Frieden - Antifaschismus - SolidaritätVeranstaltungen in den DFV-Landesverbänden

Ein brennendes Herz für den Frieden braucht einen kühlen Kopf

Rede auf dem Potsdamer Ostermarsch 2022

von Männe Grüß (Friko Potsdam)

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Liebe Friedensfreundinnen, liebe Friedensfreunde,

ich möchte meine Rede mit einem Ausspruch beginnen, den viele von Euch wahrscheinlich im Schlaf aufsagen können:

Im Krieg gilt:

Die Wahrheit stirbt zuerst.

So eingängig der Ausspruch aber auch ist: Er trägt in sich ein Problem. Denn:

Was ist die Wahrheit? Und vor allem: Wer sagt die Wahrheit?

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel dieser Tage: Butscha.

Die ukrainische Seite erklärt: Russland habe in dem Vorort von Kiew ein Massaker angerichtet unter Zivilisten.

Die russische Seite hingegen verwahrt sich vehement, ein Kriegsverbrechen in Butscha begangen zu haben.

Was ist die Wahrheit? Wer sagt die Wahrheit?

Und nun erkläre mir bitte keiner, es handle sich um eine akademische oder philosophische Frage! Denn die Beantwortung dieser Frage zu Lasten Russlands hatte zur Folge:

  • Abbruch der Friedensverhandlungen seitens der Ukraine
  • Weitergehende Sanktionen gegen Russland – auch zu unseren Lasten in Form explodierender Energiepreise und Vernichtung von Industriearbeitsplätzen
  • Die Lieferung von „schwerem“ Kriegsgerät an die Ukraine durch die Bundesregierung

Kurzum: Von der Beantwortung der Frage über die Verantwortung für Butscha hängt also eine neue Stufe der Eskalation ab. Sie ist also von enormer Bedeutung.

Nun muss ich Euch enttäuschen: Ich kann Euch keine Antwort geben, wer Butscha zu verantworten hat.

Aber ich möchte Euch auf ein mögliches Herangehen hinweisen, wie man der Wahrheit näherkommt. Das Herangehen folgt einem Ausspruch, den vielleicht auch der eine oder andere von Euch kennt (und vielleicht sogar weiß, von wem er stammt). Er lautet:

Die Wahrheit ist immer konkret.

Niemand kann in diesem Moment sagen, was in Butscha passiert ist. Aber wir können Fakten zusammentragen, die für alle Seiten unbestreitbar sind. Solche Fakten sind:

  • Am 30. März haben russische Truppen Butscha verlassen. Dies bestätigte der Bürgermeister Butschas einen Tag später in einem Video, in dem er die „Befreiung“ Butschas von russischen Truppen feierlich verkündete. Dieser Bürgermeister, der offensichtlich an der Seite Kiews steht, erwähnte mit keinem Wort, dass es zu einem Massaker gekommen sei. Warum verschwieg er es? Und warum erklärt er sich dazu bis heute nicht?
  • Auf dem Video, das von ukrainischer Seite präsentiert wurde zur Beweisführung, sind eine Reihe Leichen mit einer weißen Armbinde zu sehen. Diese weißen Armbinden werden von russischen Soldaten zur Erkennung getragen – und auch ukrainische Zivilisten sind dazu übergegangen, solche Armbinden zu tragen, um damit ihre Verbundenheit mit dem russischen Militär zum Ausdruck zu bringen. Warum aber sollten russische Soldaten Zivilisten töten, die Ihnen wohlgesonnen sind? Oder mit welchem Ziel sollten sie so etwas inszenieren?
  • Ein letzter Hinweis: Unmittelbar nach dem Vorwurf des Kriegsverbrechens in Butscha hat Russland eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates beantragt, um eine internationale Untersuchung in Gang zu bringen. Diese Dringlichkeitssitzung wurde durch Großbritannien verhindert – ein einmaliger Akt in der Geschichte der UN. Warum?

Ich bleibe dabei: Ich weiß nicht, wer die Toten in Butscha zu verantworten hat.

Aber ich stelle angesichts der Fakten fest: Niemand, der die Wahrheit schätzt, kann in diesem Moment Russland für Butscha verantwortlich machen.

Und wer jetzt wie die Bundesregierung Butscha als Rechtfertigung anführt für die Eskalation in Form von Aufrüstung, Waffenlieferungen und Sanktionen, der begeht ein Verbrechen.

 

Liebe Friedensfreunde,

der seit acht Jahren andauernde Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, urmenschliche Eigenschaften wie Mitgefühl und die Sehnsucht nach Frieden zu betäuben – und vor dieser Abstumpfung ist niemand sicher – schon gar nicht hierzulande.

Wir sehen das in seiner entsetzlichsten Form, wenn der BILD-Redakteur Michael Sauerbier twittert, dass nicht der Putin, sondern das russische Volk „unser Feind“ sei. Das haben zuletzt in Deutschland in dieser Deutlichkeit Repräsentanten des mörderischen NS-Faschismus erklärt.

Wir müssen miterleben, wie das sowjetische Denkmal im Treptower Park diese Woche beschmiert wurde mit der Parole: „Tod den Russen!“ Das ist exakt die Parole, mit der ukrainische Faschisten am 2. Mai 2014 das Gewerkschaftshaus in Odessa stürmten und mindestens 48 Menschen ermordeten, die gegen den Putsch in Kiew demonstriert hatten.

Aber ich beobachte diese Abstumpfung auch an mir selbst. Ich versuche jede Nachricht aus der Ukraine zu sortieren, will mir ein Gesamtbild verschaffen und muss mir dabei eingestehen: Ich laufe Gefahr, dass dabei mein Mitgefühl für jeden einzelnen Menschen, der dem Krieg in der Ukraine zum Opfer fällt, auf der Strecke bleibt.

Ich halte es deshalb hier und heute für eine Friedenspflicht: Lasst uns innehalten und gedenken.

  • Gedenken wir jedem Menschen, der in der Ukraine durch russisches Militär gestorben ist.
  • Gedenken wir jedem der mindestens 14.000 Menschen – nach UN-Angaben zum Großteil Zivilisten – die seit 2014 im Donbass und der Ukraine durch ukrainisches Militär gestorben sind – gedenken wir auch jedem russischen Staatsbürger.
  • Gedenken wir den Menschen, die in Mariupol durch russisches Militär gestorben sind. Gedenken wir auch den Menschen, die starben, weil sie vom faschistischen Asow-Bataillon als menschliche Schutzschilde gegen russisches Militär missbraucht wurden.
  • Und verharren wir nicht allein bei der Ukraine: Gedenken wir den zehntausenden Toten des NATO-Überfalls auf Jugoslawien, der sich vor zwei Wochen zum 23. Mal jährte; gedenken wir über 370.000 Toten im aktuellen Jemen-Krieg, die vor allem der NATO-Partner Saudi-Arabien zu verantworten hat; gedenken wir der Toten der US- und NATO-Interventionen in Afghanistan, Irak, Lybien, Syrien, Vietnam, Korea und anderswo. Und JA: Gedenken wir den Toten von Butscha.

In diesem Sinne bitte ich Euch nun um eine gemeinsame Schweigeminute.

Ich habe Euch gebeten, im Gedenken zu schweigen. Ihr seid meiner Bitte gefolgt. Ich danke Euch.

 

Liebe Friedensfreunde,

ich möchte Euch offen sagen: In der Friedenskoordination Potsdam gibt es unterschiedliche Standpunkte, wie der Einmarsch Russlands in die Ukraine zu beurteilen ist. Und es gab auch durchaus hitzige Diskussionen in der Vorbereitung dieses Ostermarschs.

Aber uns in der Friko Potsdam eint über alle unterschiedlichen Weltanschauungen und Biografien eine Einsicht:

Ein brennendes Herz für den Frieden braucht einen kühlen Kopf.

Was heißt das in Bezug auf die Ukraine?

Es heißt: Wer vom ehrlichen Wunsch nach Frieden in der Ukraine angetrieben ist, muss verstehen, WARUM Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Ich betone in meiner Rolle als Vertreter der Friko Potsdam: Das heißt nicht, dass man deshalb den russischen Einmarsch gutheißen muss. Es geht darum, die Kriegssituation zu VERSTEHEN, denn das ist der Schlüssel zur Beendigung des Krieges – der Schlüssel zu einem NACHHALTIGEN Frieden.

In diesem Sinne muss man verstehen:

  • … die NATO-Expansion in Osteuropa an die russische Grenze
  • … die einseitige Aufkündigung von Atomwaffenabrüstungsverträgen durch die USA
  • … die atomare Aufrüstung von US-Atomwaffen und Abschusssystemen in Europa
  • … die jüngste Ankündigung des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, sich atomar zu bewaffnen
  • … die maßgebliche Unterstützung des Putsches in der Ukraine durch USA und EU
  • … und nicht zuletzt der Ausbau der Ukraine zum verlängerten Arm der NATO durch Geld, Waffen, Stützpunkte, Labore und Berater und Militärausbilder im Schulterschluss mit Faschisten – DAS ALLES IST EINE AGGRESSION GEGEN RUSSLAND. Und noch mehr: Es ist eine Aggression gegen das ukrainische Volk, das für diese Kriegspolitik in Geiselhaft genommen wird. Und es ist auch eine Aggression gegen uns, die wir diese Kriegsmobilisierung mit einer Verelendung bezahlen sollen, die in unserem Land als überwunden galt, und unser Volk dazu anstachelt, zum dritten Mal in der deutschen Geschichte, die Gewehre gen Osten zu richten.

 

Liebe Friedensfreunde,

auf diese Aggression kann es nur eine Antwort geben. Eine Antwort, die im Ukrainischen und Russischem zwar unterschiedlich ausgesprochen wird, aber dieselbe kyrillische Schreibweise hat, woran auch das unter Selenskyj eingeführte russische Sprachverbot nichts ändern kann. Die Antwort auf die Aggression muss lauten:

MIR und DRUZHBA – FRIEDEN und FREUNDSCHAFT – zwischen der Ukraine und Russland und zwischen allen Völkern der Welt.

Das heißt aber auch: KEIN FRIEDEN und KEINE FREUNDSCHAFT mit der NATO.

Männe Grüß ist Mitglied der Potsdamer Friko und des Deutschen Freidenker-Verbandes


Bildergalerie

Wie jedes Jahr findet der Potsdamer Ostermarsch bereits eine Woche vor Ostern statt und ist damit bundesweit die erste Friedensveranstaltung anlässlich der Osterfeiertage. So auch in diesem Jahr. Hier einige Impressionen von der Kundgebung und dem Marsch am 09. April 2022, an denen etwa Hundert Friedensfreunde teilgenommen haben.

Alle Fotos: Ralf Lux


Download:

Der Aufruf zum Potsdamer Ostermarsch (PDF-Dokument, ca. 211 KB)


Foto oben: Ralf Lux