deutschland werde die Zeche zahlen“, endet der Artikel.

Das Wesen dieses Deindustrialisierungsprozesses

Was ist das Wesen dieses bevorstehenden Dammbruchs, der die industrielle Basis des 85-Millionen-Volkes zwischen Rhein und Oder, Nordseeküste und Alpenrand wegzuspülen droht?

Im Vorwort seines Werkes „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ hat Karl Marx 1859 formuliert:

„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. … Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann…“[2]

Auffallend an diesem vielzitierten Text ist, daß der Begriff der „Gesellschaft“ hier nicht näher erläutert wird. Was der Autor unter „Gesellschaft“ versteht, erhellt sich allerdings durch einen Verweis gleich zu Beginn dieses Vorworts: „Eine allgemeine Einleitung, die ich hingeworfen hatte, unterdrücke ich, weil mir bei näherem Nachdenken jede Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate störend schien…“[3]. Dieser „hingeworfene“ Text ist aus seinem handschriftlichen Nachlass zum Glück erhalten und in ihm spricht Marx hinsichtlich der „Methode der politischen Ökonomie“ von einem „gegebenen Land“, das mit dieser Methode zu analysieren sei. Der Bezugsrahmen dieses Ende der 1850er Jahre entstandenen Textes ist also national, nicht global.

An den Grundstrukturen dieses Gedankens und der von ihm reflektierten tatsächlichen Prozesse ändert sich aber nichts. Das, was heute als „Deindustrialisierung“ hierzulande sichtbar wird, ist bezogen auf Deutschland der nationale Ausdruck der sich heute global entfaltenden „Epoche sozialer Revolution“ und bezogen auf den Überbau in Deutschland der Beginn der „Umwälzung des ganzen ungeheuren Überbaus“.

Diesen Zusammenhang nicht zu sehen, verblüfft in Deutschland auf den ersten Blick. Denn hier ist der zitierte Absatz von Marx für 40 Jahre praktisch allen Ökonomen und Gesellschaftswissenschaftlern vermittelt worden. Das erklärte Ziel der Regierungspartei im sozialistischen Teil Deutschlands war es von 1949 bis 1989, in der Entwicklung der Produktivkräfte den westlichen, kapitalistischen Teil zu überholen. Daß das nicht gelungen ist und letztlich zum vorläufigen Scheitern des Sozialismus auf deutschem Boden geführt hat, hat im Wesentlichen zwei Ursachen. Beide werden deutlich an den heutigen Prozessen in China, das sich eben anschickt, nicht nur, wie es in der DDR lange propagiert wurde, an das vom Westen erreichte „Weltniveau“ heranzukommen, sondern selbst die Maßstäbe für Weltniveau zu bestimmen. Der erste Fundamentalprozess ist oben anhand einiger nackter Zahlen beschrieben: Innovationen, deren Investitionskosten sich in der DDR nur auf einen Markt von 17 Millionen Menschen oder, wenn innerhalb des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) ausgerollt, auf einen von gut 250 Millionen umlegen ließen, lassen sich innerhalb des chinesischen Marktes auf 1,4 Milliarden Menschen umlegen – in beiden Fällen Exporte ins kapitalistische Ausland außen vor gelassen.

Neben diesen Skaleneffekten gibt es einen zweiten Faktor, der noch viel gravierender ist. Am 25. Januar 2024 berichtete die FAZ von einer Umfrage der deutschen Handelskammer in Peking unter Unternehmen im chinesischen Markt. Mehr als die Hälfte geht danach davon aus, daß „chinesische Unternehmen in den kommenden fünf Jahren zum Innovationsführer ihrer Industrie werden. Insbesondere gilt das für die Autobranche, in der die Elektroautohersteller den Markt längst dominieren. … Ulf Reinhardt, Kammervertreter für Südchina, ergänzte: ‚Es ist nicht unsere Geburtsrecht, Marktführer zu sein‘“.

Was den RGW-Staaten beispielsweise mit dem „Sputnik-Schock“, also der Entwicklung von Langstreckenraketen, nur punktuell gelang – die technologische Führerschaft zu übernehmen – gelingt der von der chinesischen KP geleiteten Volksrepublik China zunehmend auf breiter industrieller Front. Das ist das eigentlich Bahnbrechende unserer Zeit und der tiefere Grund für den Abstieg der Marken „Made in Germany“.

Es würde den Rahmen dieses auf den deutschen Niedergang fokussierten Aufsatzes sprengen, anhand der chinesischen Verfaßtheit die Gründe für dieses historische Überholmanöver zu benennen. Nur sehr grob skizzenhaft sei das hier angelehnt an das Marx-Zitat aus dem Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie angedeutet: Die in China nach intensiven, oft quälenden Debatten, Irrungen und Wirrungen und vor allem inspiriert durch die „Neue Ökonomische Politik“ (NÖP) Lenins, aber auch – hierzulande oft vergessen – durch das „Neue Ökonomische System“ (NÖS) der DDR zu Zeiten der Führung von Walter Ulbrichts gefundene Entwicklung des Sozialismus beinhaltet in seinem Kern eben gegenüber dem hiesigen Kapitalismus andere „Eigentumsverhältnisse“. Es gibt keinen Grundbesitz an Grund und Boden und alles Privateigentum an Produktionsmitteln ist lediglich vom Staat geliehenes Privateigentum, was bei Mißbrauch wieder entzogen wird. Die den hiesigen Kapitalismus lähmenden „Fesseln“ sind abgestreift, die für eine Übergangszeit ihm noch innewohnenden „Entwicklungsformen der Produktivkräfte“ – also vor allem das Interesse an Bereicherung – bis zur Erreichung der nächsten Etappe der Entfaltung der Produktivkräfte beibehalten. Das ist im Grunde der ganze Drops.

In gewisser Weise holt die Herrschenden jetzt das ein, was Karl Marx und Friedrich Engels 1848 im „Kommunistischen Manifest“ hinsichtlich der damaligen Fähigkeiten der die Welt erobernden Bourgeoisie an die Wand malten: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt…“[4] Mit rein wirtschaftlichen Mitteln wird eine Abwehr der überlegenen Technologie in einer weltweiten verflochtenen Ökonomie genau wie damals ein Ding der Unmöglichkeit sein.

Die Umwälzung, die sich vor unseren Augen vollzieht, führt hierzulande zum Teil zu Rollen rückwärts, zum Teil zu Reaktionen, die man kindisch nennen müsste, wenn das nicht eine Beleidigung aller Kinder darstellen würde. Arnd Franz, Chef des auf Kolben, Zylinder und Ventile spezialisierten Autozulieferers Mahle, fordert angesichts der Schwierigkeiten der deutschen Hersteller, sich im Elektroautomarkt durchzusetzen, am 12. März 2024 in der FAZ, „das vollständige Verbot für Fahrzeuge mit Verbrenner“ aufzuheben und zeigt sich optimistisch, daß auch in dieser Frage „sich die Mehrheitsverhältnisse durch Wahlen verändern lassen.“

Trotzig dagegen in derselben Zeitung am 29. Februar ein Herr Simon, „Gründer und Ehrenvorsitzender der weltweit tätigen Unternehmensberatung Simon-Kucher“, ein weltbekannter Mann also, der mault: „Deindustrialisierung ist ein Reizwort. Ich bin der Meinung, dass wir eine angemessene Deindustrialisierung brauchen und diese nicht verhindern sollten.“ Unter anderem begründet es das damit, daß „energieintensive und stark umweltbelastende Industrien … nicht nach Deutschland (gehören), für sie gibt es geeignetere Standorte.“ An die Stelle der schon in der Vergangenheit verschwundenen Branchen Textil, Bergbau und Kameras seien auch „andere zukunftsgerichtete Sektoren“ getreten und das werde auch in Zukunft so bleiben.

Der gute Mann übersieht völlig, daß diese Verlagerung der genannten Branchen in Billiglohnländer[5]unter dem Zepter der Monopole der USA und damaligen EWG geschah, das Zepter aber weiterhin in diesen Zentren geschwungen wurde. Genau das ist in der jetzigen Zeit anders – bis hin zu Überlegungen, den in China errichteten Töchtern deutscher Konzerne so viele unternehmerische Selbstständigkeit einzuräumen, daß sie sich in der Perspektive zu chinesischen Unternehmen mit deutscher Herkunft entwickeln wie sich ja auch heutige US-amerikanische Unternehmen zum Teil auf ihre deutschen Ahnen berufen und damit ihre kleinen historischen Unternehmenskabinette schmücken ohne noch auf Berliner oder Dortmunder Kommandos zu hören.

Irrwege, Sackgassen und Perspektiven für „Made in Germany“

Die zweitausendzwanziger Jahre stellen für die 85 Millionen Menschen zwischen Rhein und Oder, Nord- und Ostsee-Küste und Alpenrand eine Wegscheide dar. Sie werden aus ihnen ökonomisch und politisch anders raus- als reinkommen. In diesem Jahrzehnt, so zeichnet sich kurz vor Mitte dieser Periode ab, verdichtet sich der Prozess der Korrektur von 500 Jahren Kolonialgeschichte. In diesen 500 Jahren haben – am präzisesten nachzulesen im „Kommunistischen Manifest“ – die kapitalistisch organisierten Staaten Westeuropas mit ihrer Tochterausgründung in Nordamerika den Rest der Welt untertan und zu einem Jagdgebiet gemacht, aus dem sie beständig menschliche Arbeitskraft und Naturressourcen abgesogen haben.

Diese Periode geht in unserer Zeit zu Ende. Sie verknüpft sich seit dem Oktober 1917 mit dem Abstreifen der kapitalistischen Form menschlicher Reproduktion, die sich – wie bei einer jungen Schlange, die sich häutet – in Windungen und mehreren Anläufen vollzieht. Die Dekolonisierung der Welt, die in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg nur ihren juristischen Ausdruck gefunden hat und damit nicht abgeschlossen wurde, sondern erst begonnen hatte, verbindet sich so in einem stufigen und komplexen weltgeschichtlichen Prozess mit dem Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus als dem bestimmenden Moment dieser Epoche.

Deutschland hat in diesem Prozess historisch eine spezifische Rolle als Zuspätkommer und Übertreiber im Konzert der ausbeutenden imperialistischen Mächte. Die Vorfahren der in diesem Land jetzt lebenden Menschen haben ihre nationale Form in den Kriegen 1866 bis 1871 erst gefunden – oder besser: sie wurde ihnen gefunden und aufgestülpt – als die damals führenden Mächte der kapitalistischen Durchformung der Welt, namentlich England und danach Frankreich, ihre nationale Form längst gefunden und damit die Aufteilung der Welt unter sich fast abgeschlossen hatten. In einem nahezu panischen Kampf um einen „Platz an der Sonne“, wie ihr Kaiser Wilhelm II es ausdrückte, versuchte es, den blutigen Zug der britischen Kolonien Amerikas „nach dem Westen“ in einem noch blutigeren Kolonisierungskrieg der Ausdehnung „nach Osten“ zu kopieren, dabei Kontinentaleuropa zu seiner Ausdehnungsbasis dieses Sprungs zur Kolonisierung und letztlich Auslöschung osteuropäischer Völker zu machen. Auch dieses Ausgreifen über die eigenen Grenzen kommt mit dem Prozess der Entkolonisierung und Überwindung des Kapitalismus an ihr unvermeidliches Ende.

Ein Zurück in diese Epoche gibt es nicht mehr. Ein würdiger und friedlicher Platz zum Leben ist für dieses 85-Millionen-Volk leicht erkennbar. Er ergibt sich durch einen doppelten Blick auf den Globus, auf dem wir 8 Milliarden Menschen alle leben und in die eigene, blutige Geschichte. Deutschland ist kein Teil Amerikas oder Afrikas oder Australiens. Deutschland ist geografisch ein recht kleiner Teil der stark zergliederten Ausläufer des asiatischen Kontinents, dessen Teil westlich des Ural-Gebirges Europa heißt.

Der östliche Teil dieser Landmasse ist Russland, ziemlich in seiner Mitte liegt das Wohngebiet der 85 Millionen Deutschen. Ökonomisch mag es die Illusion geben, im Zeitalter der Datentechnik spielten geografische Rahmendaten keine Rolle. Aber das ist eben eine Illusion. Was wir essen und trinken, die Materie, in der wir wohnen und in die wir uns kleiden, kann nicht per Mausklick um den Globus verschoben werden. Die natürlichen Lebensgrundlagen dieses Volkes liegen daher auf dem eurasischen Kontinent. Er ist unser Schicksal und unser Haus. Wir bewohnen es mit Nachbarn, die wir nicht wechseln können.

Diese im wahrsten Sinne des Wortes unverrückbare Tatsache legt nah, daß die ökonomische Zukunft dieses Volkes in dem Wirtschaftsbereich liegt, der sich von Lissabon nach Wladiwostok und Ho-Chi-Min-Stadt erstreckt. Ihn als eine Zone möglichst freien Handelns und friedlichen Arbeitens gleichberechtigt mit anderen Völkern zum Wohle der in ihnen zusammengeschlossenen Menschen zu erschließen, führt zu der Möglichkeit eines Aufblühens. Die Leugnung dieses natürlichen Platzes führt in die Irre. Der Versuch, in einem Bündnis mit den weit entfernt liegenden Vereinigten Staaten von Amerika im 21. Jahrhundert eine Kolonisierung 2.0 zu erstreben und Westeuropa erneut zum Ausgangspunkt der blutigen Beglückung der Welt zu machen, würde – wie einer der größten deutschen Dichter, Bertolt Brecht, es warnend gesagt hat – dazu führen, daß von diesem Land in 20 Jahren nichts mehr da ist. Die Wegscheide dieser beiden möglichen Wege liegt unmittelbar vor uns.

Aufgrund seiner Geschichte und insofern selbst verursacht ist der Blick anderer Völker auf dieses 85-Millionen-Volk von sehr divergierenden Gefühlen geprägt. Es wird einerseits verbunden mit naturwissenschaftlichen Pioniertaten wie der Erfindung des Verbrennungsmotors oder den ersten Fluggeräten, hat sich dank Goethe und Schiller Hochachtung auch als Kulturnation erworben und ist weithin bekannt als Heimat seiner beiden weltweit bekanntesten Söhne Karl Marx und Friedrich Engels.

Es hat sich durch die von seinen Herrschenden zu verantwortende Auslösung der beiden blutigsten Kriege der Menschheitsgeschichte und durch die Auslöschung eines ganzen, in seinen Grenzen wohnenden Teilvolkes, den deutschen und europäischen Juden, durch die Vervollkommnung der mörderischen Rassentheorie und durch den Drang, sich die Welt durch das Erfinden immer schrecklicherer Waffen untertan zu machen, zu einer Teilmenge der Menschheit entwickelt, die von den anderen Teilmengen mit jederzeit wieder aktivierbarem Mißtrauen betrachtet wird. Es gehört zu den Tatsachen, denen sich dieses Volk zu stellen hat, daß es zu Recht besteht. Kein Volk – außer vielleicht dem japanischen, dessen Geschichte zu dem des deutschen einige Ähnlichkeiten aufweist – ist in eigenem Interesse so zu friedlichem Handeln verdammt wie das deutsche.

Aus alledem ergibt sich eine gute Perspektive. Deutschland ist ein wohlhabendes Land, es ist reich an Kultur, wird – wieder und noch – geachtet und es liegt zwar am Rande des ökonomisch aufblühenden asiatischen Kontinents, kann aber von diesem Aufblühen profitieren. Eine intensive Einbettung in diesen Kontinent ist bei nüchterner Betrachtung der Realitäten die beste Möglichkeit, den errungenen Wohlstand auch für die jetzt heranwachsenden Generationen und deren Kinder zu bewahren und fortzuentwickeln. „Made in Germany“ wird die Welt nicht mehr erobern und immer häufiger seinen Hut ziehen vor Innovationen „Made in Asia“. Das kostet dieses Volk weder Würde noch Wohlstand.

Dr. Manfred Sohn, Gleichen, ist Vorsitzender der Marx-Engels-Stiftung e.V. (MES).

Quellen und Anmerkungen

[1] Alle Zahlen und Zitate in diesem Absatz aus FAZ vom 15. Mai 2024

[2] Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, Marx Engels Werke (MEW), Band 13, Berlin 1975, S. 9

[3] Ebenda, S. 7

[4] Karl Marx/Friedrich Engls, Manifest der Kommunistischen Partei, Marx Engels Werke (MEW), Band 4, Berlin 1974, S. 466

[5] Bei Kameras hinsichtlich der deutschen Fertigung in die DDR, die aus Devisenknappheit hochwertige optische Geräte jahrzehntelang unter Wert verkaufte


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Bild oben: Manfred Söhn während seines Vortrages auf der Konferenz des Deutschen Freidenker-Verbandes „Deindustrialisierung “ am 20. April 2024 in Retgendorf bei Schwerin
Foto: Ralf Lux