Religions- & Kirchenkritik, Säkulare Szene

Religiöser Fundamentalismus

Aus FREIDENKER Nr. 2-06 Mai 2006, 67. Jahrgang, S. 4-6

von Helmut Steuerwald

Was versteht man heute unter Fundamentalismus? Der Begriff Fundamentalismus wird in der Gesellschaft unterschiedlich interpretiert:

Zunächst bedeutet der Begriff ja nichts anderes, als dass man zu den Fundamenten, zu den ursprünglichen Glaubensvorstellungen zurück will. Nehmen wir an: Eine Gruppe vertritt ein Christentum, das dem Urchristentum mit seinen recht menschlich anmutenden Vorstellungen von Toleranz, Liebe und Gemeinschaftssinn gleicht. Das klingt zunächst gut und wurde bzw. wird auch heute noch von kleinen Gruppen vertreten, ja man versucht dort sogar danach zu leben. Soweit diese Gemeinschaften dabei Toleranz zeigen, handeln sie im Rahmen demokratischer Glaubensfreiheit. Allerdings: Nach unserer Auffassung kann man nicht mit Vorstellungen von vor zweitausend Jahren die Probleme unserer gegenwärtigen Gesellschaft meistern und auf Dauer danach leben.

Solche Gruppen werden aber im allgemeinen Sprachgebrauch heute nicht als fundamentalistisch bezeichnet. In der Gegenwart verstehen wir etwas anderes darunter, besonders deshalb, weil sich christliche, konservativ-reaktionäre Gruppen in den USA schon seit Ende des 19. Jahrhunderts selbst fundamentalistisch nennen. Als reaktionäre Kräfte haben sie den aufkommenden Darwinismus angriffen und die biblische Vorstellung der Welterschaffung (den Kreationismus) als einzige Wahrheit gelten lassen.

Inzwischen ist der Begriff des Fundamentalismus im allgemeinen Sprachgebrauch angekommen und bezieht sich auf verschiedene religiöse Gruppierungen – wobei zurzeit sicherlich die islamische besonders im Blickpunkt steht. Heute versteht man meistens unter „religiösem Fundamentalismus“ – und so möchte ich ihn auch verstanden wissen – eine Anschauung, die nicht hinterfragt werden darf, da die vertretenen Aussagen angeblich göttlicher Natur sind. So ist zum Beispiel für islamische Fundamentalisten der Koran im Auftrag Gottes unmittelbar Mohammed mitgeteilt worden; auslegen können ihn nur ausgewählte Gelehrte, falls doch noch Unklarheiten für das praktische Leben bestehen. Für christliche Fundamentalisten ist es die Unumstößlichkeit biblischer Aussagen, für Katholiken nach wie vor die Unfehlbarkeit des Papstes, für die Juden die Thora, das Alte Testament.

Verbunden mit dem Fundamentalismus ist, da man ja an Gottes Wort nicht zweifeln darf, zwangsläufig die Anschauung, dass alle anderen Anschauungen falsch sind, und nur der eigene Glaube richtig sein kann. Man ist fanatisch, meist militant, intolerant, undemokratisch, vertritt extremistische Anschauungen, ja man zeigt sich unmenschlich. Auch wenn das gelegentlich bestritten wird: Religiös fundamentalistische Anschauungen haben immer einen politischen Charakter, sind politisch orientiert, sind meist auf der rechten extremistischen Seite angesiedelt und schließen sich öfter direkt oder indirekt politischen Bewegungen an bzw. unterstützen diese.

Trotz der aktuell fast ausschließlichen Fokussierung auf islamische Fundamentalisten in der öffentlichen Debatte sollten wir den christlichen Fanatismus und Fundamentalismus nicht unterschätzen. Nachdem wir in christlich geprägten Ländern leben, ist es unsere Hauptaufgabe, bei uns – in der westlichen Hemisphäre – gegen Unmenschlichkeit in ihren verschiedensten Facetten zu wirken. Hier müssen wir vor allem die Untaten christlicher Fundamentalisten – die ja in vielen Verhaltensweisen den islamistischen ähnlich sind – brandmarken.

Das Christentum hat in seiner blutigen Geschichte aus Fanatismus ganze Völker ausgelöscht, Kulturen zerstört. Kennzeichnend sind Zwangschristianisierung über Jahrtausende, Massenmorde an Andersdenkenden, Frauenfeindlichkeit, aber auch Rassismus bis in die Gegenwart. Erst mit der Entwicklung von Humanismus und Aufklärung konnte dem entgegengewirkt, konnten langsam Verbesserungen erzielt werden. Forderungen nach Verwirklichung grundlegender Menschenrechte und die Idee der Toleranz gewannen – meist im Kampf gegen die Kirchen – langsam an Bedeutung. Es ist allerdings bis heute vielerorts nicht gelungen, sie tatsächlich umzusetzen: am wenigsten in stark religiös ausgerichteten Nationen und Gebieten.

In der Geschichte hat die katholische Kirche und ihr zugehörige Gruppen durch Fanatismus die größten Verbrechen heraufbeschworen: Vernichtung Andersgläubiger, Hexenverfolgungen, Kreuzzüge, die Ermordung von Millionen Indianern im Rahmen der „Christianisierung“ Amerikas, Glaubenskriege usw. wurden meist von fanatisch-fundamentalistisch denkenden Päpsten und religiösen Führern propagiert und durchgeführt. Das geht bis in die neue Geschichte: denken wir nur an die Errichtung der faschistischen Franco-Regierung in Spanien oder an das „Ustascha-Regime“ im ehemaligen Jugoslawien. Mit Unterstützung vom damaligen Erzbischof Stepinac, der später vom Papst zum Kardinal erhoben wurde, wurden Hunderttausende Andersgläubige umgebracht. Papst Johannes Paul II. hat ihn im Jahr 2000 selig gesprochen.

Heute gibt es größere fanatische katholische Gruppen und Orden. Der moderner ausgerichtete Laienorden „Opus dei“ mit seinen extremistisch-konservativen, ja faschistischen Anschauungen und seinen dubiosen Arbeitsmethoden gehört z.B. dazu. Opus dei hat in Franco-Spanien einen großen Teil der Minister gestellt und hat sich immer wieder stark gemacht für rechts-extreme Diktaturen in Lateinamerika. In Führungsgremien des Vatikans ist die Bewegung stark vertreten und vor allem auch in Wirtschaftsunternehmen. Die auf strengen Gehorsam ausgerichtete Organisation ist intolerant, sie ist getragen von Männlichkeitswahn und Führungskult, sieht in den Frauen etwas Minderwertiges. Sie ist wirtschaftspolitisch modern ausgerichtet, sonst aber gegen eine aufgeschlossene moderne Gesellschaft.

Zunächst erscheinen evangelische Gruppen ‚harmloser’: Sie geben sich aufgeschlossener, demokratischer organisiert, zeigen weniger Gehorsam und Dogmatismus. Das trifft auf Teile der evangelischen Kirche zu. Es gibt aber gerade auch im Protestantismus Gruppierungen, die extrem fanatisiert und fundamentalistisch sind, auch bei uns in Deutschland. Vor allem im Rahmen der Freikirchen finden wir sie. Evangelische Fundamentalisten fühlen sich als die „Saubermänner“ der Nation, wenden sich gegen wissenschaftlichen Fortschritt, gegen den Darwinismus, gegen eine moderne Sexualmoral und sind natürlich gegen den Schwangerschaftsabbruch, ähnlich wie katholische Kreise. Hauptsächlich bei den Evangelikalen und in den Pfingstgemeinden finden wir viele Vertreter dieses Spektrums. Einige dieser Gruppen haben eng zusammengearbeitet mit Diktaturen in Südamerika, ja an Massakern gegen Indios in Mittelamerika mitgewirkt. Sie spielen gerade aber auch in der gegenwärtigen Politik der USA unter Präsident George W. Bush eine bedeutende Rolle als Scharfmacher.

Erstaunlich ist, dass auch die Baptisten, die größte protestantische Kirche der USA, die eigentlich als aufgeschlossener galt, enger und fundamentalistischer wird. So hat der Vorstand der Southern Baptist Convention mit ihren 16 Millionen Mitgliedern beschlossen, dass sich die Frauen in Zukunft ihren Männern „huldvoll zu unterwerfen haben“ (Nürnberger Nachrichten, 13./14.06.1998). Ein Weg zurück ins Mittelalter?

Wir sollten nicht in den Fehler verfallen den Islam pauschal zu sehen, weil hier fanatisierte Gruppen die westliche Welt in Angst und Schrecken versetzt haben. Im Islam kennt man – ähnlich wie bei uns im Christlichen Abendland – Bestrebungen, den Glauben auf der ganzen Welt durchzusetzen, weil er der einzig wahre sei. Bestrebungen die Welt zu beherrschen kennen wir zur Genüge: im Christentum vom Mittelalter bis in die moderne Zeit oder im Franco- und Hitlerfaschismus. Parallelen dazu finden wir auch in der islamischen Welt, etwa bei starren Fundamentalisten. Die Geschichte hat [indes] bewiesen, dass der Islam nicht aggressiver ist als das Christentum. Die Verbrechen der Kirchen von der Zeit Konstantins bis zur Gegenwart sind beredtes Beispiel dafür. Machen wir es uns bewusst: Man darf den islamischen Terrorismus nicht mit dem Islam gleichsetzen, genau so wenig wie wir den christlichen Terrorismus mit dem Christentum gleichsetzen dürfen.


Der Text setzt sich zusammen aus Auszügen aus einem Vortrag beim Bund für Geistesfreiheit (bfg) Fürth im November 2001. Helmut Steuerwald ist Diplomsozialpädagoge und hatte jahrzehntelang verantwortliche Funktionen im Bund für Geistesfreiheit in Bayern inne. Er ist Mitglied des DFV Nürnberg.


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