Frieden - Antifaschismus - Solidarität

Jenen verbündet bleiben, die gegen den Faschismus kämpfen

Zum 81. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion

von Liane Kilinc

Vielleicht sollten wir uns in diesem Jahr, wenn wir uns an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion erinnern, nicht mit dem befassen, was dort geschah, sondern mit dem, was der Anti-Hitler-Koalition vorausging. Denn dass die Sowjetunion diesen Kampf letztlich doch nicht allein bestehen musste, hatte Vorbedingungen, war das Ergebnis jahrelangen politischen Ringens. Die Anti-Hitler-Koalition musste erst erstritten werden, und dieser Streit endete knapp genug, dass sie nach der Niederlage Nazideutschlands sofort zerfiel.

Es muss eigentlich nicht überraschen, dass der ukrainische Faschismus in den Ländern des Westens viele Freunde hat. Das war schließlich nach 1933 nicht anders. Man denke nur an Mosley in England, an die französischen Faschisten, oder gar an Franco in Spanien – das war kein deutsches Phänomen, das war eine europäische Seuche; sie wurde in allen Ländern bekämpft, in manchen mit, in manchen ohne Erfolg. Die herrschende Klasse war, das zeigten das Münchner Abkommen wie die heuchlerische Neutralität im spanischen Bürgerkrieg, mehr als willig, ihren Frieden mit den Nazis zu machen, sofern sie nicht gleich selbst mit dem Faschismus liebäugelte.

Aber die andere Seite, unsere Seite, war stark.

Ein Verschweigen dessen, was in Nazideutschland geschah, war nicht möglich. Es gab große internationale Veranstaltungen wie den Kongress zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935, die dafür sorgten, dass die Wahrheit über die Verhältnisse bekannt wurde. Es gab die großen Zeitungen wie die L’Humanité in Frankreich, die über die KZs berichteten, über die Gestapo, über Verhaftungen und Morde. Es gab die großen internationalen Kampagnen wie jene zur Befreiung Dimitroffs und später zur Befreiung von Thälmann; es gab die Zeugnisse hunderter Emigranten. Und es gab eine Arbeiterbewegung, die bereit, ja, begierig war, zuzuhören, und die dann, als die Sowjetunion angegriffen wurde, die Regierungen der USA und Großbritanniens zwang, gegen, nicht mit Hitler in den Krieg zu ziehen.

Wo stünden wir heute, hätte es etwas wie den Kongress zur Verteidigung der Kultur über die Ukraine gegeben? Wäre es dann möglich, unsere Städte blau gelb zu beflaggen?

Internationalismus ist heute für viele so etwas wie eine Salatgarnitur auf dem politischen Speiseteller; aber das, was heute geschieht, zeigt uns, dass diese Bewertung falsch ist. Die Entwicklung in anderen Ländern verstehen wollen ist kein Luxus, den man auch lassen kann, sondern kann jederzeit zur Voraussetzung werden, um im eigenen richtig handeln zu können.

Seit acht Jahren leiste ich mit dem Verein Friedensbrücke humanitäre Hilfe im Donbass. Ich kenne all die Berichte, die alle kennen sollten; ich weiß, dass in der Ukraine tatsächlich der Faschismus an der Macht ist. Aber auch wenn es bisher möglich war, über den Verein ein wenig davon sichtbar zu machen, blieb doch alles immer auf eine kleine Gruppe von Menschen begrenzt. Von der ganzen politischen Szenerie, die sich links schimpft in Deutschland, wollten nur sehr wenige überhaupt etwas davon wissen. Ab und zu gab es Veranstaltungen zum Donbass, aber das war es dann auch. Das genügt, um die Hilfe zu ermöglichen, aber es genügt bei weitem nicht, um ein Bewusstsein für die Entwicklung dort zu wecken und genug Solidarität zu mobilisieren, damit das, was jetzt in Deutschland geschieht, nicht geschehen kann.

Dieses Jahr beneide ich die Schreiber nicht, die die offiziellen Reden zum Gedenken an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion schreiben müssen. Das wird ein schweres Stück Arbeit.

Darf man noch sagen, wer alles als Verbündeter der Naziarmee an diesem Überfall beteiligt war? Ukrainische Nationalisten im SS-Bataillon Nachtigall beispielsweise? Oder sind das nicht die europäischen Freiheitskämpfer gegen den Bolschewismus? Und was ist mit den Letten, den Holländern, den Rumänen, den Italienern? Sind jetzt die Hitlerfaschisten die einzigen Verbrecher und alle anderen eigentlich vorweggenommene NATO-Verbündete, oder ist man schon so weit, die Naziarmee selbst von jeder Schuld freizusprechen?

Die Renazifizierung Deutschlands erfolgt gerade in Imitation der Ukraine, als blau gelbe „Solidarität“, bis hinunter in Kleinstädte wie Wandlitz, wo dieselben, die letztes Jahr noch meinten, gegen jeden Impfgegner demonstrieren zu müssen, weil der Nazi sei, jetzt den wirklichen Nazi Klitschko preisen und sich von ihm eine Städtepartnerschaft in der Ukraine vermitteln lassen.

Die Leidenschaft, mit der eine „russische Aggression“ beschworen wird, lässt erkennen, wie gern man die Erinnerung an den Krieg der Naziwehrmacht und vor allem an ihre Niederlage begraben würde, selbst wenn als Konsequenz der Nazismus selbst wieder zum Leben erwacht.

Wer sich all die Jahre über gefragt hat, warum das bundesdeutsche Strafrecht zwar die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellt, die Leugnung des Vernichtungskrieges im Osten mit seinen 27 Millionen sowjetischen Opfern aber nicht, kann heute sehen, warum.

Die Leugnung des Generalplans Ost ist heute politisches Tagesgeschäft. Der antislawische Rassismus, den man vor Jahren bereits gegen die Serben reanimiert hatte, ist Bestandteil des offiziellen Alltags. Schließlich war es eine von der NATO herangezüchtete vermeintliche „Militärexpertin“, Florence Gaub, die im deutschen Fernsehen vor einiger Zeit erklärte, Russen seien eigentlich keine richtigen Europäer, denn sie hätten ein anderes Verhältnis zum Tod. Gleichzeitig wurden die in Mariupol eingekesselten Nazitruppen zu Helden stilisiert, in einem Tonfall, als sei Klemperers Lingua Tertii Imperii nie geschrieben worden.

Und wir? Können nicht einmal mehr angemessen des Überfalls auf die Sowjetunion gedenken, weil es untersagt ist, ihre Fahne zu zeigen. So, wie es untersagt wäre, ein Gegenstück der Anti-Hitler-Koalition zu fordern, gegen den Nazismus in der Ukraine.

Wir können nur noch ausprobieren, wieviel Wahrheit noch polizeilich erlaubt ist, jetzt, da die neuen Helden dieses nicht neuen Deutschlands, irgendwie sehr wie die alten aussehen, Runen und Totenköpfe inbegriffen, und sich auch benehmen wie die alten.

Darf man ukrainische Nazis noch Nazis nennen?

Und wenn man das nicht mehr darf, wie nennt man dann die deutschen Nazis, die Originale?

Werfen wir einmal einen Blick in die Notizen des Generalstabschefs des Heeres, Franz Halder, der entscheidend an der Ausarbeitung des Unternehmens Barbarossa beteiligt war. Er notierte Ende März 1941: „Künftiges Staatenbild: Nordrussland gehört zu Finnland. Protektorate Ostseeländer, Ukraine, Weißrussland.“ Erinnert das an irgendetwas?

An den Antrag Finnlands, der NATO beizutreten, beispielsweise?

An den Putsch in der Ukraine 2014?

An den Umsturzversuch in Weißrussland im vergangenen Sommer?

Der „Ausbau des Eisenbahn- und Straßennetzes“, der im Sommer 1940 unter dem Codewort „Otto“ begonnen wurde, ist in den vergangenen Jahren ebenfalls geschehen.

Wenn einen diese Parallelen gruseln machen, dann, weil sie zum Gruseln sind.

Was im Verlauf der sogenannten „NATO-Osterweiterung“ geschah, ist wie eine Wiederholung der alten Pläne. Nur dass diesmal die ersten angestrebten Ziele bereits vorweg realisiert wurden. Jeder, der diese historischen Abläufe kennt, wundert sich keine Sekunde darüber, dass das in Russland als Bedrohung gesehen werden muss.

Wie seine Zöglinge Heusinger und Gehlen entging auch Franz Halder der Nürnberger Gerichtsbarkeit; und während Gehlen die gefälschten Dokumente lieferte, die in den kalten Krieg führten, und Heusinger die Militärstrukturen der NATO mit aufzubauen half, schrieb Halder für den Rest seines Lebens im Auftrag der US-Armee Militärgeschichte. So wurde das Erbe weitergereicht, die Ähnlichkeiten sind kein Zufall.

Aber wir haben die Jahre verpasst, in denen es möglich gewesen wäre, die Wahrheit über die Ukraine wirklich zu verbreiten, so zu verbreiten, dass genügend Menschen sie als ihre eigene Sache sehen, und finden uns eher in einer Art Vichy-Europa wieder, das vor dem faschistischen Übel kapituliert hat und bereit ist, sich in seinem Interesse ausplündern zu lassen.

Wir haben die erste Aufgabe, die Wahrheit bekannt zu machen, noch nicht gelöst und stehen schon vor der zweiten, wie zu widerstehen, wie die Zukunft des Landes zu retten und die dafür nötigen Bündnisse zu schmieden.

Wir können heute keinen Blick mehr auf die Ereignisse des Jahres 1941 werfen, ohne die der Gegenwart mit einzubeziehen, und die wichtigste Lektion von damals ist, jenen verbündet zu bleiben, die gegen den Faschismus kämpfen, und selbst nicht aufzugeben.

Gleich, wie sich die Verhältnisse hier noch entwickeln.

Denn unsere Sache ist gerecht und wir werden siegen!

Liane Kilinc ist Vorsitzende des Vereins „Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe e.V.“ und Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbandes in Berlin


Bild: Gruppe sowjetischer Soldaten während der Berliner Offensive; russische Briefmarke von 2020, gemeinfrei
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Russia_stamp_2020_%E2%84%96_2628.jpg