Religions- & Kirchenkritik, Säkulare SzeneWeltanschauung & Philosophie

Religion: Thesen

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-16, Dezember 2016, S. 3-17, 75. Jahrgang

Verbandsvorstand des Deutschen Freidenker-Verbandes e.V.

Diese Thesen standen zwei Jahre im Freidenkerverband zur Diskussion, das zum Verbandstag im Juni 2016 in Potsdam vorgelegte Ergebnis wurde in dessen Auftrag nochmals vom Verbandsvorstand bearbeitet. Es soll auch zur weiterführenden Diskussion einladen.

1   Entwicklung religiöser Über­zeugungen, ihrer Institutionen und der Religionskritik

1.1 Bedarf für religiösen Glauben

Weltweit erleben Religiosität und Religionen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen wieder einen Aufschwung. Um diese Entwicklung zu verstehen, muss man sich klarmachen: die Menschen haben nicht einfach Ideen, sondern sie reflektieren in ihnen ihr soziales und politisches Dasein. Dieses hat sich in den letzten Jahrzehnten weltweit negativ verändert. Nach dem Zerfall der sozialistischen Staatengemeinschaft herrscht der Imperialismus nahezu unumschränkt. Er hat mit permanenten Kriegen, ökonomischen und ökologischen Krisen sowie mit sozialer und kultureller Verwüstung die Lebenssituation und Zukunftsperspektiven der großen Mehrheit der Weltbevölkerung drastisch verschlechtert.

 

1.2 Das „wirkliche Elend“

Zwischen Religiosität und präsenter Religion einerseits und sozialökonomischer und politisch-ideologischer Situation andererseits besteht ein Zusammenhang, eine Wechselbeziehung. Denn die krisenhafte, durch den Imperialismus verursachte globale Entwicklung, die daraus resultierende Zunahme von Massenverelendung und auch von medienunterstützter geistiger Verunsicherung und Manipulierung ist nicht zu übersehen. Unübersehbar sind kriegerische Aktionen und Barbarei, Terror; Gewalt und andere militärische Auseinandersetzungen, Hunger und Krankheiten (bei völlig unzureichender medizinischer Versorgung) sowie Umweltzerstörungen in weiten Teilen der Welt. Unübersehbar auch die häufig fehlende, real erscheinende gesellschaftliche Alternative. All das hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das „religiöse Elend“ als „Ausdruck des wirklichen Elends …, (als) Seufzer der bedrängten Kreatur (und als) Gemüt einer herzlosen Welt“[1] Aufschwung erhielt und weiterhin erhält. Vorstellungen eines raschen „Verschwindens“ von Religiosität und Religion haben sich als übereilte Illusionen erwiesen.

 

1.3 Imperialistische Offensive

In jenen Regionen der Welt, die zur militärischen Zielscheibe der westlichen „Wertegemeinschaft“ wurden, ist die Bedeutung religiöser Bekenntnisse bzw. der Einfluss religiöser Organisationen gewachsen. Zum einen hat die systematische Zerstörung souveräner, im antikolonialen Kampf entstandener Staaten, dazu geführt, dass religiöse Organisationen oft die einzigen Institutionen sind, die eine rudimentäre Versorgung in Bezug auf Gesundheit, Bildung und Wohlfahrt übernehmen. Zudem sind sie zum Teil als einzige Kraft in der Lage, den Kampf gegen die westlichen Aggressoren zu organisieren. Ein Bekenntnis zu diesen Organisationen erscheint als die letzte Chance des Überlebens in einer vom Imperialismus zerstörten Staatlichkeit.

Andererseits ist es aber den westlichen Staaten gelungen, Teile der religiösen Organisationen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren: Religiöse Streitigkeiten werden genutzt, um die Menschen aufeinander zu hetzen und in den jeweiligen Heimatländern der NATO-Staaten wird diese barbarische Rekolonialisierung als Kampf gegen religiöse Fanatiker verkauft.

 

1.4 Gläubigkeit und Kircheneinfluss in Deutschland

Mit Blick auf die gesellschaftliche Bedeutung der christlichen Kirchen und die Bedeutung der Religion in Deutschland konstatieren wir zunächst steigende Kirchenaustritte, Sonntagsgottesdienste ohne Zuhörer und die Problematisierung des Religionsunterrichtes an den Schulen.

Solche Tendenzen sind jedoch nicht gleichbedeutend mit zunehmender weltanschaulicher Mündigkeit der Einzelnen und Anhebung des kulturellen Niveaus der Gesellschaft. Unter den Bedingungen der Marktkonkurrenz, die zu Egoismus und Isolierung der Einzelnen führt, gilt eher das Gegenteil. Es entstehen kommerziell motivierte quasi-religiöse Angebote, die entsprechend dem Grad der Vereinzelung nicht mehr als gemeinschaftliches Projekt, sondern als individuell käufliche und konsumierbare Waren den Menschen den Blick auf die Ursachen ihrer Verlorenheit verstellen.

Dennoch ist die Macht der traditionellen religiösen Organisationen ungebrochen, die sie nach wie vor mittels aktiver Lobbyarbeit in bewusstseinsbildenden Organisationen wie den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, den Kultusministerien etc. ausüben. Mehr noch: die gesellschaftliche Relevanz der Amtskirchen nimmt weiter zu. Das hat auch historische Ursachen.

 

1.5 Kirchliche Privilegien

Von Anbeginn existierte in der BRD zwar „keine Staatskirche“[2], aber die beiden großen Kirchen genossen zahlreiche Privilegien, „hinkende Trennung“ oder auch „wilde Ehe“ von Staat und Kirche genannt. Dies wird zunächst am Einzug der „Kirchensteuer“ durch den Staat offensichtlich, der vielfältigen Finanzierung der Kirchen aus Steuergeldern, an Religionsunterricht und theologischen Lehrstühlen bis hin zur „Militärseelsorge“.

Das 1952 von der Adenauer-Regierung der BRD verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz gilt explizit nicht für Religionsgemeinschaften. Ihnen wird die Definitionshoheit über die Ausgestaltung von Arbeitsverträgen in ihren Unternehmen zugestanden. Das Streikrecht gilt nicht (gegen Gott kann nicht gestreikt werden), das Privatleben ist nach den Grundsätzen der jeweiligen Dogmen auszurichten, Tariflöhne werden (mit Ausnahme der evangelischen Brandenburgischen Landeskirche) nicht gezahlt. Die evangelische und die katholische Kirche haben ca. 1,3 Mio Arbeitsverträge zu diesen abenteuerlichen Bedingungen abgeschlossen. Etwa 5% davon sind sogenannte Kirchenpersonen, also Personen mit ‚Verkündigungsauftrag‘, der Rest zivile Angestellte.

1961 wurde im Bundessozialgesetzbuch festgelegt, dass der Betrieb von Einrichtungen für öffentliche Angelegenheiten auch für freie Träger ausgeschrieben werden müsse. Den Zuschlag erhalten dann die kostengünstigsten Betriebe. Diejenigen, in denen der Gotteslohn dominiert und der Kündigungsschutz vom Wohlverhalten gegenüber der Bibel abhängt, haben da die besten Karten. Zudem dürfen diese Träger – im Unterschied zu kommunalen Einrichtungen – Beiträge erheben. In Zeiten klammer Haushaltskassen sind die Gottesfürchtigen also zunehmend die erste Wahl. Die sozialen Einrichtungen der Kirchen werden mittlerweile zu einem Großteil mit Steuergeldern finanziert (Krankenhäuser gar zu 100%).

SPD und FDP, die in Zeiten der Hochkonjunktur zumindest verbal für eine striktere Trennung von Staat und Kirche eintraten, haben ihre Argumentation an die Zeiten der Zerschlagung der Tarifvertragssysteme, der Angriffe auf den Kündigungsschutz und der Zerschlagung der sozialen Sicherungssysteme angepasst. Heute singen die staatstragenden Parteien ein Hohelied auf das „Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht“ der religiösen Gemeinschaften, denn nach der Weimarer Reichsverfassung ordnen und verwalten die „ihre Angelegenheiten selbständig“.[3] Der zweite Teil des Satzes „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ wird dabei regelmäßig negiert, denn das allgemeine Arbeits- und Tarifrecht, das Betriebsverfassungsrecht und selbst der Gleichbehandlungsgrundsatz gelten für kirchliche Arbeitsverhältnisse nicht.

Im Gegensatz zur BRD galt in der DDR die Trennung von Staat und Kirche auch in der Praxis. Nach dem Anschluss an die BRD 1990 wurde deren Staatskirchenrecht automatisch auf das Gebiet der DDR übertragen.

 

1.6 Zwiespältige Säkularisierung

Die Gleichzeitigkeit einerseits zunehmender „Religiosität“ im Sinne einer vermehrten Hinwendung zu traditionellen Religionen (und modischen „Ersatzreligionen“), sowie andererseits eines zunehmenden „Atheismus“ im Sinne fortschreitender Ausbreitung von areligiösem, weltlichem, wirklichkeitsbezogenem Bewusstsein und Verhalten, mag paradox erscheinen.

Aber der Widerspruch ist als Ausdruck von zwei gegenläufigen und zugleich zusammenhängenden Tendenzen zu begreifen. Beide Erscheinungen beruhen auf denselben materiellen Prozessen der Gesellschaftsentwicklung. Einerseits verändern Wissenschaft, Technik, Industrialisierung, Verkehr und Kommunikation in tiefgreifender Weise das Bewusstsein dadurch, dass der Mensch sich selbst als Gestalter seiner eigenen Lebensbedingungen, als den „Schöpfer seiner selbst“ erfährt. Der moderne Gesellschaftsprozess vermittelt ein Alltagsbewusstsein, in welchem die Gottesvorstellung zunehmend bedeutungslos ist. Insofern ist die Säkularisierung ein objektiver gesellschaftlicher Prozess. Er wirkt unweigerlich auch in Ländern, deren Kultur stark von Religion geprägt ist, indem diese in die Weltwirtschaft integriert werden.

Doch die fortschreitende Säkularisierung erfolgt unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaftsformation, durch welche in der allgemeinen Krise die soziale Lage von großen Menschenmassen, nicht nur in armen Ländern, nachhaltig erschüttert wird. Säkularisierung verbreitet sich im Rahmen eines imperialistischen Weltsystems, in dem eine Handvoll mächtige Länder den Rest der Welt dominieren. Westliche Einmischung und Angriffskriege haben nicht nur bestehende Staatsordnungen und Volkswirtschaften unterminiert und zerstört. Sie haben auch säkulare Weltanschauungen abgewertet, die von den Ideen der nationalen Würde und Selbstbestimmung sowie fortschrittlicher, sozialistischer Gesellschaftsentwicklung be­stimmt waren. So entsteht geistige Leere, in der viele Menschen wieder Halt und Orientierung an religiösen Vorstellungen suchen. Es ist kein Zufall, dass nach dem Untergang der Sowjetunion in Russland die moralischen Werte des orthodoxen Christentums, wie übrigens auch anderer Religionen, eine neue Wertschätzung als Orientierung erfahren haben und als geistige Elemente nationalen Zusammenhalts und internationaler Selbstbehauptung eine wichtige Rolle spielen.

In den Ländern des Vorderen und Mittleren Osten war der Islam lange Zeit auf dem Rückzug vor den konkurrierenden säkularen Ideologien des Nationalismus und Sozialismus. Es ist im Wesentlichen ein Resultat imperialistischer Einmischung und Gewaltpolitik, insbesondere der USA und Israels, dass islamisch geprägtes weltanschauliches Bewusstsein wieder auf dem Vormarsch ist.

Der politische Islam erscheint aber nicht, wie oft suggeriert, allein in der Ideologie von Terrorgruppen, im Wahhabismus und Takfirismus, die der offiziellen Religion der pro-imperialistischen Dynastie der Saudis entspringen. Vor allem sind islamische Bewusstseinsformen, insbesondere in Iran, Libanon und Syrien, eine unverzichtbare religiöse Ressource des patriotischen Widerstands.

 

1.7 Religionskritik der Freidenker

Religionskritik erfordert ein Mindestmaß an Kenntnissen von Glaubensinhalten, Wesen, sozialen Wirkungen sowie der Geschichte und Wandelbarkeit von Religionen. Beachtung sollten dabei auch neuere, nichtkonservative, humanistische und antimilitaristische Tendenzen in der Entwicklung der Religionen (bzw. deren Theologien) finden.

Auch wenn sich die globale Situation geändert hat, wenn es auch in Europa und in Deutschland partielle Verschiebungen gibt, muss der Deutsche Freidenker-Verband seine Positionen zu Religiosität und Religionen nicht prinzipiell neu bestimmen. Diese sind schon in der Berliner Erklärung von 1994 klar und eindeutig fixiert. Auch die zum Dialog mit Gläubigen und zu unserer Haltung gegenüber Kirchen und Klerikalen. Es heißt dort:

  • Trotz teilweise tiefer weltanschaulicher Gegensätze zwischen dem, was wir unter freiem Denken verstehen, und dem religiösen Glauben, treten wir für Dialog und Zusammenarbeit mit allen Gläubigen ein, die sich für die Verwirklichung des Humanismus einsetzen. Wir wollen die Konfrontation der Ideen zum Zweck der Kooperation im Handeln. Wir erwarten von den Persönlichkeiten und Institutionen der Kirche, dass sie ebenfalls auf den humanistischen Dialog setzen und nicht auf den kräftezehrenden Kampf gegen Andersdenkende und deren Geistesfreiheit.
  • Wir lassen uns davon leiten, dass die religiöse Frage der Sicherung des Überlebens der Menschheit und der Schaffung menschenwürdiger Zustande untergeordnet werden muss.
  • Unsere Religionskritik ist nicht gegen religiöse Menschen oder die Religion „an sich“ gerichtet, sondern gegen jegliche Form des Klerikalismus, den politischen Missbrauch der Religion und der religiösen Gefühle der Menschen, gegen religiösen Fundamentalismus Dogmatismus und Fanatismus und gegen die „Allianz von Thron und Altar“, also gegen jegliche Form des Staatskirchentums.

In diesem Sinne verstehen wir Religionskritik als Gesellschaftskritik.

 

2   Das Phänomen Religion aus philosophischer und historischer Sicht

2.1 Was aber sind Religionen?

Religionen beziehen sich auf eine jenseitige (immaterielle) Macht (bzw. Mächte oder Prinzipien), auf etwas geistig Transzendentes, Heiliges, von dem der Mensch in irgendeiner Weise abhängig ist, bestraft und ggf. (meist erst jenseitig) belohnt werden kann. Religionen haben z. T. eine sehr lange Geschichte und Traditionen, die von Generation zu Generation, ggf. variiert, weiter gegeben werden. Aber auch nicht wenige Religionen sind heute ganz verschwunden. Religionen „pflegen“ bestimmte Riten, Zeremonien und Kulthandlungen, die bei den Gläubigen ein Gemeinschaftsgefühl manifestieren, auch über soziale Schranken hinweg. Dafür bedürfen Religionen kundiger, meist speziell ausgebildeter Personen (z. B. Priester, den Klerus, Imame, Rabbinen). Religionen berufen sich auf heilige Schriften oder Bücher. Religionen können Moralvorschriften und Lebensorientierungen geben, oft für jedwede Lebens- und Grenzsituation, können ggf. Trost und Geborgenheit vermitteln.

Religionen sind fast immer auch Erklärungsversuche für das Weltganze. Sie besitzen Weltanschauungscharakter, ohne auf eine generelle Welterkenntnis zu zielen, ja objektiv zielen zu können.

Manche Religionen beziehen sich (häufig indirekt) auf philosophische, meist idealistische Systeme im weitesten Sinne oder haben solche in sich aufgenommen (das Christentum etwa den Stoizismus und den Neoplatonismus aus der Spätantike). Andere Religionen, etwa bestimmte Richtungen des Islam oder das Christentum im Mittelalter, sind stärker politisch, teils sogar theokratisch orientiert. Hinduismus und Buddhismus legen größeren Wert auf spirituelle Aspekte. Überschneidungen finden sich in nahezu allen Religionen und insbesondere bei deren Rezeption und Ausübung durch den einzelnen Menschen. In Mode gekommen, besonders bei Jüngeren, sind „neue“ Religionen bzw. „Patch-Work-Religionen“, die Inhalte und Riten verschiedener Religionen kombinieren.

 

2.2 Die Anfänge

Entgegen häufig geäußerter Auffassung ist der Mensch die weitaus längste Zeit seiner Existenz ohne Religion ausgekommen (übrigens auch ohne Kriege![4]). Gemeint ist die Zeit der Prä-Geschichte, in der das gesellschaftliche Sein des Menschen noch so primitiv war, dass sein Bewusstsein ausschließlich an die Praxis gebunden und daher nicht imstande war, abstrakte religiöse Vorstellungen zu entwickeln.

Zwar erlebten die als Sammler und Jäger lebenden Menschen Ängste vor bestimmten Naturereignissen wie Blitz und Donner, Hagel und Unwetter, Überschwemmungen und Dürreperioden, auch vor dem Tod. Die natürlichen Ursachen dafür aber blieben ihnen aus Unverständnis verschlossen.

Erst mit der beginnenden Abspaltung geistiger von manuell-körperlicher Tätigkeit konnten langsam Deutungsversuche für solche Erscheinungen entstehen. Obwohl das historisch einen gewaltigen kulturellen und sozialen Fortschritt markierte, mussten diese Versuche zwangsläufig spekulativ bleiben. Sie mündeten u. a. in Jagdmagie, Fruchtbarkeitskulte, Bestattungszeremonien und Grabbeigaben – Anfänge religiöser Vorstellungen und Praktiken (z. B. Schamanismus), die z. T. mit den Anfängen künstlerischer Entäußerung verbunden blieben (Höhlenmalerei, Venusstatuetten etc.).

Religionen sind bis heute ein wichtiger Kulturfaktor in den unterschiedlichsten Gesellschaften und Regionen geblieben!

 

2.3 Erkenntnistheorie

Die historischen Anfänge von Religiosität und Religion legen zugleich eine ihrer Wurzeln (Quellen) bloß. Es handelt sich um die erkenntnistheoretischen (gnoseologischen) Wurzeln.

Sie sind in einem objektiven Widerspruch begründet. Die Welt ist raum-zeitlich mikroskopisch wie makroskopisch unendlich, und sie befindet sich in permanenter Veränderung. Darum ist auch ebenso unser Erkenntnisprozess unendlich, andererseits aber das Wissen über diese Welt zu jedem Zeitpunkt endlich. Lücken zwischen Erkanntem und (Noch-)Nichterkanntem bieten jedoch immer Raum für Spekulationen, darunter auch für religiöse Deutungen. Diese (zeitweiligen!) Lücken gab es immer und wird es immer geben. Auch deswegen ist es äußerst problematisch zu behaupten, Religiosität und Religionen beruhen lediglich auf mangelnder Welterkenntnis.

Erkenntnisgewinn führt zwangsläufig zur selektiven Infragestellung bestimmter religiöser bzw. theologischer Vorstellungen, evtl. auch zu deren Korrektur oder Preisgabe, und unstreitig hat die Wissenschaft jedem religiösen Glauben manch tiefe Wunde geschlagen und ihn zu „Frontbegradigungen“ gezwungen. Sie tut es permanent noch heute. Aber daran ist der Glaube eben nicht gestorben und wird daran auch nicht sterben. Und Gott ist auch nicht „tot“.

Die Wissenschaft allein ist nur bedingt tauglich, gegen verinnerlichte religiöse Mythen, Bilder und Legenden anzugehen. Genau das ist auch die Grenze, an die jeder lediglich nur auf (natur-) wissenschaftliche Indizien gründende Atheismus stößt. Das gilt gleichermaßen für den sog. „neuen“ Atheismus.

Im Lichte der Wissenschaft wird es kein letztes, nur noch aufzudeckendes „Schlupfloch“ für Gott geben, denn für Religiosität kann bzw. wird immer wieder noch eins gefunden werden.

 

2.4 Gesellschaftliches Bewusstsein

Die Entwicklung der Menschheit führte über die großen Arbeitsteilungen und der sukzessiv entstehenden Ungleichverteilung bei der Aneignung des Mehrprodukts zur schrittweisen Herausbildung eines „Oben und Unten“, der Klassenteilung und der Staatenbildung. Die „Oberen“, eine Koalition von politischer und geistig-religiöser Macht, nutzten bestehende und auch eigens dafür entwickelte und „gepflegte“ religiöse Vorstellungen für die Erklärung der realen sozialen Ungleichheit und zugleich als Begründung der Machtverhältnisse und deren Manifestierung. Es wurde suggeriert, dass die bestehende Ordnung von Gott und Göttern gewollt und unveränderbar sei. Die wahren sozialökonomischen Zusammenhänge sollten für die unteren Schichten weitgehend undurchschaubar und unerklärlich bleiben. Religionen wurden auf diese Weise ideologisch, und sie wurden zu einer Form des gesellschaftlichen Bewusstseins.

Hier sehen wir eine zweite Wurzel der Religionen, die gesellschaftliche bzw. soziale. Diese gesellschaftliche (sozialökonomische) Wurzel der Religion ist an die Existenz der Gliederung der Gesellschaft in Klassen (nicht nur antagonistischer!) gebunden. Zwischen ihr und der erkenntnistheoretischen Wurzel besteht keine starre Grenze. Sie hat aber, im Unterschied zur erkenntnistheoretischen Wurzel, keinen Ewigkeitscharakter. Als Form des gesellschaftlichen Bewusstseins steht Religion in einem engen Wechselverhältnis zu den jeweils realen gesellschaftlichen Verhältnissen.[5]

 

2.5 Fanatismus und „Missbrauch“ der Religion

Der weitere Verlauf der Geschichte der Klassengesellschaften machte deutlich, dass Religionen und religiöse Vorstellungen bald und intensiv dazu gebraucht, richtiger: missbraucht wurden, die Ausbeutung nach innen zu verschärfen und nach außen Kriege im Namen eben dieser Religion zu führen.

Die Religionsgläubigkeit und Frömmigkeit der Menschen ausnutzend, wurde (und wird!) gegen Andersgläubige – propagandistisch begründet gegen „Ungläubige“ und Heiden – blutig zu Felde gezogen. Keine der sogenannten Weltreligionen blieb daran unbeteiligt, und die Geschichtsbücher sind angefüllt von Intoleranz, von Verbrechen bis hin zu terroristischen Aktionen und Völkermord – gerechtfertigt mit religiösen Versatzstücken.

Der religiöser Fanatismus tritt aktuell insbesondere in den Kriegsszenarien im arabischen Raum in Erscheinung: Im Judentum als Zionismus, insofern er den Landraub und die Vertreibung und Entrechtung von Palästinensern mit religiösen Anrechten des jüdischen Volkes rechtfertigt. Im sunnitischen Islam als Takfirismus, der die Verfolgung und Tötung von Ungläubigen, einschließlich der zu Ketzern erklärten Muslime, insbesondere der Schiiten, rechtfertigt, also die Praxis der terroristischer Gruppen wie Al-Qaida, Daesh („IS“) etc., die ideologisch und materiell aus den pro-westlichen Golfstaaten unterstützt werden. Im Christentum als fanatisierte Evangelikale, Katholiken und Mormonen, die in den USA, in „god’s own country“, sowohl gegen staatliche Daseinsfürsorge zu Felde ziehen als auch dem gelobten Land und seinen Verbündeten jedwede ideologische Missionierung und Einmischung in anderen Ländern zugestehen.

Die Kriminalgeschichte der Religionen, die nur ein Ausdruck des gewalttätigen Charakters der Klassengesellschaft ist, stellt insofern auch kein überzeugendes Argument gegen die Religion an sich dar, zumal der religiöse Fanatismus immer auch im Namen des wahren Wesens der Religion bekämpft worden ist, so der Zionismus als antijudaistisch, der Takfirismus als unislamisch, der Evangelikalismus als extremistisch-fundamenta­listisch.

 

2.6 Basis für Reaktion oder Fortschritt

Kaum ein religiöses System ist in sich geschlossen oder gar abgeschlossen. Das erklärt die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit vieler Religionen. Es erklärt aber auch die Möglichkeit differenzierter Interpretationen der Widersprüchlichkeiten in religiösen Texten. Auf diese Weise kann Religion sogar Vehikel für den Widerstand gegen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse werden, Motivation und aktives Handeln für politisch progressive Kräfte. Auch dafür liefert die Geschichte Europas zahlreiche Beispiele: die Bewegung der Katharer und Waldenser, die Wiedertäufer, die Reformationsbewegung in Deutschland, besonders die Theologie eines Thomas Müntzer, die Bekennende Kirche in der Zeit des deutschen Faschismus und aktuell die Theologie der Befreiung in Lateinamerika usw.

Nach Karl Marx ist Religion nicht nur Ausdruck des wirklichen Elends und Opium des Volks, sondern zugleich auch Protestation gegen dieses Elend. Dazu schreibt Jan Rehmann: „Auch religiös inspirierte Bewegungen können die illusorische und zugleich lähmende Eigenschaft religiösen Opiums überwinden, wenn es ihnen gelingt, den ‚Seufzer der bedrängten Kreatur’ mit fundierter Kapitalismuskritik … zu verbinden“.[6] Andererseits muss jede einseitige Orientierung des religiösen Glaubens auf ein Jenseits, auf eine Erwartung eines „ewigen Lebens“, zwangsläufig zur Lähmung in der Auseinandersetzung und der progressiven Veränderung der diesseitigen Welt führen.

 

3   Marxistische Religionskritik und Freidenkerbewegung

3.1 Geschichte und Formen der Religionskritik

Die Geschichte der Religionen wurde fast von Anfang an begleitet von der Kritik der Religionen. Religionskritik hinterfragt oder bezweifelt Religiosität und Religionen, deren Glaubensaussagen, Dogmen und Konzepte, auch Institutionen und Organisation. Religionskritik kann rational und/oder moralisch-ethisch sein. Sie ist aber nicht sofort gleichzusetzen mit genereller Infragestellung der Religion. Das aber bedeutet auch, dass Religionskritik nicht automatisch Atheismus ist.[7]

Es gibt aber bis in die Antike zurückreichende religionskritische (tendenziell auch atheistische) Denker, von vielen Vorsokratikern, insbesondere den atomistischen Materialisten bis hin zu Aristoteles und Epikur samt deren Schulen.

Auch im Mittelalter, bei religiöser Überformung des gesamten gesellschaftlichen Überbaus, fehlten religionskritische Stimmen keineswegs. Viele Scholastiker wurden zum Widerruf bestimmter Thesen und auch ganzer Werke durch die Kirche verurteilt oder gar durch die Inquisition „peinlich befragt“, um evtl. danach auf dem Scheiterhaufen zu landen. Unzählige Schriften wurden verboten und verbrannt. Nahezu alle Religionen erwiesen sich nicht nur religionskritischen Auffassungen gegenüber als intolerant und fundamentalistisch, sondern auch gegenüber der jeweils anderen Religion. Ein Wesenszug war und ist teilweise noch immer auch eine gewisse Wissenschaftsfeindlichkeit, aus der Befürchtung heraus, die Deutungshoheit bzw. das Monopol über einen wesentlichen geistigen Bereich zu verlieren und im Widerstreit von (religiösem) Glauben und Wissen Niederlagen einzustecken.

 

3.2 Aufklärungsbewegung

Das Freidenkertum nahm seinen Anfang Ende des 17./Anfang des 18. Jahrhunderts in England ebenfalls als religions- und kirchenkritische Bewegung. Im Interesse des aufstrebenden Bürgertums ging es um die Emanzipation von der politisch-ideologischen Macht der Kirche(n). Die Entwicklung ging vom Deismus über den Pantheismus bis hin zum Atheismus der (englischen) Aufklärung.

Stärker als die meisten Aufklärer Englands, später auch Deutschlands, strebte die Mehrheit der französischen Aufklärer, besonders die Enzyklopädisten im 18. Jahrhundert, nicht bloß die Überwindung konfessioneller Streitereien an. Sie forderten im Namen der Vernunft gegen jedweden Glauben die Überwindung der Religionen zugunsten eines an den Naturwissenschaften orientierten Atheismus. Ihr Hauptfeind war die Kirche, ihre Philosophie war radikal, bürgerlich-progressiv und tendenziell materialistisch.

 

3.3 Ludwig Feuerbach

Ludwig Feuerbach, aus der linkshegelianischen Schule kommend, wandte sich nach der philosophischen Epoche des deutschen Idealismus wieder dem philosophischen Materialismus zu. In seinem Werk „Das Wesen des Christentums“ (1841) polemisiert er kritisch gegen die Religion und kennzeichnet sie als Projektion des menschlichen Wesens. Für ihn ist Gott nur der an den Himmel projizierte Selbstausdruck des menschlichen Selbstbewusstseins. Mit der Vorstellung Gottes stellt sich der Mensch seinem eigenen Wesen gegenüber, mache es sich aber als Objekt seiner Sehnsucht gegenständlich anschaulich. Feuerbach schreibt: „Denn nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel steht, sondern der Mensch schuf…Gott nach seinem Bilde.“

 

3.4 Karl Marx

Karl Marx sah im Wirken Feuerbachs den Höhepunkt des bürgerlichen Atheismus, knüpfte kritisch an ihn an und überwand dessen subjektive Sicht der Wirklichkeit. Feuerbachs Religionskritik endet dort, wo Marx‘ eigener Neuansatz seinen Anfang nimmt. Das letzte Wort Feuerbachs ist die theoretische Kritik der Religion und die Postulierung eines abstrakten Humanismus. Marx hingegen war sich darüber klar, dass eine bloße theoretische Kritik nicht ausreicht, um die Emanzipation des Menschen herbeizuführen. Der Kampf gegen die Religion steht für ihn darum nicht im Zentrum, denn jede Religion hat objektive materielle und geistige Grundlagen. Die Waffe der Religionskritik muss selbst hinsichtlich ihrer Wirkmöglichkeit kritisch durchschaut werden. Als Fazit ergibt sich: Materielle gesellschaftliche Verhältnisse sind nur durch die materielle Aktion veränderbar.

Deshalb muss von der Kritik des Himmels zur Kritik der Erde, von der Kritik der Religion zur Kritik der Politik und der tatsächlichen sozialökonomischen Verhältnisse übergegangen werden. „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“[8]

Wir geben den Marx‘schen Standpunkt nicht adäquat wieder, wenn wir ihn schlechthin verkürzt als „Atheismus“ bezeichnen und es dabei bewenden lassen. Vielmehr ist der Marxismus hier sowohl der Fortsetzer als auch der Kritiker des Atheismus in einem. Er stellt die dialektische Negation des (bürgerlichen) Atheismus dar. Das gilt ebenso für den aktuellen, vemeintlich „neuen“ Atheismus.

„Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“[9] Gerade darum kritisiert Marx auch Feuerbachs (und Hegels) rein individualistischen, dem Idealismus verhafteten Ansatz und stellt ihnen seine berühmten „Thesen über Feuerbach“ entgegen, die in der 11. These gipfeln:

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“[10]

 

3.5 Organisierte Freidenker

Die organisierte Freidenkerbewegung in Deutschland hat sich diesen Überlegungen nicht sofort und auch nicht gleich in Gänze angeschlossen.

Ihre Entwicklung im 19. Jahrhundert entstammt zweier Wurzeln. Einmal die sogenannten Freireligiösen und Freigeistigen, die sich nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution in Deutschland organisatorisch von den (christlichen) Großkirchen gelöst haben, weil diese Partei für die Reaktion ergriffen hatten. Bei Freireligiösen und Freigeistigen fanden und finden auch Gläubige ihren Platz, die der Dogmatik der Amtskirchen nicht mehr folgen, die nicht unbedingt an einen personalen Gott, aber jedenfalls an ein höheres Wesen, ein übersinnliches Prinzip o.ä. glauben.

Eine andere Quelle bildeten die Erkenntnisse der aufstrebenden Naturwissenschaften. Nicht wenige (mechanisch-)materialistisch orientierte Naturwissenschaftler versuchten, breite Kreise des Volkes atheistisch zu erziehen und naturwissenschaftlich zu bilden. Sie hinterfragten z. B., ob die Ergebnisse der Naturwissenschaften mit dem Konzept einer immateriellen Seele, eines personalen Gottes und eines freien Willens vereinbar sind. Dabei kamen sie zu antireligiösen und antikirchlichen Schlussfolgerungen.

Die Beschränkung des bürgerlichen Atheismus auf eine Kritik der Ideen wurde mit den Arbeiten von Marx und Engels zum dialektischen Verhältnis von tätigem sozialen Sein und dessen Reflektion überwunden. Und mit dem Erstarken der organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland wurde die Religions- und Kirchenkritik auch konkret. Der 1905 gegründete marxistisch orientierte Verein für Feuerbestattung bot Jugendweihen, Eheschließungen und Trauerfeierlichkeiten an und brach somit das Monopol der Kirchen auf diesem Gebiet. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelte sich hieraus eine Massenbewegung.

Der Deutsche Freidenker-Verband steht in dieser Tradition.

 

4   Toleranz, Gleichberechti­gung, humane Gesellschaft

4.1 Freie Selbstverwirklichung

Freidenker sind weltanschaulich einem philosophischen Materialismus verpflichtet, wir setzen auf die Vernunft und streiten für eine Gesellschaft freier und gleichberechtigter Menschen. Daher heißt es in unserer Berliner Erklärung: „Das Grundprinzip einer menschenwürdigen Gesellschaft muss die volle und freie Entfaltung jedes Individuums sein“. Jedes Individuums, wohlgemerkt! Dieses Prinzip bestimmt auch unser Verhältnis zu Religionen, zu Gläubigen und zu Kirchen.

Unsere grundlegende Überzeugung ist es, dass es weder für das Verstehenwollen und Verstehen der Vorgänge in der Welt noch für die persönliche Konfliktregelung und positive Lebensgestaltung nötig ist, auf religiöse Vorstellungen zurückzugreifen. Vielmehr stützen wir uns auf die Erkenntnisse der Wissenschaft und die widersprüchlichen Erfahrungen der Geschichte.

 

4.2 Dialog und Zusammenarbeit

Zugleich bedenken wir: Jeder Mensch prägt seine Sicht von der Welt und seine daraus erwachsende Lebenseinstellung unterschiedlich aus. Dieser Prozess ist bekanntlich nie endgültig abgeschlossen, in ihm entstehen vielmehr immer wieder neue Themenbereiche und damit verknüpfte Probleme. Es tauchen Fragen auf, z. B. nach moralischen Normen, nach Maßstäben für Recht und Unrecht, für soziale Gerechtigkeit, für Schuld, Gewissen und eigene Verantwortung. Sie bedürfen immer auch neuer Antworten, die freilich notwendig auch unterschiedlich ausfallen können und müssen.

In diesem Kontext sind aber Inhalte eingebettet, die sich – bildlich gesprochen – diagonal über die Gesellschaft legen, unabhängig von der jeweiligen Weltanschauung oder Religion.

Es seien nur wenige Stichworte mit weltanschaulicher Relevanz genannt:

  • Höhen und Tiefen des Lebens, Konfliktbewältigung in komplizierten Lebens- und Grenzsituationen,
  • Fragen des Umgangs mit Andersdenkenden, Anderslebenden, Andersglaubenden: in der Familie, in der Welt der Arbeit, in der Rechtsstaatlichkeit der Gesellschaft,
  • Sozial- und Solidarverhalten unter den Bedingungen eines sich zunehmend brutalisierenden und globalisierenden Kapitalismus,
  • Krankheit und Behinderung, Alter und Tod; Sterbehilfe; Alkohol- und Drogensucht,
  • Partnerschaftliches Zusammenleben, Liebe, Sexualität (auch Homosexualität), Schwangerschaftsabbruch, In-Vitro-Befruchtung, Ehe, Freundschaft, Gleichstellung der Geschlechter,
  • Manipulation und Bewusstseinsbildung der Menschen, Aufklärung gegen Volksverdummung,
  • Globale Probleme und Konflikte, Unterdrückung, Armut und Reichtum in der Welt, Schutz der natürlichen Umwelt,
  • Aufrüstung und Kriege, Remilitarisierung, Terror in der Welt,
  • Kampf um den Frieden, für Friedenssicherung und Abrüstung.

Da solche Problemfelder real in der Gesellschaft existieren, suchen wir darüber den Dialog, unabhängig von weltanschaulich-religiösen Überzeugungen der Menschen.

Erfahrungsgemäß werden Vorstellungen und Aktivitäten zu gesellschaftlichen Problemlösungen eher von der sozialen Lage als von weltanschaulichen Überzeugungen geprägt. Freidenker begrüßen die Teilnahme gläubiger Menschen an den Kämpfen für Frieden, Menschenrechte und sozialen Fortschritt, und erachten sie für unverzichtbar. Die gemeinsamen praktischen Aktivitäten haben auch Vorrang vor der Auseinandersetzung um die „richtige“ weltanschauliche Motivation, in der Zusammenarbeit treten wir für die Orientierung auf Vernunft und Rationalität ein.

 

4.3 Toleranz und ihre Grenzen

Die Orientierung auf gemeinsames Handeln bei der Lösung der drängendsten Probleme beinhaltet notwendig Toleranz gegenüber Andersdenkenden und somit auch gegenüber gläubigen Menschen. Toleranz bedeutet Respektierung des „Anderen“, nicht, dieses auch zu teilen. Es bedeutet nicht Ignorieren oder Gleichgültigkeit, sondern Auseinandersetzung und „Konfrontation der Ideen“.

Toleranz ist in diesem Sinne Ausdruck einer humanistischen, im weitesten Sinn auf Wahrheitssuche und Sinngebung des Lebens gerichteten Haltung. Toleranz bedeutet nicht Verzicht auf die Klärung jedweden Wahrheitsanspruchs. Toleranz kann es nur dann geben, wenn es zwischen den unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Auffassungen und Überzeugungen genau zu diesem Anspruch einen verbindenden, gemeinsame Handlungen ermöglichenden Konsens gibt oder er wenigstens sichtbar angestrebt wird.

Toleranz hört für Freidenker gegenüber Menschenfeindlichkeit, Kriegs- und Völkerhetze, Rassismus, Faschismus, religiösem Fundamentalismus usw. selbstverständlich auf.Religiöse oder religiös begründete Praktiken, die gegen persönliche, soziale und politische Grundrechte verstoßen, sollten ebenfalls nicht toleriert werden: die Begründung der Kirchenmitgliedschaft durch die Taufe nicht einwilligungsfähiger Säuglinge, Beschneidungspraktiken bei Unmündigen, verschärfte Ausbeutung in kirchlichen und kirchennahen Einrichtungen unter Verweigerung sozialer Grundrechte, Berufsverbote mit religiöser Begründung sowie die Zwangsteilnahme an religiösen Riten im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen.

 

4.4 Trennung von Staat und Kirche

Der Deutsche Freidenker-Verband ist Interessenvertreter religionsfreier Menschen, seine Mitglieder sind links und areligiös, aber nicht notwendig antireligiös orientiert. Sie sind aber antiklerikal und kämpfen energisch gegen den politischen Missbrauch der Religionen und der religiösen Gefühle der Menschen, gegen religiösen Fundamentalismus, Dogmatismus und Fanatismus und gegen die „Allianz von Thron und Altar“, also gegen jegliche Form des Staatskirchentums. (siehe dazu auch These 1.5)

Darum fordert unser Verband die strikte Trennung von Kirche und Staat, von Kirche und Schule. Das bedeutet u. a.:

  • die Einhaltung der im Grundgesetz festgeschriebenen religiösen bzw. weltanschaulichen Neutralität des Staates,
  • die Abschaffung des staatlichen Einzugs der Kirchensteuern, der ohnehin eine Bevorzugung der Großkirchen und eine Benachteiligung der kleineren Religionsgemeinschaften (diffamierend Sekten genannt) darstellt,
  • die Abschaffung der Staatsdotationen an die Kirchen (ausgenommen für Zwecke der Denkmalpflege und des Erhalts kulturellen Erbes),
  • die Aufhebung der Staatsleistungen zur „Wiedergutmachung“ der Säkularisierung des Kircheneigentums im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803,
  • Wir fordern auch die Kündigung von Staatsverträgen mit der Kirche, die z. T. noch auf das Reichskonkordat zwischen Nazideutschland und dem Vatikan Bezug nehmen.
  • Wir betrachten den Religionsunterricht als Angelegenheit der Kirchen und der Religionsgemeinschaften. An staatlichen Schulen hat er nichts zu suchen. Das schließt nicht aus, grundlegende Kenntnisse zu Religionen, deren Inhalten und deren Geschichte zu vermitteln (vgl. das Modell LER in Brandenburg). Statt missionarischer Glaubensunterweisung in Form des konfessionellen Unterrichts ist eine Erziehung zur weltanschaulichen Mündigkeit und Selbstbestimmung erforderlich. Die Regelschule nach dem Grundgesetz muss die bekenntnisfreie Schule werden.
  • Das Studium der Theologie, gleich welchen Glaubensbekenntnisses, ist ebenso Angelegenheit der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Darum sind theologische Lehrstühle an öffentlichen Hochschulen und Universitäten abzuschaffen bzw. auszugliedern.
  • In staatlichen Einrichtungen und Institutionen wollen wir außer einer obligaten staatlichen Symbolik keine religiösen Artefakte (Kruzifixe u. a.) haben.
  • Wir fordern insbesondere die Abschaffung der Militärseelsorge und lehnen ein „humanistisches“ Pendant zur „ethischen“ Wehrertüchtigung ab.

 

4.5 Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung

Wird in Deutschland der im Grundgesetz verankerte Artikel 137 der Weimarer Verfassung überhaupt ernst genommen, der auch den deutschen Freidenker-Verband als Weltanschauungsgemeinschaft mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften gleichstellt?

Müsste ihm und dem Status quo gemäß z. B. nicht auch die Vermittlung einer materialistischen Weltanschauung ordentliches Lehrfach sein, mit von uns genehmigten Lehrplänen und Lehrbüchern und der Ausbildung entsprechender Lehrkräfte? Müsste nicht das Wort zum Tage gleichberechtigt auch von Freidenkern über die Medien kommen, unserem Verband nicht auch das Recht zustehen, Schulen in eigener Trägerschaft zu unterhalten? – Utopisch? Vielleicht.

Doch abgesehen davon, dass wir Freidenker für uns keine solche Rechtsstellung reklamieren, wie sie die großen Kirchen heute noch haben, bricht doch der offiziell (!) weltanschaulich neutrale Staat mit dieser Neutralität, wenn er nahezu ausschließlich Moral- und Wertevorstellungen der Kirchen zu verbindlichen Entscheidungsvorgaben macht. Hier liegt ein entscheidender Grund für die Schwierigkeiten beim Zustandekommen einer auf Toleranz begründeten Normalität im Verhältnis von Nichtreligiösen und Gläubigen.

Es ist die Furcht der Kirchenoberen vor dem Verlust ihrer privilegierten Stellung in unserem Staatswesen, die Furcht vor den Konsequenzen einer strikten Trennung vom Staat. Doch echte Religionsfreiheit ist nicht mit Staatsnähe, sondern nur mit Unabhängigkeit zu erreichen. Weiterdenkende Theologen wie Friedhelm Hengsbach erhoffen sich damit eher mehr gesellschaftliche Autorität. [11]

Ob wir diese Schlussfolgerung nun teilen oder nicht, mit Sicherheit ist die strikte Trennung der Kirche vom Staat eine wesentliche Voraussetzung für die Nichtdiskriminierung der Nichtreligiösen. Dies ist eine Voraussetzung für dauerhafte, stabile, auf Toleranz gegründete Beziehungen von Nichtreligiösen und Gläubigen in unserer Gesellschaft.

 

4.6 Vernunft statt Imperialismus

Als Weltanschauungsgemeinschaft führen die Freidenker die geistige Auseinandersetzung mit allen Formen des Irrationalismus, in seiner „heiligen“ wie in seiner weltlichen Gestalt. Dies betrifft einerseits in Zeiten des schwindenden, direkten Einflusses von kirchlicher Religion auf die Bewusstseinsinhalte der Menschen die verschiedenen Formen eines religiösen Pluralismus, der nicht weniger zur Systemstabilisierung und Desorientierung beiträgt als die Verbindung von Obrigkeitsstaat und Quasi-Staatskirchen im 19. bis hinein ins 20. Jahrhundert. Dies betrifft andererseits und insbesondere die Rolle der Massenmedien bei der Volksverdummung, bei der Verschleierung der Ursachen und Nutznießer von Krisen und Kriegen, bei der Desinformation und Volksverhetzung.

Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und der Zukunft finden Viele keine rationale Antwort mehr. Wir wirken dafür, dass die in Zeiten massenhafter Ausgrenzung, Existenzbedrohung und sozialer Erniedrigung um sich greifende Perspektivlosigkeit und Zukunftsangst nicht die Empfänglichkeit für vermeintliche Heilslehren und Irrationalismus fördert. Die Ideologie-Agenturen der kapitalistischen Gesellschaft predigen den Glauben an die „Selbstheilungskräfte des Marktes“, postulieren „Eigenverantwortung“, wenn sich Staat und Unternehmen das Soziale sparen wollen, verkünden das „Ende der Geschichte“, bestreiten die Erkennbarkeit der Welt, schließlich wird Krieg Frieden genannt und Unwissenheit Stärke.

Wie kann der „Geist geistloser Zustände“, die Abwesenheit von Sinn sinnfälliger deutlich werden? Der Verlust humaner Orientierung und des sozialen Zusammenhalts ist Zweck der Übung, der „Bedarf“ an Irrationalismus ist das planmäßige Ergebnis. Wir bekämpfen aber nicht Menschen mit verkehrtem Bewusstsein, sondern die Zustände, die es hervorbringt. Es ist das Resultat von Entfremdung und Selbstentfremdung, der erfahrenen Zerrissenheit der realen Welt.

Freidenker sehen sich in der Tradition der Aufklärung und ihrem historischen Ziel verpflichtet: der Verteidigung und Durchsetzung der Vernunft im geistigen und wissenschaftlichen Leben, nicht zuletzt in allen Bereichen von Gesellschaft, Staat und Politik. Diesem Anliegen spricht der global agierende Kapitalismus Hohn, der sich nicht an den Entwicklungsinteressen der Menschen orientiert, sondern Not, Elend, Ausbeutung und Unterdrückung für immer größere Teile der Weltbevölkerung bewirkt, er bringt immer neue Kriege hervor und beschwört die Gefahr des Untergangs der menschlichen Gattung herauf. Der Imperialismus ist das Gegenteil von Vernunft, er ist purer Irrationalismus.

 

Als Kulturorganisation treten die Freidenker für eine menschenwürdige, humane Gesellschaft ein. Sie ist keine Gottesgabe, sie muss erkämpft werden. Deshalb müssen die Menschen aus der passiven Rolle als Objekt der Herrschenden heraustreten, und zum Subjekt ihrer Geschicke werden:

„Wir behaupten aber, dass der Mensch auch Herr der Gesellschaft und ihrer Entwicklung werden muss, indem er sie der Herrschaft des Egoismus, der Willkür, der Gewalttätigkeit, der Ausbeutung entzieht. Er muss eine Gesellschaft in der Dimension seiner eigenen Freiheit schaffen. Nur so kann man, glaube ich, zu jener vollen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit kommen, die das Ziel der gesamten Menschheitsgeschichte ist.“[12]

 

Literatur:
  • Czermak, Gerhard: Problemfall Religion. Ein Kompendium der Religions- und Kirchenkritik. Marburg 2014
  • Faber, Richard/Lanwerd, Susanne (Hrsg.): Atheismus: Ideologie, Philosophie oder Mentalität? Würzburg 2006
  • Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Berlin 1984
  • Grabner-Haider, Anton: Gott. Eine Lebensgeschichte. Ostfildern 2006
  • Heuer, Uwe-Jens: Marxismus und Glauben. Hamburg 2006
  • Hartmann, Klaus: Freies Denken im Wandel seiner Bedeutung. In: Freidenker 1/2013
  • Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Bd. 1. Berlin 1958
  • : Thesen über Feuerbach. In: ebd., Bd. 3, Berlin 1978
  • Pickert, Horst/Schild, Horst: Wissenschaft und Glaube, der Neoatheismus und seine Grenzen. In: Freidenker 1/2009
  • Raussendorff, Klaus: Unsere Religionskritik ist Gesellschaftskritik. In: Freidenker 2/2009
  • Schröder, Richard: Abschaffung der Religion? Freiburg i. Br. (2. Aufl.) 2009
  • Schweizer, Gerhard: Ungläubig sind immer die anderen. Weltreligionen zwischen Toleranz und Fanatismus. Stuttgart. (2. Aufl.) 2002
  • Tokarev, S. A.: Die Religionen in der Geschichte der Völker. Berlin 1968
  • Weltmacht Religion. Wie der Glaube Politik und Gesellschaft beeinflusst. SPIEGEL spezial. 9/2006
  • Wer sind die Freidenker und was wollen sie? Berliner Erklärung des DFV-Verbandstages 1994
  • Die Vernunft verteidigen – gegen Sekten, Aberglauben, religiösen Wahn, Positionspapier des Deutschen Freidenker-Verbandes
  • Gegen Volksverdummung und die Zerstörung der Vernunft – Für Aufklärung! Dokument des Freidenker-Verbandstages 2009
  • http://www.wikipedia.org, – die freie Enzyklopädie, Stichworte „Religion“ und „Religionskritik“

 

Zitate:

[1] MEW, Bd. 1, S. 378

[2] Artikel 140 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland: „Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“ Art. 138 (1): „Es besteht keine Staatskirche.“

[3] Art. 137 (3) Weimarer Reichsverfassung

[4] Man kann sich fragen, ob es je einen Krieg ohne religiöse bzw. weltanschauliche Begründung gegeben hat.

[5] Religion spiegelt genau darum „ auf dem Kopf stehende“, verkehrte Verhältnisse wider, wie K. Marx schreibt – als das verkehrte Bewusstsein einer verkehrten Welt.

[6] Rehmann, Jan: Kritik des Jammertals. In: junge welt v. 25. August 2008

[7] Im Mittelalter hätte z. B. weder im christlichen Europa noch in den vom Islam beherrschten Regionen jemand offen die jeweilige Religion als Atheist infrage stellen können, ohne dass dies dessen „bürgerlichen“ (und danach auch physischen) Tod bedeutet hätte.

[8] MEW, Bd. 1, S. 379

[9] Ebenda, Bd. 1, S. 385

[10] ebenda, Bd. 3, S. 7

[11] Hengsbach, Friedhelm: Trennung in Sicht? In: Freitag, Nr. 25 vom 12. Juni 1998, S. 5. – Hengsbach ist Jesuit und war Professor für christliche Gesellschaftsethik.

[12] Palmiro Togliatti, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Berlin 1977, S. 683-684


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  Verbandsvorstand: Religion – Thesen (Auszug aus FREIDENKER 4-16, ca. 0,5 MB)


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