Frieden - Antifaschismus - Solidarität

Heimat und Patriotismus – Unworte für Internationalisten?

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 1-14, April 2014, S. 9-16, 73. Jahrgang

von Sebastian Bahlo

 

Wir sind Internationalisten, zunächst weil wir Humanisten sind, weil wir den Zustand anstreben, in dem alle Menschen sich ohne Unterschied ihrer Sprache, ihres Aussehens, ihrer Staatsangehörigkeit gegenseitig als Gleiche respektieren. Wir streben Völkerverständigung und Völkerfreundschaft, gemeinschaftliches Handeln der Völker an, weil wir dies als im Interesse der Menschheit betrachten.

Internationalismus und nationales Interesse

Der ganzen Menschheit? In diesem Punkt ist unser Humanismus konkreter als der bürgerliche Humanismus. Gibt es ein kollektives Interesse der gesamten Menschheit? Wir wissen, daß dem nicht so ist. Man kann zwar das moralische Postulat aufstellen, daß z. B. der Weltfrieden oder die Ausmerzung des Hungers im Interesse der gesamten Menschheit sein sollten, aber die Realität ist, daß es eine Klasse von Menschen gibt, deren Interessen jenen entgegenstehen, die imperialistischen Oligarchen, die ihre Macht durch Ausplünderung und Aggression zu erhalten suchen.

Es bleibt als derjenige Teil der Menschheit, dessen Interesse mit den humanistischen Zielen übereinstimmt, die Masse der Werktätigen, die darauf angewiesen sind, sich durch Arbeit zu erhalten, und darunter die Arbeiterklasse im Besonderen, die das Potential hat, den Kampf zur Durchsetzung ihrer und aller Werktätigen Interessen zu führen.

Somit ist unserer Internationalismus seinem Wesen nach proletarischer Internationalismus, Bestandteil des proletarischen Klassenkampfes und diesem untergeordnet. Der Internationalismus dient der Überwindung der nationalen, sprachlichen, religiösen, staatlichen Schranken zwecks internationaler Verbrüderung und Organisation der Arbeiterklasse. Dies ist sein Ziel. Der Weg zur Erreichung dieses Ziels besteht aber im Gegenteil gerade nicht im Negieren und Niederreißen, sondern im Anerkennen der Schranken, nicht in der Forderung nach totaler Angleichung der Arbeiter aller Länder, sondern im Grundsatz der vollsten Respektierung ihrer nationalen Besonderheiten und der sich daraus ergebenden spezifischen Erfordernisse ihres Klassenkampfes.

Diese Dialektik der nationalen Frage wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts systematisch von den Marxisten Rußlands untersucht. In dieser Hinsicht feiern wir dieses Jahr ein doppeltes Jubiläum: 1913 wurden in der russischen Zeitschrift Prosweschtschenije Stalins Artikel „Nationale Frage und Sozialdemokratie“, heute bekannt unter dem Titel „Marxismus und Nationale Frage“ und Lenins Artikel „Kritische Bemerkungen zur Nationalen Frage“ veröffentlicht. 1914 veröffentlichte Lenin die bekanntere Fortsetzung „Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“. (Da die Frage der Definition des Nationenbegriffs heute bereits Gegenstand der Diskussion war, will ich die kurze Bemerkung einfügen, daß ich Stalins im erstgenannten Werk gegebene Definition der Nation wenigstens für praktische politische Zwecke für durchaus nützlich halte.) In diesen Werken geht es hauptsächlich um die Nationalitätenfrage innerhalb eines Staates, wie sie durch die komplizierte nationale Zusammensetzung Rußlands auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Das bekannteste Ergebnis ist, daß die Marxisten für das Recht der nichtrussischen Völker innerhalb Rußlands auf staatliche Lostrennung eintreten müssen, dies aber nicht bedeutet, daß sie die tatsächliche Loslösung aller nichtrussischen Völker propagieren sollen, die sie im Gegenteil für nicht erstrebenswert halten. Dahinter steht die Einsicht, daß nur durch wahrhaftige gegenseitige Anerkennung eines so weitgehenden Rechts das gegenseitige Vertrauen der Arbeiterklassen verschiedener Nationalitäten gedeihen kann.

Die Anerkennung der nationalen Schranken bedeutet die Anerkennung besonderer nationaler Interessen. Wessen nationaler Interessen? Der Arbeiterklasse und der Werktätigen! Wir dürfen nicht etwa vom abstrakten Interesse einer Nation sprechen, ein solches kann nicht existieren. Aber sehr wohl haben die Menschen einer Nation besondere Interessen, die sich eben aus ihrer Zugehörigkeit zur Nation ergeben, und diese nationalen Interessen lassen sich wiederum nach Klassen gruppieren. Diesen besonderen nationalen Interessen entspricht etwa das Recht und die Möglichkeit zum ungehinderten Gebrauch der Muttersprache, das Recht der ungehinderten Religionsausübung, eine politische Ordnung, die der Organisation der nationalen Arbeiterklasse förderlich ist, und überhaupt staatliche Organe, die zur Sicherung dieser nationalen Interessen geeignet sind, und deshalb auch ganz grundlegend Sicherheit des Staates vor äußerer Einmischung und territorialer Aufteilung. Dies ist der geeignete Ort, um darauf hinzuweisen, dass wir, die wir unseren Wirkungskreis in Deutschland haben, unbedingt explizit die nationalen Interessen der deutschen Werktätigen anerkennen müssen, erstens weil wir sonst einen theoretischen Fehler machen würden, zweitens weil dies wichtige Konsequenzen für unsere Aufklärungsarbeit hat. Darauf komme ich noch zurück. Ich will hier nur als wichtige Beispiele für nationale Interessen der deutschen Werktätigen anführen: Schluss mit Deutschlands NATO-Mitgliedschaft und hinaus mit den NATO-Truppen aus Deutschland. Denn deren Anwesenheit untergräbt die deutsche Souveränität und damit die politische Handlungsmöglichkeit der Werktätigen, ganz abgesehen davon, dass wir einer immer größer werdenden Kriegsgefahr ausgesetzt sind. Ähnlich ist es mit der EU-Bürokratie, die allerdings von den deutschen Herrschenden selbst gerne genutzt wird, um das reguläre deutsche Gesetzgebungsverfahren zu umgehen. Wiederherstellung der Autonomie des deutschen Gesetzgebers gegenüber der EU, das liegt im nationalen Interesse der deutschen Werktätigen.

Völkerrecht

Ein Kernbereich unserer internationalistischen Arbeit im Freidenkerverband stellt die Verteidigung des Völkerrechts dar. Wir sehen das Völkerrecht wie jedes geschriebene Recht nicht als unabhängig vom Menschen existierend an, nicht als etwas Absolutes, eine ewige Wahrheit, die unter allen möglichen Umständen verteidigt werden muss. Wir betrachten das geschriebene Recht als von Menschen für Menschen gemacht. Wir meinen, dass sich die prinzipielle Verteidigung des geschriebenen Rechts schon deshalb lohnt, weil es überhaupt Normen aufstellt und deshalb dem Chaos und der Desorganisation entgegenwirkt. Man kann und soll für die Ersetzung alten Rechts durch neues, besseres Recht sein, aber man darf nie die Schaffung eines Rechtsvakuums anstreben. So wie auf staatlicher Ebene das geschriebene Recht, und enthalte es noch soviel Reaktionäres, das Gesetz des Dschungels überwindet, so überwindet das Völkerrecht, und insbesondere des moderne Völkerrecht mit der Charta der Vereinten Nationen als zentralem Dokument, das Gesetz des Dschungels in den internationalen Beziehungen, indem es auf dem Prinzip der souveränen Gleichheit der UNO-Mitgliedsstaaten gründet und das militärische Gewaltmonopol des UNO-Sicherheitsrats etabliert. Damit ist das Völkerrecht wirklich der gesamten Menschheit nützlich, wenn man die winzige Minderheit kriegslüsterner Imperialisten ausklammert.

Der ideologische Kampf gegen das Völkerrecht wird von diesen Imperialisten auf subtile Weise geführt. Das grundlegende Argument richtet sich gegen das Prinzip der Staatssouveränität. Diese Souveränität könnte, erklären die Imperialisten scheinheilig, von Regierungen, die wohl noch böser als ihre eigenen sind, „missbraucht“ werden, um das eigene Volk zu misshandeln, und deshalb müsste das Prinzip der Staatssouveränität zugunsten des Schutzes der Menschenrechte eingeschränkt werden. Die Kurzformel „Menschenrecht bricht Staatsrecht“ stammt übrigens von Hitler. Ihr Inhalt hat durchaus Überzeugungskraft bewiesen, leider vor allem in gewissen „linken“ Kreisen.

Der Formel ist vom theoretischen Standpunkt entgegenzusetzen, erstens, dass nur souveräne Staaten konkrete Menschenrechte real garantieren können, zweitens dass die Existenz eines stabilen Staates selbst ein Menschenrecht ist, indem sie unter den gegebenen historischen Umständen, nämlich unter den Bedingungen der Klassengesellschaft, die Voraussetzung für die zweckmäßige Steuerung des sozialen Organismus bildet und damit für das Wesensmerkmal der Gattung Mensch. Wer den Staat destabilisiert, ohne eine andere Quelle der Stabilität in der Gesellschaft zu erschließen, begeht ein Verbrechen gegen das Menschenrecht. Es ist klar, dass insbesondere eine äußere Macht den Menschen eines von ihr angegriffenen Staates nichts Gutes bringen könnte, selbst wenn wir uns für eine Sekunde die irrsinnige Vorstellung zu eigen machen, dass sie dieses Ziel hätte.

Die neuere Geschichte zeigt die Richtigkeit dieser Auffassung und legt die bodenlose Heuchelei der sich human gebenden Kriegshetzer bloß. Nehmen wir ein Beispiel für eine solche humanitäre Kriegsvorbereitung, die so mustergültig ist, dass sie in die Geschichtsbücher Eingang finden sollte. „Er (Beneš) gab zu, daß diese Gebiete abgetreten werden müssen. Das war seine Erklärung! Aber was tut er? Nicht das Gebiet trat er ab, sondern die Deutschen treibt er jetzt aus! „Und das ist jetzt der Punkt, an dem das Spiel aufhört!

„Herr Benesch hatte kaum gesprochen, da begann seine militärische Unterjochung nur noch verschärft aufs Neue. Wir sehen die grauenhaften Ziffern: an einem Tag 10 000 Flüchtlinge, am nächsten 20 000, einen Tag später schon 37 000, wieder zwei Tage später 41 000, dann 62 000, dann 78 000, jetzt sind es 90 000, 107 000, 137 000 und heute 214 000.

„Ganze Landstriche werden entvölkert, Ortschaften werden niedergebrannt, mit Granaten und Gas versucht man die Deutschen auszuräuchern. Herr Benesch aber sitzt in Prag und ist überzeugt: ,Mir kann nichts passieren, am Ende stehen hinter mir England und Frankreich.’“ Dieses Zitat stammt aus einer Rede Hitlers vom 26. 9. 1938

Da kommt wortwörtlich alles vor, was wir in den vergangenen 20 Jahren in Bezug auf Jugoslawien, den Sudan, Libyen und jetzt Syrien gehört haben. Der blutrünstige Tyrann, die moralische Verpflichtung, ihn zu bändigen, der Vorwurf an die „Internationale Gemeinschaft“, den Schurken zu beschützen. Aber was war tatsächlich geschehen? Hitler hatte die Gewalt in der Tschechoslowakei selbst angezettelt, indem er parallel zu seinen Gebietsforderungen den separatistischen Terror der „Sudetendeutschen Partei“ zur Destabilisierung des tschechoslowakischen Staates einsetzte, um dann die zu erwartenden Maßnahmen der Prager Regierung zum Schutz des Staates propagandistisch auszuschlachten, als Vorwand für den großen Angriff, der zunächst in der von England und Frankreich gebilligten Annexion der deutschen Siedlungsgebiete, später in der Besetzung der so genannten „Resttschechei“ bestand. D. h. der humanitären Propaganda steht der tatsächliche Verlauf entgegen: Erst subversive Gewalt gegen den fremden Staat, dann Heuchelei über dessen Verteidigungsmaßnahmen zur Vorbereitung und Rechtfertigung schließlich des offenen Angriffs.

Genau nach diesem Hitlerschen Schema liefen die Angriffskriege der NATO gegen Jugoslawien 1999 und Libyen 2011 ab. In Syrien läuft dasselbe Programm ebenfalls seit 2011, aber die finale Phase des offenen Angriffs blieb bisher aus, weil Rußland und China sich diesmal deutlich hartleibiger zeigen als im Falle Libyens, bzw. nicht einfach übergangen werden konnten wie 1999.

Konsequente Aufklärung und Kampf gegen die imperialistische Demagogie schließt bedingungslose Verteidigung des Rechts des angegriffenen Staates auf Selbstverteidigung seiner Souveränität und territorialen Integrität ein. Und daraus leiten wir die Losung der prinzipiellen Solidarität mit den Repräsentanten des angegriffenen Staates ab.

Dass wir diese Konsequenz ziehen, stößt immer wieder auf starke Kritik auch vonseiten anderer Kriegsgegner, die Wert auf eine gründliche Distanzierung von der Führung des angegriffenen Staates legen. Diese Haltung kann solche Blüten treiben wie die, dass zur diesjährigen Antikriegstagsdemonstration hier in Frankfurt, die vom Frankfurter Solidaritätskomitee für Syrien veranstaltet wurde, Personen mit einem Plakat erschienen auf dem stand „Nein zum Krieg – Nein zu Assad“.

Warum ist eine solche Haltung grundfalsch? Ihre Begründung lautet ja, dass man jemanden, der angeblich bisher in seinem Land eine vollkommen reaktionäre Politik betrieben hat, nicht unterstützen dürfe, aber gleichzeitig (oder vielleicht gerade deshalb) könne man ehrlich gegen die äußere Aggression eintreten.

Zunächst einmal ist es merkwürdig, wenn die Verurteilung der politischen Verhältnisse im betreffenden Land bei uns nie eine herausgehobene Rolle gespielt hat, dass sie ausgerechnet jetzt, wo die Imperialisten diese Verurteilung als Vorwand für ihre Aggression benutzen, zu einem beherrschenden Thema unter Kriegsgegnern wird. Das ist unsinnig und unredlich.

In Deutschland hat bis 2011 höchstwahrscheinlich noch nie eine Demonstration gegen Bashar Al- Assad stattgefunden, aber ausgerechnet in der Stunde, in der die Imperialisten Assad gewaltsam stürzen wollen, können wir gegen diese Aggression nur demonstrieren, wenn wir uns deren Ziel selbst auf die Fahnen schreiben? Mit Logik ist das jedenfalls nicht zu erklären.

„Weg mit dem Merkel-Regime“

Die Gründe für die Unrichtigkeit der genannten Haltung liegen aber noch tiefer. Es mag ja linksradikale Hitzköpfe geben, die meinen, wo immer jemand Revolution schreit, da ist der gesellschaftliche Fortschritt zu suchen. Das ist natürlich Unsinn. Zur Revolution, zum Umsturz aufzurufen, die Machtfrage in Angriff zu nehmen, das hat nur dann einen fortschrittlichen Sinn, wenn es einer realen gesellschaftlichen Entwicklung entspricht, d. h. wenn es mit politischem Bewusstsein ausgestattete organisierte Massen gibt, die über den Willen und die Möglichkeit verfügen, die alte Macht durch ihre eigene zu ersetzen.

Die Idee, dass man erstmal die alte Macht stürzen könnte und dann würde gewiss irgendeine fortschrittliche Entwicklung einsetzen, ist illusionärer, anarchistischer Quatsch und in der Praxis verbrecherisches Abenteurertum und kann nur der Reaktion dienen, weil planlose Zerstörung immer reaktionär, den Interessen der werktätigen Massen entgegengesetzt ist. Wenn dann noch die Waffen für den Umsturz von den Imperialisten kommen, ist der Verrat perfekt.

Das ist ein allgemeines Prinzip, das selbstverständlich nicht nur in kleinen, abhängigen Ländern gilt. Stellen wir uns doch einfach mal vor, in Deutschland würde ein bunter Haufen politischer Gruppen, die weder untereinander noch mit bedeutenden Teilen der Bevölkerung verbunden sind, die Forderung „Sturz des Merkel-Regimes“ erheben. Gut, das wäre vielleicht noch lustig. Nun werden einige dieser Gruppen von irgendwoher mit militärischen Kampfmitteln ausgestattet und beginnen staatliche Einrichtungen und die Zivilbevölkerung mit Terror zu überziehen. Sie zerren nachts Menschen aus ihren Betten, fragen „Für oder gegen Merkel“, und wer „für“ antwortet, wird erschossen. Lehrer, die in der CDU sind, werden ermordet. Ausländische Fernsehsender zeigen 10 Jahre alte Bilder von englischen Polizisten, die in Manchester Demonstranten verprügeln: „Hier sehen wir, wie das Merkel-Regime brutal gegen die demokratische Opposition vorgeht.“ Die Internationale Gemeinschaft verhängt Sanktionen gegen das Merkel-Regime, zum Terror gesellt sich Hungersnot. Die USA liefern Waffen an die demokratische Opposition, sie nennt sich jetzt Freie Deutsche Armee, und drohen dem Merkel-Regime mit einer direkten militärischen Invasion. In New York protestieren wohlmeinende Menschen dagegen mit Plakaten „Nein zum Krieg – Nein zu Merkel“.

Welchen Standpunkt würde wohl die übergroße Mehrheit normaler, vernünftiger Deutscher zu diesen Ereignissen einnehmen? Würde sie vielleicht freudig die Revolution begrüßen, die sie endlich vom Joch des Merkelregimes befreit? Oder würde sie nicht eher die bewaffneten Banden als Todfeinde des Volkes sehen, zu deren Vernichtung der feste Zusammenschluss aller loyalen Bürger hinter dem Staatsapparat, hinter Polizei und Bundeswehr mit Merkel als Oberbefehlshaberin erforderlich ist?

Und wenn Merkel nun nicht nach dem ersten Anschlag aufs Kanzleramt panisch ins Exil geflohen ist, sondern wenn sie es Gaddafi und Assad gleichtut und erklärt: „Ich lebe und sterbe in Deutschland“ und auf ihrem Posten an der Spitze des Widerstandes verharrt, würde dies die Menschen nicht in ihrem Kampf gegen die Banden ermutigen, würden sie Merkel nicht zurecht als Integrationsfigur und Symbol des Widerstandes verehren, würden sie nicht instinktiv mit Merkel- Plakaten auf die Straße gehen, um ihre Geschlossenheit zu demonstrieren? Und müsste es ihnen nicht grotesk und verlogen vorkommen, wenn jemand die Parteinahme für Merkel ablehnte mit dem Hinweis auf ihre bisherige reaktionäre Politik, weil es offensichtlich wäre, dass diese Problematik auf einer völlig anderen Ebene liegt und rein gar nichts mit dem gegenwärtig zu bestehenden Kampf zu tun hat?

Selbstverständlich würde es sich genau so verhalten, und selbstverständlich hätten die fortschrittlichen Kräfte die Aufgabe, die patriotischen Gefühle des nationalen Zusammenhalts zu stärken, anstatt sie zu schwächen. Sie hätten die Pflicht, sich zur patriotischen Avantgarde emporzuschwingen, nicht um des Patriotismus selbst willen, sondern im Interesse der werktätigen Massen, deren wichtigste Existenzgrundlage eine stabile gesellschaftliche Ordnung ist. Der Kampf zur Verteidigung dieser Existenzgrundlage gegen die pseudorevolutionären Banditen trägt zur Entwicklung des Bewusstseins und der Organisation der Massen bei, wodurch sie schließlich auf dem langen Weg zur wirklichen Revolution ein gutes Stück vorankommen.

Denn fortschrittlich ist der Kampf für die konkreten und realen Interessen der Menschen unter den jeweils gegebenen Umständen und im Bündnis mit den Kräften, deren Interessen zur gegebenen Zeit in dieselbe Richtung weisen. Den Staat zerschlagen, ohne einen neuen bilden zu können, die Gesellschaft ins Chaos zu stürzen, und mag die als Rechtfertigung vorgebrachte Kritik an den Herrschenden auch tausendmal zutreffen, das ist reaktionär und ein Verbrechen. Wer den Massen dazu rät, bringt sich bei ihnen für immer in Misskredit. Kredit gewinnt, wer für ihre wirklichen Interessen kämpft und ihnen hilft, die pseudorevolutionäre Demagogie der Umstürzler zu entlarven, anstatt in deren Phrasen das Körnchen Wahrheit zu suchen.

Das obige Argument gegen die Parteinahme für die Repräsentanten des angegriffenen Staates wird auch bisweilen so formuliert: Etwa in Syrien sei doch Assad der Vertreter der Bourgeoisie und der Unterdrücker der Arbeiterklasse. Aus dem bisher Gesagten folgt, wie dieses Argument zu bewerten ist: Ohne genau beurteilen zu müssen, wie zutreffend diese Charakterisierung Assads ist, haben wir gesehen, dass der Verteidiger der Souveränität und Stabilität des Staates der Verteidiger eines fundamentalen Interesses der Werktätigen ist. Ihm unter diesen Umständen die Solidarität zu verweigern, wäre linksradikale Sturköpfigkeit.

Im Zusammenhang mit diesen grundsätzlichen Fragen steht auch das Problem des Separatismus, also des Bestrebens einer nationalen oder ethnischen Bevölkerungsgruppe, sich aus dem Staat, in dem sie lebt, herauszulösen und einen eigenen souveränen Staat zu bilden. Zunächst einmal wäre es falsch zu sagen, dass wir wegen unseres Eintretens für das Prinzip der Staatssouveränität grundsätzlich gegen jeden Separatismus sein müssten. Denn Separatismus ist zunächst einmal eine innere Angelegenheit eines souveränen Staates und hat für sich genommen keinen Bezug zum internationalen Recht. Wenn in einem Land, unbeeinflusst von äußeren Kräften, Separatisten gegen eine Zentralregierung kämpfen und ihr schließlich das Zugeständnis eines eigenen Staates abringen, dann wird dieser formal durch einen einvernehmlichen Vertrag gegründet, und dagegen ist vom Standpunkt des Völkerrechts nichts zu sagen.

Eine über die rechtliche Bewertung hinausgehende Meinung über die Sezession dürfen wir natürlich trotzdem in jedem Einzelfall haben. Wenn Serbien morgen verkündet, dass es die Eigenstaatlichkeit des Kosovo akzeptiert und das Parlament eine entsprechende Urkunde ratifiziert, dann könnten wir zwar darüber schimpfen, was das für eine prinzipienlose Verräterbande sei, aber wir müssten zugeben, dass vom völkerrechtlichen Standpunkt nichts dagegen zu sagen ist. Um sich ganz korrekt auszudrücken, muss man also sagen, dass unsere Verteidigung völkerrechtlicher Prinzipien nicht die grundsätzliche Ablehnung des Separatismus einschließt, sondern die Ablehnung der völkerrechtswidrigen Instrumentalisierung des Separatismus durch äußere Mächte. Unsere Beurteilung spezieller separatistischer Bestrebungen hat natürlich diesen internationalen Kontext zu berücksichtigen. So unterliegt es keinem Zweifel, daß der kosovoalbanische Separatismus spätestens seit Beginn der imperialistischen Zerschlagung Jugoslawiens Anfang der 1990er Jahre kein fortschrittliches Element mehr enthält, falls dies vorher einmal der Fall gewesen sein sollte.

Die Rolle des kurdischen Separatismus in Syrien ist ein wenig komplizierter, weil die Imperialisten ihn nicht direkt zur Destablisierung Syriens benutzen. Sie setzen ja in erster Linie auf die islamistischen Terrorbanden, und gegen die kämpfen die Kurden gleichermaßen wie gegen die regulären syrischen Streitkräfte. Sie kämpfen gegen beide Seiten für ihre nationalen Interessen, die ihre politische Führung offenbar höher bewertet als die Bildung einer geschlossenen Front gegen den imperialistischen Krieg. Wenn man die Interessen der kurdischen Bevölkerung, der kurdischen Werktätigen betrachtet, ist selbst in Ansehung ihrer berechtigten nationalen Interessen nicht ersichtlich, wie ihnen mit der Zerstörung des syrischen Staates und dessen Verwandlung in ein Al-Qaida-Bollwerk gedient sein könnte. Offenbar nimmt man eine drastische Verschlechterung der Lage der kurdischen Bevölkerung in Kauf, nur um nicht einen Zentimeter vom separatistischen Standpunkt zurückzuweichen. Es scheint, dass hier die nationale Frage nicht als der Klassenfrage untergeordnet betrachtet, sondern das Interesse der Nation als etwas selbständig existierendes angesehen wird, und dies haben wir abzulehnen.

Schlußfolgerungen

Wir leben in einem Staat, der selbst imperialistisch ist. Die deutschen imperialistischen Bestrebungen sind zwiespältig. Einerseits macht Deutschland im transatlantischen Bündnis mit, unterstützt die Kriege der USA und der NATO direkt oder indirekt, ist aber in dieser Hinsicht auch von den USA unterjocht, die das politische System infiltriert haben und durch ihre militärische Präsenz die deutsche Souveränität untergraben. Andererseits tritt Deutschland als Führungsmacht der EU in Konkurrenz zu den USA. Alle genannten Aspekte laufen den nationalen Interessen der deutschen Werktätigen zuwider.

Die Ereignisse der letzten Wochen, die hysterische und heuchlerische Aufregung um die Ausspähung der Bundesregierung durch die US-Geheimdienste brachten ein neues Verhalten Deutschlands gegenüber den USA mit sich. Oder besser gesagt: Die angeblichen „Enthüllungen“ — als ob nicht jedem klar wäre, dass die USA alle westdeutschen Regierungen seit Adenauer eng überwachen und kontrollieren — dienten höchstwahrscheinlich als Vorwand für dieses neue Verhalten, das in der Einbestellung des US-Botschafters ins Auswärtige Amt gipfelte. Es gibt nur eine schlüssige Erklärung für dieses Theater: Diejenige Fraktion des deutschen Imperialismus, die mit dem US-Imperialismus konkurriert, erstarkt, und deshalb konnten Merkel und Westerwelle mit den USA in einer Weise sprechen, um die sie alle ihre Vorgänger beneidet hätten.

Wie sollten wir als internationalistische Aufklärer damit umgehen? Ist es richtig, sich in so einer innerimperialistischen Auseinandersetzung auf eine Seite zu stellen? Natürlich ist es richtig, die Gelegenheit zu ergreifen, um nicht nur unsere Ausspähung durch US-Geheimdienste, sondern auch die faktische Besetzung unseres Landes durch US-Truppen anzuprangern. Ob wir damit nicht dem deutschen Imperialismus in die Hände spielen? Ganz im Gegenteil! Wir würden die Werktätigen den deutschen Herrschenden in die Arme treiben, wenn diese als einzige von nationalen Interessen sprächen, die fortschrittlichen Kräfte aber davon schwiegen. Sprechen wir von den Verbrechen der USA gegen uns und loben wir die Einbestellung des Botschafters als adäquate Maßnahme. Dann finden wir bei den Menschen Gehör und können sie auch über die Gefährlichkeit des deutschen Imperialismus aufklären.

Diese Herangehensweise gilt auch allgemeiner. Wie soll man mit den oft unreflektierten Auffassungen von den nationalen Interessen umgehen, die in der Bevölkerung verbreitet sind? Wenn die Angst vor der angeblichen Islamisierung der Gesellschaft oder Überfremdung geäußert wird? Ist es klug, darauf mit der Attitüde eines Oberlehres zu antworten: Ihr seid dumme Rassisten, oder soll man denen, die so reden, nicht zuerst einmal zugestehen, dass ihre Gedanken aus einer im Prinzip berechtigten Sorge um den Fortbestand deutscher Kultur erwachsen, sollten wir die Sorge um den Fortbestand deutscher Kultur nicht zu unserer eigenen machen, um dann zu erklären, dass jede McDonald’s-Filiale der deutschen Kultur mehr schadet als eine Moschee, die niemandem Konkurrenz macht, sondern einfach nur da ist, zu erklären, dass das Zusammenleben verschiedener Kulturen in Deutschland zur Bereicherung unserer eigenen Kultur wird, sobald wir beginnen, diese zu pflegen.

Auch wird die Entlarvung des deutschen Imperialismus leichter verstanden, wenn man einen klaren Trennungsstrich zwischen den Imperialisten und dem Volk zieht und nicht in der Manier der Antideutschen den Eindruck erweckt, als würde man alle Deutschen mit dem deutschen Imperialismus identifizieren. Wenn man klar herausstellt, dass nicht die Deutschen böse sind, weil sie Krieg in Afghanistan führen, sondern dass die Herrschenden gegen uns selbst in Afghanistan Krieg führen.

Dies sind wenige Stichpunkte, um die Richtung anzudeuten, in der wir unsere Aufklärungsarbeit voranbringen sollten.

Noch ein Hinweis auf ein allgemeineres Problem: Wenn diese Gedanken auf Widerstand stoßen, so deswegen, weil sie als unvereinbar mit dem angesehen werden, was man unter „linkem Gedankengut“ zu verstehen meint. Um hier eine Klärung herbeizuführen, rege ich dazu an, das politische Begriffspaar Links/Rechts einer genauen Prüfung zu unterziehen. Dies wäre auch eine würdige Aufgabe für unser Freidenker-Projekt „Die Richtigstellung der Begriffe“. Was bedeutet Links und Rechts eigentlich? Ist links, was im Sinne der Arbeiterklasse ist? Damit könnte ich mich anfreunden.

Aber ist es nicht so, dass diese proletarische Begriffsbestimmung des Linken, vor allem durch den Einfluss der westlichen Studentenbewegungen der 1960er und 1970er Jahre, zugunsten bürgerlicher Einflüsse aufgeweicht worden ist? Wir sollten diese bürgerlichen Einflüsse aufdecken und verbannen und die proletarische Begriffsbestimmung wiederherstellen, dann wird auch der positive Bezug zu Nation und Heimat nicht mehr anrüchig erscheinen, wie aus der Sicht des bürgerlichen Kosmopolitismus, sondern als normale Äußerung der Lebenskräfte der Werktätigen aller Länder akzeptiert werden.

Sebastian Bahlo ist Referent des Verbandsvorstandes für Internationale Solidarität, der Text basiert auf seinem Vortrag auf der Freidenkerkonferenz am 9.11.2013 in Frankfurt am Main


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   Sebastian Bahlo: Heimat und Patriotismus – Unworte für Internationalisten? (Auszug aus FREIDENKER 1-14, ca. 200 KB)


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