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Freidenker gegen alle Widerstände

Die deutschen Freidenker vor, in und nach der Novemberrevolution 1918

Aus: „Freidenker“ Nr. 4-08   67. Jahrgang – Thema

Von Eberhard Schinck

Die Trennung von Staat und Kirche ist eine allgemeindemokratische Forderung. Sie ist eine der ungelösten Aufgaben aus der bürgerlichen Revolution von 1848 geblieben. Ihre Verwirklichung besteht als hochaktuelle Herausforderung für uns Freidenker weiter fort. Zwei komplexe Notwendigkeiten sind ungelöst und stehen auf der Tagesordnung: Einmal muss eine reale Trennung der beiden Institutionen Staat und Kirche in ihren politischen und ideologischen Funktionen, in ihren rechtlichen Tätigkeitsfeldern und gesellschaftlichen Ansprüchen sowie in jeglicher wirtschaftlicher Hinsicht erfolgen. Zum anderen besteht die dringende Notwendigkeit der Loslösung aller Bürger aus der irrationalistischen Umklammerung durch sowohl den religiösen als auch den weltlichen Irrationalismus und deren innerer Wechselbeziehungen, die in gemeinsamen politischen und ökonomischen Strategien zutage treten.

Freidenkerbewegung – Bestandteil der Arbeiterbewegung 
Als sich um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert immer mehr die Ausprägung der bürgerlichen Klassenstruktur und der ganzen Gesellschaft zum Imperialismus hin vollzog, veränderte sich auch die gesellschaftliche Stellung der Arbeiterklasse in wesentlichen Zügen. Ihre Kraft und Potenz als organisierteste, disziplinierteste, kampffähigste und revolutionärste Klasse der Gesellschaft veränderten sich qualitativ und quantitativ in starkem Maße. Sie entwickelte sich zur zahlenmäßig stärksten und am schnellsten wachsenden Klasse. Waren es 1895 10,75 Millionen Menschen, so waren es 1907 bereits 13,5 Millionen Menschen, die der Arbeiterklasse angehörten. Ihre innere Struktur wurde durch den Zentralisationsprozess der Produktion und des Kapitals stark verändert. Eine starke Zuwanderung von Auslandsarbeitern kam hinzu. 1,4 Millionen jugendliche Arbeiter im Alter von 14 bis 18 Jahren prägten gleichzeitig das neue Bild der Arbeiterklasse.
In der Arbeiterbewegung gab es 73 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 400.000 Exemplaren. In den Gewerkschaften waren 580.000 Mitglieder organisiert. Streiks, Massenproteste gegen imperialistische Rüstungspolitik, riesige Massenversammlungen gegen antidemokratische Un-terdrückungspolitik waren an der Tagesordnung.
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands war um die Jahrhundertwende trotz der sich in ihr entwickelnden opportunistischen Strömungen eine revolutionäre, gut organisierte Massenpartei mit einem marxistischen Programm und mit großem Einfluss in der internationalen Arbeiterbewegung. Sie verfügte über eine Anzahl hervorragender Führer mit umfangreicher Massenverbundenheit. Es seien hier solche Namen genannt wie August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Paul Singer, Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Karl Liebknecht, Wilhelm Pieck, Hermann und Käthe Duncker, Adolph Hoffmann. Die neue Rolle der Arbeiterklasse zog auch viele nichtproletarische demokratische Kräfte an, die ihre Interessen ebenfalls durch die Arbeiterbewegung vertreten sahen.
Die Freidenkerbewegung in Deutschland als eine kulturpolitische und atheistisch-weltanschauliche Organisationsform der Arbeiter- und demokratischen Bewegung hatte inzwischen ebenfalls an Umfang und Masseneinfluss gewonnen. Sie war niemals eine in sich abgeschlossene Bewegung, nun aber war sie eine selbständige gesellschaftliche Kraft geworden. In ihr wurde jedoch nicht immer die Notwendigkeit einer Unabhängigkeit gegenüber der Rolle von Parteien und ihren Bewegungen erkannt. Sie teilte in ihrer geschichtlichen Entwicklung alle Höhen und Tiefen, alle Stärken und auch die Schwächen der politischen Arbeiterparteien, der Arbeiterorganisationen und Gewerkschaften.

Ideologische Vorbereitung des Ersten Weltkriegs – gegen Freidenkertum und sozialistische Ideen
Um der revolutionären Arbeiterbewegung und ihren Organisationen, so auch dem Freidenkertum, offensiv entgegenzuwirken und die unzufriedenen Volksmassen in das monopolkapitalistische Herrschaftssystem zu integrieren, um sie für die Durchsetzung ihrer Kriegspolitik zu gewinnen, bemühten sich die herrschenden imperialistischen Kräfte besonders nach der Jahrhundertwende darum, ihren ideologischen Einfluss auf die Volksmassen zu verstärken.
Militaristische, antisozialistische Erziehung, besonders der Jugend, wurde verstärkt Aufgabe der Volksschule und der Kirchen. Durch Schule, Universität und Kirche, Presse und die bürgerlichen Parteien, Propagandaorganisationen und zahllose Vereine sowie nicht zuletzt auch mit Hilfe der sich entwickelnden Vergnügungsindustrie wurde die imperialistische Ideologie mit vielfältigen Methoden in das Volk hineingetragen. Hauptinhalte waren Militarismus, Nationalismus, rassistische Auffassungen, Bekämpfung demokratischer und sozialistischer Ideen.
Zur weltanschaulichen Begründung der chauvinistischen und antidemokratischen Forderungen wurden raffinierte Konzeptionen auf allen Gebieten des geistigen Lebens entwickelt. Als Erscheinungsbild muss man eine allgemeine Neuorientierung der bürgerlichen Philosophie nennen. Mit irrationalistischen und mystizistischen Irrlehren, vor allem auch von den Kanzeln, sollten materialistische Erkenntnisse und rationale Erklärungen der Wirklichkeit verhindert werden. Stoßrichtung war hauptsächlich die Weltanschauung der revolutionären Arbeiterbewegung, aber auch jede progressive, humanistische Denkweise. Propagiert wurden antidemokratische Elitetheorien, die das Streben nach Freiheit, Kultur und Wohlstand für alle Menschen und die Gleichberechtigung aller Völker verunglimpften. Die Philosophie Nietzsches wurde gegen alle progressiven Kräfte als brutale Machtphilosophie für die ideologische Begründung der Aggressions- und Expansionspolitik des deutschen Imperialismus genutzt. Völkische Theorien wurden verbreitet. Zur Verschleierung der Klassengegensätze wurde Antisemitismus massenweise zur Volksverhetzung.
Das Kapital erfasste alle Bereiche der geistigen Kultur. Es kaufte die Arbeitskraft der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Intelligenz, reglementierte den Literatur- und Kunstmarkt. Dabei wurden die kapitalistischen Ausbeutungs- und Marktverhältnisse zur Beeinflussung der geistigen Erzeugnisse genutzt. Eine christlich-abendländische und besonders pseudoromantische Heimatliteratur und Heimatkunst dienten der Irreführung der Massen. Besonders in von kirchlichen Kreisen beherrschten ländlichen Gebieten, aber auch in der städtischen Bevölkerung, wurde gegen die politischen Massenbewegungen der Arbeiterklasse und der demokratischen Kräfte vorgegangen. (Auch) In der Trivialliteratur- und Kunstströmung wurden antidemokratische und antisozialistische Grundtendenzen ausgeprägt. Auch bürgerliche Kunstschaffende fühlten sich durch die Inhumanität und die Kunstfeindlichkeit, die vom Imperialismus ausging, abgestoßen.
Auf Grund dieser Entwicklung fiel der Arbeiterklasse nun auf geistig-kulturellem Gebiet immer mehr eine besondere Verantwortung zu. Ihr oblag es immer mehr, dem kulturellen Fortschritt und der geistigen Freiheit die Bahn zu brechen gegen die barbarischen und zerstörerischen Tendenzen des Imperialismus. Neue Bündnisse entstanden.
Diese widersprüchliche Situation, auf der einen Seite die Zuspitzung der Aggressivität des Imperialismus nach innen und seine Kriegsvorbereitung nach außen sowie andererseits die Zunahme der Unzufriedenheit und Vergrößerung der Masse der Arbeiterklasse und der demokratischen Kräfte, charakterisierte die Situation vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In der Phase der unmittelbaren Kriegsgefahr spalteten jedoch die opportunistischen Kräfte in der SPD die progressive Bewegung und liefen auf die Seite der Kriegspartei über. Mit der Bewilligung der Kriegskredite am 4. August 1914 ermöglichten sie dem deutschen Imperialismus den Beginn des Ersten Weltkriegs.

Novemberrevolution – Auftrieb der Freidenkerbewegung und Wiedergeburt
Der Erste Weltkrieg dezimierte die Freidenkerbewegung und zerstörte ihre Organisationsformen stark. Das kulturpolitische Leben der Freidenker wurde während des Krieges allerorts fast vollständig zerstört oder gänzlich unmöglich. Im Ergebnis führte der Krieg mit seinen ungeheuerlichen und schrecklichen Folgen allerdings zu einer erbarmungslosen Entlarvung und Diskreditierung der kirchlichen Institutionen und ihrer religiös-propagandistischen Mitwirkung am Krieg. Die Macht der Kirchen war aber damit längst nicht zerbrochen.
Die Novemberrevolution 1918 war eine direkte Reaktion der Unterschichten auf den im Wesentlichen vom deutschen Imperialismus verschuldeten Ersten Weltkrieg. Die unrühmlichste Rolle hatte dabei die Führung der SPD gespielt. Seit dem Tod von August Bebel 1912 steuerten die Leitungen von SPD und Gewerkschaften unter Gustav Bauer und Carl Legien auf die Akzeptanz des Krieges hin. In einer Rede am 29. November 1913 hatte Gustav Bauer erklärt „Die Kriegsfrage ist kein prinzipielles sondern ein taktisches Problem. Es gilt für das Proletariat der einzelnen Länder abzuwägen, ob der Krieg Vorteile bringen könnte oder nicht, und danach ist ihr Verhalten einzurichten.“ (Sebastian Haffner: Die SPD und das Scheitern der Arbeiterbewegung. Berlin 1996, Seite 59.)
Die Novemberrevolution endete letztendlich, weil die sozialdemokratischen Führer die Revolution verrieten und die Radikalisierung der Arbeiterschaft bremsten. Die von ihnen ausgegebenen Losungen der Sozialisierung und Entmachtung des Militärs sowie die Abschaffung des imperialen Herrschaftsapparates wurden nicht als Lügen erkannt. In der Nationalversammlung, die am 6. Februar 1919 unter dem Schutz der reaktionären Freikorps zusammentrat, wurde eine demokratische Institution vermutet, die die revolutionären Forderungen künftig würde erfüllen können. Dieser verhängnisvolle politische Irrtum wurde viel zu spät erkannt. Die revolutionären Kämpfe im Jahr 1918 und danach brachten dem Freidenkertum und der sozialistischen Arbeiterbewegung sowie ihren Kulturorganisationen ein größeres Maß an Handlungsfreiheit. Sie schwächten zugleich die Herrschenden und mit ihnen auch die Kirchen. Es entstand eine breite Kirchenaustrittsbewegung. Waren es 1914 noch 21.000 so waren es 1919 230.000 und 1920 360.000 Kirchenaustritte. (Diese Zahlen beziehen sich nur auf die protestantischen Kirchen, weil die Katholische Kirche ihre Zahlen geheim hielt.)
Die Entwicklung in Folge der Novemberrevolution brachte dem Freidenkerverband mehr Möglichkeiten für eine selbständige und breitere Organisation weltanschaulichen und kulturellen Alltags- und Gemeinschaftslebens. Er konnte jetzt mehr Aufgaben im Interesse aller Konfessionsfreien übernehmen, die vorher ausschließlich von Kirchen geleistet und monopolartig besetzt worden waren. Dadurch wuchs auch die Freidenkerbewegung enorm an. Sie prägte ein völlig neues, spezifisches kulturpolitisches Profil innerhalb der Arbeiterbewegung aus.
Es waren offensichtlich hauptsächlich drei Gründe, die hierfür maßgeblich waren. Einmal war es die Begeisterung für alles Neue in großen Schichten der Bevölkerung und die Zunahme ihres Willens, sich vom kirchlichen Zwang zu befreien. Des Weiteren hatte die revolutionäre Entwicklung ein steigendes Interesse für politische und kulturelle Probleme in bislang indifferenten Volksschichten geweckt. Letztlich waren von größter Bedeutung „wirtschaftliche Motive“, weil durch Unterernährung, Kriegsdienst, Krankheiten und Inflation heimgesuchte Arbeitermassen keine Möglichkeit mehr sahen, für einen Todesfall in der eigenen Familie die Bestattungskosten aufzubringen. Zu den Ergebnissen der Novemberrevolution darf man durchaus solche wichtigen Erfahrungen zählen, obwohl die soziale Frage, die vor der Novemberrevolution gestanden hatte und die Machtfrage nicht gelöst werden konnten.

Trennung von Staat und Kirche in der Weimarer Verfassung
Am 31. Juli 1919 wurde in der Nationalversammlung die bürgerliche Weimarer Verfassung angenommen. Am 14. August trat sie in Kraft. Damit war der Prozess der Neukonstituierung der imperialistischen Staatsmacht im Wesentlichen abgeschlossen, wenn nun auch in Form einer bürgerlich-parlamentarischen Republik. Fast alle Fraktionen und Gruppen der Bourgeoisie mussten sich, zumindest vorübergehend, mit wichtigen sozialen und politischen Zugeständnissen abfinden. Es handelt sich dabei um durch die Novemberrevolution durchgesetzte Forderungen der Werktätigen, die teilweise schon als demokratische Forderungen in der bürgerlichen Revolution von 1848 unrealisiert blieben.  Zu den durchgesetzten demokratischen Forderungen, die in die Weimarer Verfassung eingingen, gehören einige Grundsätze der Freidenkerbewegung, so z.B. der Artikel 137 Abs. 1, der lautet: „Es besteht keine Staatskirche“. Damit war grundsätzlich, wenn auch anders formuliert, das Prinzip Trennung von Staat und Kirche in die Verfassung eingegangen. Damit war der Beschluss der Reichsversammlung vom 21. Dezember 1848 in seinen Paragrafen 14 bis 18 erneut als Grundrecht in die Verfassung nun der in Weimar gegründeten Republik eingegeben. Das heißt, es hätte fortan als allgemein demokratischer Grundsatz realisiert werden müssen. Wir wissen, dass der Vatikan bzw. der Heilige Stuhl in Rom geschickt manövrierte, um diese Säkularisierung zu verhindern. Seine Konkordatspolitik, die erstmals nach der Niederlage der Weimarer Republik in dem Bündnis mit Nazideutschland verwirklicht wurde, besteht bis heute fort.
Erstens blieben bis heute die rechtlichen finanziellen und kulturellen Privilegierungen der christlichen Kirchen per se als Benachteiligung anderer Religionsgemeinschaften und vor allem konfessionsfreier Weltanschauungsgemeinschaften erhalten. Angesichts der zunehmenden weltweiten Intensivierung der Beziehungen zwischen den Völkern und ihren Kulturen ist dies gleichzeitig eine absurde Einengung und Ausgrenzung Andersdenkender und -gläubiger.
Zweitens ist eine Privilegierung durch den Staat nicht jene Befreiung der Kirchen von der Bindung an den Staat und des Staates an die Kirche, die dem Anschein nach durch die organisatorische Trennung der kirchlichen von den staatlichen Institutionen erreicht worden sein soll. Die privilegierten Kirchen sind zugleich als Gehorsamsdiener und -mitvollstrecker in das monopolistische Herrschaftssystem eingebunden.
Drittens ist zu fragen, woher dieses große Interesse des Staates an der Privilegierung der Kirchen kommt. Die religiöse Legitimation des Staates ist das Bemühen darum, Existenz und Wirksamkeit der auf dem kapitalistischen System begründeten politischen Macht auf eine allgemeine autoritative Instanz zurückzuführen, die im „höheren Interesse“ handelt. Diese Instanz soll den Politikern Glaubwürdigkeit, Unverletzlichkeit und Unantastbarkeit verleihen, um der herrschenden Elite Volksnähe zu bescheinigen und einen demokratischen Heiligenschein zu verpassen.
Deshalb stellt sich unser Freidenker-Verband in der Berliner Erklärung auch heute noch die Kampfaufgabe: „Die Verwirklichung der Trennung von Staat und Kirche ist eine demokratische Selbstverständlichkeit, die sich zwingend aus der verfassungsmäßigen Neutralität des Staates in Religions- und Weltanschauungsfragen ergibt.“ In diese Kampfforderung eingebunden ist die Trennung von Schule und Kirche.


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