Weltliche Trauerkultur

Trauer um Hermann Scheer

Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Genossinnen und Genossen,

mit Bestürzung und Schmerz haben wir die Nachricht vom Tod Hermann Scheers aufgenommen.Sein jahrzehntelanges unermüdliches Engagement für eine grundlegende ökologische Wende, für soziale Gerechtigkeit, für Frieden und Abrüstung sowie für eine Demokratie, die diesen Namen verdient, machte ihn zu einem der raren Ausnahmepolitiker in dieser Republik.Unter jenen, die ihm nach seinem Tod Anerkennung zollen, sind auch Einige, die ihn zu Lebzeiten eher als störend und lästig wahrnahmen, da er sich jedem Anpassertum gegenüber den als ‚Sachzwänge‘ ausgegebenen Interessen der Kapitalherrschaft entschieden widersetzte. Auch in seiner SPD, für die er seit 1980 Bundestagsabgeordneter war, und deren Parteivorstand er von 1993 bis 2009 angehörte, fanden seine Positionen nicht ungeteilten Beifall.Hermann hat nicht nur Visionen entwickelt, geforscht und publiziert, er hat als ‚Vater‘ des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und des 100.000-Dächer-Programms die Politik in Deutschland auch praktisch und sichtbar verändert. Doch mehr Anerkennung als zu Hause wurde dem Pionier neuer Energiepolitik im internationalen Maßstab mit Auszeichnungen wie “Hero of the Green Century“, dem Weltsolarpreis und dem Alternativen Nobelpreis zuteil. Ein Schlaglicht auf die Machtverhältnisse hierzulande warf die Auseinandersetzung 2008, als die Energiewende in Hessen mit allen Mitteln verhindert wurde, die Energiekonzerne und ihre politischen Auftragnehmer den abgewählten Ministerpräsident Koch an der Macht hielten und Andrea Ypsilanti in einer beispiellosen medialen Hexenjagd zur Strecke brachten.Im Mittelpunkt vieler Nachrufe steht Hermanns Einsatz für die Erneuerbare Energien, doch er begriff unter Ökologie mehr als Umweltschutz, er fasste Ökologie im ursprünglichen griechischen Wortsinn als Lehre von der Gesamtheit der Wechselbeziehungen zwischen belebter und unbelebter Natur auf. Die logische Konsequenz dieses umfassenden Ansatzes war sein Eintreten gegen Krieg, für demokratische und soziale Rechte. Augenfällig wurde dieser Zusammenhang mit den Eurosolar-Anzeigen „Frieden durch Sonnenenergie statt Krieg um Erdöl“ im Vorfeld des Irak-Überfalls 2003. Hermann warf den USA „Bruch des Völkerrechts“ und „eklatante Ignorierung des UN-Sicherheitsrats“ vor, und charakterisierte die Entwicklung als Ablösung der Kolonialzeit durch einen Energie-Imperialismus. Der gefährliche Trend zur Aushöhlung von UN und OSZE hatte bereits ein Jahrzehnt zuvor begonnen.Er wies auf die vom Westen seit 1991 geförderte Konflikteskalation in Jugoslawien durch die Anerkennung einer Staatenbildung nach ethnisch-religiösen Abgrenzungsprinzipien hin und beklagte die Doppelmoral bei Duldung der Vertreibung der Serben aus der Krajina. Der rot-grünen Bundesregierung warf er vor, Öffentlichkeit und Bundestag zur Vorbereitung der NATO-Aggression 1999 gegen Jugoslawien in die Irre geführt zu haben, da „Rambouillet“ kein Vertrag, sondern ein Diktat war, das nicht Frieden versprach, sondern freien Zugang der NATO in ganz Jugoslawien verlangte, was kein Staat ohne vollständige Kapitulation unterzeichnen konnte. Die Bombardierung nannte er ein Kriegsverbrechen unter Missachtung des Völkerrechts, des NATO-Statuts und des Grundgesetzes, im Interesse der angestrebten neue Rolle der NATO als Weltordnungsmacht.

Als scharfsichtiger Analytiker hat Hermann Scheer vor der Gefahr eines Zerfalls der Demokratie gewarnt, die von Politikern gefördert werde. Er stellte eine zunehmende Entfremdung zwischen den Repräsentierten und ihren Repräsentanten fest, die er als Zeichen einer sich entwickelnden Systemkrise deutete. Zu den jüngsten Beispielen gehört der durch die Bundesregierung geplante Ausstieg aus dem Atomausstiegsvertrag, womit den großen Stromkonzernen für die vergangenen zehn Jahre mehr als 60 Milliarden Euro Steuergelder geschenkt werden sollen, von den künftigen Extraprofiten ganz zu schweigen. Ein weiteres Beispiel ist der Bahnhofsneubau „Stuttgart 21“, der gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit exekutiert werden soll. Schon seit Jahren hatte Hermann den Plänen von Börsengang und Privatisierung der Bahn ein Konzept einer Bürgerbahn mit Wachstum in der Fläche, hoher Netzdichte, bundesweitem Taktfahrplan und transparentem Tarifsystem entgegengesetzt. In beiden Bürgerbewegungen, gegen „Stuttgart 21“ und gegen die Kumpanei mit der Atomlobby, hat sich Herrmann bis zu seinem Lebensende aktiv engagiert.

Die Krise der Demokratie hat für Hermann tiefere Ursachen. In seinem Buch „archimedische Wende gegen den Zerfall der Demokratie“ sieht er die Weltgesellschaft seit Ende der 1980er Jahre immer mehr von einer Art westlichem Fundamentalismus beherrscht. Den vermeintlichen Sachzwängen des Weltmarkts werden Handlungsspielräume demokratischer Politik geopfert, und damit alle Bemühungen zur Rettung der Ökosphäre unterlaufen, bestehende Sozialsysteme demontiert und kulturelle Werte zerstört. Die angeblich fehlenden politischen Alternativen produzieren die Verdrossenheit gegenüber Staat, Politik und Parteien, die Forderung nach einem „Zurück zur Politik“ ist für eine langfristige Zukunftssicherung unabdingbar. Der vom sogenannten Neoliberalismus produzierten Wüste müsse eine gesellschaftliche Gegenoffensive, eine sozial-ökologische Perspektive entgegengesetzt werden.

Als Kennzeichen der Demokratiekrise bezeichnet er jene technokratische Herrschaft, die die Bürgerinnen und Bürger von allen wesentlichen Entscheidungen ausschließt. Wenn durch Medien Diskussionen als Zeichen von Schwäche gewertet werden, fördern sie eine antidemokratische Vorstellung von Politik und Gesellschaft als eines hierarchischen Gebildes. Dieser Denunzierung des demokratischen Willensbildungsprozesses, die er auch als Feudalismus bezeichnete, hat Hermann energisch widersprochen. Eine Revitalisierung der politischen Demokratie kann nur erfolgen, wenn die Menschen in die Lage versetzt werden, ihre Verhältnisse auch real verbessern können.

Deshalb ist Widerständigkeit statt Anpassung angesagt, als notwendige Tugend, um der Entzivilisierung von Kultur und Gesellschaft entgegenzutreten. In einer Buchrezension schrieb die Stuttgarter Zeitung, „übertriebenes Harmoniebedürfnis und behutsames Eintauchen in den politischen Mainstream kann man Hermann Scheer nicht vorwerfen“. Besser lässt sich kaum ausdrücken, was Freidenkerinnen und Freidenker an Hermann so besonders schätzten.

Die Lücke die Hermann hinterlässt, wird nicht zu schließen sein. Aber seine Ideen und programmatischen Ziele bleiben aktuell, und sein Engagement, sein Mut und seine Charakterstärke inspirieren uns, in seinem Sinne für eine humane Gesellschaft weiterzukämpfen.

Klaus Hartmann

Bundesvorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes
Mitglied des Instituts Solidarische Moderne

17. Oktober 2010

Foto: Grabstätte von Hermann Scheer auf dem Friedhof Heerstraße, Berlin / von Molgreen – Eigenes Werk, CC-BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=41800832