Religions- & Kirchenkritik, Säkulare Szene

Politischer Islam als Ideologie gegensätzlicher Machtinteressen

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 3-13, September 2013, S. 19-28, 72. Jahrgang

von Klaus von Raussendorff

 

In einem Augenblick, da die Aggression gegen Syrien zu eskalieren droht, kann ein Rückblick helfen zu verstehen, welche Rolle in diesem Konflikt die unterschiedlichen Varianten des politischen Islam bisher gespielt haben und als Ideologie machtpolitischer Interessen weiter spielen könnten.

Politischer Islam ist ein Begriff, der von den Sozialisten in der Region im Allgemeinen vermieden wird. Aus Sicht der Werktätigen ist das Entscheidende, ob politische Kräfte mit fortschrittlicher oder reaktionärer Tendenz wirksam werden. Hierzulande aber erscheint es derzeit geboten, zu unterscheiden, welche Spielarten des politischen Islam in ihren Zielen mit reaktionären und welche mit fortschrittlichen Kräften übereinstimmen. Denn in Deutschland tummeln sich in der Front der imperialistischen Einmischung in Syrien neuerdings auch „Anti-Imperialisten“, die ihr Herz für die Moslembrüder entdeckt haben, während im Chor des rassistischen Anti-Islamismus weiterhin die Stimmen von „Religionskritikern“ ertönen, die den Islam in Bausch und Bogen für fortschrittsunfähig erklären.

Worin sich die einzelnen Spielarten des Islam in Dogmatik, Rechtslehre und Ritus unterscheiden, ist aus Sicht der materialistisch-dialektischen Religionskritik von untergeordneter Bedeutung. Aber welche gesellschaftliche Realität sich jeweils in bestimmten Glaubensformen spiegelt, ist eine zentrale religionskritische Fragestellung. So ist es z.B. äußerst bemerkenswert, dass der Konflikt zwischen reaktionären und fortschrittlichen Kräften in der Welt des Islam, auch auf theologischer Ebene zu einer scharfen Auseinandersetzung geführt hat.

An sich herrscht im Islam die Tendenz vor, Einheit und Brüderlichkeit aller Muslime zu betonen. Die Uma, die muslimische Weltgemeinschaft, ist im Islam ein fester Begriff und hoher Wert. Vorherrschend ist das Bemühen um Ausgleich. Umso bemerkenswerter ist es, dass eine Konferenz von Islam-Gelehrten mehrerer Länder zum ersten Mal eine scharf verurteilende Position gegen die salafistisch-wahabistischen „Takfiri“ formuliert hat. Takfiri sind Muslime, die „Takfir“ praktizieren, d.h. andere Muslime sowie Andersgläubige zu „Ungläubigen“ („Kafir“) erklären und diese verfolgen und töten. Diese aggressive Praxis ist nun erstmals von einem repräsentativen Kreis von Islam-Gelehrten als „unislamisch und menschheitsfeindlich“ verurteilt worden, wie weiter unten noch ausgeführt wird.

Es versteht sich von selbst, dass darin auch eine ideologische Kampfansage an jene Regierungen der Region enthalten ist, die das Wüten der „Takfiri“ in Irak, Syrien, Libanon etc. politisch instrumentalisieren.

Der politische Islam kann ganz allgemein als Instrumentalisierung religiöser Glaubensinhalte und Gefühle für politische Ziele definiert werden. Wie weit die Strategie Erfolg hat oder scheitert, ist nicht theologisch zu erklären; denn als Form des gesellschaftlichen Bewusstseins steht der politische Islam in Wechselwirkung mit der realen Entwicklung der Gesellschaft. Zum Verständnis der Rolle, die der politische Islam in der aktuellen Krise um den Syrien-Konflikt spielt, soll die nachstehende Rückschau auf jüngste Schlüsselereignissen in den einzelnen Ländern beitragen.

Türkei: Erwachen aus ottomanischen Träumen

Ab Ende Mai 2013 gehen in vielen türkischen Städten mehrere Millionen Menschen auf die Straße. „Diese anschwellende Reaktion hat einen anti-imperialistischen, pro-säkularen Charakter. Sie ist eng verbunden mit der Opposition des Volkes gegen die kriegstreiberische Politik der Regierung im Syrien-Konflikt und die schleichende Islamisierung des öffentlichen Lebens. In dieser Beziehung unterscheidet sie sich von anderen Aufständen im Mittleren Osten.“ So die erste Einschätzung der Türkischen Kommunistischen Partei.

Das Aufbegehren in der Türkei sei kein „Türkischer Frühling“ sondern eine „Eruption der Volkswut, die sich in 11 Jahren AKP-Regierung angestaut hat. Darin unterscheidet sich diese von anderen Erhebungen im Mittleren Osten.“ Die Türkei sei “das wohl dynamischste Experiment mit dem politischem Islam, ” meint die Brookings Institution im April 2012. Daraus ergäben sich „zukunftweisende Lehren für die arabische Welt“, hofft der US-amerikanische Think Tank. Doch „das neue Model“ wird durch massive innertürkische Proteste im Juni 2013 in Frage gestellt. Kurz darauf erleidet das Erdoğan-Regime außenpolitisch einen weiteren Rückschlag. „Der Coup in Ägypten erschüttert die islamischen Partner der Moslembruderschaft in der Türkei“, titelt The Christian Science Monitor (v. 10. Juli 2013)

Mit dem phänomenalen Aufstieg der Muslimbruderschaften in Ägypten, Tunesien, Jordanien und Syrien sieht sich das NATO-Land Türkei schon als Führer eines kommenden neue osmanischen Reiches; die USA, Führungsmacht des NATO-Bündnisses, setzt auf die Moslembrüdern. „Die spezielle Verständigung zwischen den Moslembrüdern und den USA über den Arabischen Frühling mit dem Ergebnis, dass die Moslembrüder auf der 2011 ausgelösten Welle der arabischen Umbrüche an die Macht geritten sind, geht auf Präsident Obama’s Rede vom 4. Juni 2009 mit dem Titel ‚Ein Neuanfang’ zurück, welche die beschädigten Beziehungen der USA mit der muslimischen Welt wieder einrenken sollte.“ So der Soziologe Mahdi Darius Nazemroaya (Russia Today v. 9. Juli 2013)

Daraus ergibt sich für das Erdoğan-Regime die Gelegenheit, das regionale Vorherrschaftsstreben der imperialistischen Kräfte der Türkei in die ideologische Hülle einer transnationalen Form des politischen Islam zu kleiden. Doch die aberwitzigen osmanischen Träume haben innen- und außenpolitisch eine empfindliche Schlappe erlitten. Nichts geht für Erdoğan mehr so wie früher.

Syrien: Nationaler Widerstand gegen islamistische Söldnerbanden

Am 5. Juni 2013 werden die gegen die vom Westen unabhängige Regierung Syriens kämpfenden Söldnerbanden in einer Blitzoffensive der syrischen Armee aus der Stadt Kussair vertrieben. Die Einnahme des wichtigen Knotenpunkts wird international als eine militärische Wende gewertet. Der Sieg ist Ergebnis einer Reorganisation der inneren Landesverteidigung, die schon früher in verschiedenen Teilen des Landes zu Erfolgen geführt hat.

Entscheidend ist Assads Rückhalt in der Bevölkerung. „Von der NATO gesammelte Daten ergeben, dass die Unterstützung der syrischen Bevölkerung für die Regierung von Baschar al-Assad in der letzten Zeit stark zugenommen hat, “ meldet „WorldTribune“( v. 31. Mai 2013). „Laut einer repräsentativen Untersuchung, die ausgerechnet im Auftrag von Katar, einem der größten Gegner des Assad-Regimes, durchgeführt wurde, steht die Mehrheit der syrischen Bevölkerung hinter Bashar al-Assad,“ so der Hinweis des Leiters des Zentrums für Forschung zur arabischen Welt an der Uni Mainz im „Züricher „Tages Anzeiger“ (v. 29. Feb. 2013).

Und Professor Günter Meyer erinnert daran, wie diese seit langem erkennbare Tatsache von westlichen Medien geflissentlich weginterpretiert worden ist: „Als im letzten Jahr bei einer Kundgebung in Damaskus mehr als eine Million Menschen ihre Fahnen für das Regime schwenkten, wurde behauptet, dass dies vor allem bezahlte und dienstverpflichtete Jubler seien.“

Bashar al-Assad nimmt in seinem Interview in der FAZ (v. 17. Juni 2013) auch zur Rolle der Religion Stellung. Der syrische Präsident kritisiert, „dass in manchen Gesellschaften der Region Verschiebungen in Richtung Extremismus stattfinden und ein Entfernen von der Mäßigung, insbesondere in Angelegenheiten der Religion. Es stellt sich die Frage, ob es uns gelingt, diese Gesellschaften neu zu positionieren, so wie sie in der Geschichte gewesen waren.“

Assad nennt Ross und Reiter: die Nusra-Front, die stärkste in Syrien militärisch operierende Gruppierung, und ihre Hintermänner in der Golfregion. Diese Gruppe, so Assad, „ist ein Zweig von Al Qaida. Sie vertritt dieselbe Ideologie. Zu finden ist sie in Syrien, im Irak, im Libanon und in Jordanien. Die Finanzierung erfolgt hauptsächlich durch anonyme Personen und Organisationen mit derselben Ideologie. Sie verfügen über Unsummen an Geld und Waffen. Die Spenden fließen direkt an die Nusra-Front; es ist schwierig, Herkunft und Abnehmer dieser Ressourcen aufzuspüren. Die Nusra-Front zielt auf die Errichtung eines islamischen Staats und stützt sich hauptsächlich auf die wahhabitische Konfession.“

In Syrien kommt für Assad die Existenz religiöser Parteien überhaupt nicht infrage: „Für uns ist die Religion die Aufforderung zum persönlichen Glauben, kein Instrument, um Politik zu machen. Für uns in Syrien bedeutet Säkularismus die Freiheit der Religionen: Christen, Muslime und Juden, mit allen ihren vielfältigen Konfessionen. Der Säkularismus ist notwendig für die Einheit der Gesellschaft und für das Gefühl von Staatsbürgerschaft. Dazu gibt es keine Alternative.“ Damit ist nicht gesagt, dass in Syrien die Religion überhaupt keine Rolle in der Politik spielt. Syrische Patrioten demonstrieren zuhause und im Ausland mit der Losung „Allah, Syrien, Bashar – sonst nichts“.

Das religiöse Establishment der Moscheen in Syrien steht überwiegend auf der Seite der Regierung. Regierungstreue Imame sind von Oppositionellen ermordet worden. Der traditionelle sunnitische Islam repräsentiert ideologisch in Syrien die überwiegend sunnitische Wirtschaftselite. Diese unterstützt die Regierung. Ein auf Assads Sturz folgender Raubzug der Golf-Magnaten und westlicher Konzerne würde die nationalen Klasseninteressen erheblich schädigen.

Katar: Zurückstecken vor den von Washington favorisierten Saudis

Am 24. Juni übergibt der 61jährige Emir von Katar, Scheich Hamad Bin Chalifa al-Thani, die Herrschaft über das Emirat an seinen 33 Jahre alten Sohn, Kronprinz Scheich Tamim. Der Generationswechsel auf dem Thron des absolutistischen Emirats hat einen wichtigen geostrategischen Aspekt.

Die Aufstellung jihadistischer Banden in Syrien ist großenteils eine von Katar organisierte Operation. „Die Kandidaten werden von ‚humanitären’ Organisationen rekrutiert, die von Katar finanziert sind, “ berichtet „Jeune Afrique“ (v. 12. April 2013 ). Das Blatt bezieht sich auf Ahmed Manaï, den Präsidenten des Tunesischen Instituts für Internationale Beziehungen (Itri), der auch Mitglied der arabischen Beobachterkommission in Syrien ist. Er verfügt über Informationen, dass im Dezember 2011 in Tunis ein strategisches Treffen stattgefunden hat, das von Mustapha Abdeljalil gefördert wird, der seinerzeit im „befreiten“ Libyen die Nummer Eins der Jihadisten ist. An dem Treffen nehmen höchste Repräsentanten der Moslembrüder verschiedener Ländern teil: Rached Ghannouchi, Chef der in Tunesien regierenden islamistischen Partei Ennahdha; Borhane Ghalioune, die Nummer zwei der Moslembrüder in Syrien; Abdelhakim Belhaj, ein ehemaliger Afghanistan-Kämpfer und Gründer der Libyschen Nationalpartei (PNL). Katar wird bei dem Treffen neben dem Außenminister vertreten durch den von Doha aus wirkenden geistlichen Führer der Moslembrüder, Yusuf Abdallah al-Qaradawi, einen gebürtigen Ägypter mit katarischer Staatsbürgerschaft, der von der katarischen Hauptstadt Doha aus als Fernsehprediger weltweit ein Millionen-Publikum erreicht.

Und „Jeune Afrique“ weiter: „Durch die Vereinbarung zwischen Abdeljalil (dem libyschen Jihadistenführer) und Ghalioune (der Nummer Zwei der syrischen Moslembrüder) kommen die Teilnehmer des Treffens vom Dezember 2011 überein, die syrischen Jihadisten zu bewaffnen und ihnen tunesische und lybische Verstärkungen zu schicken“.

Die von Präsident Obama am 13. Juni 2013 verkündete Entscheidung, die syrischen „Rebellen“ zu bewaffnen, ist eine propagandistische Reaktion auf die Niederlage der Terrorbanden und beweist nun auch offiziell die Tatsache, dass CIA und andere westliche Dienste schon längst dabei sind, den Einsatz der Terrorbanden zu organisieren. Der Emir von Katar, der die Expansionsinteressen seines superreichen Emirats im Bündnis mit den Moslembrüdern verfolgt und als Protektor der Jihadisten in Syrien im Vordergrund steht, wird nach Meinung von Beobachtern in der Region von den USA gedrängt worden, zugunsten seines Sohnes abzudanken.

Gleichzeitig kehrt der König von Saudi Arabien unvorhergesehen aus dem Urlaub zurück, um, wie der Mittelost-Experte Zayd Alisa analysiert (Global Research v. 1. Aug. 2013) „seine neue Rolle als unumstrittener Führer der arabischen Welt einzunehmen gemäß dem Verdikt der USA: Saudi Arabien, nicht Katar muss die arabische Welt führen.“

Aber inzwischen müssen auch in westlichen Medien die barbarischen Gräueltaten der syrischen Aufständischen, die damit noch prahlen, zur Kenntnis genommen werden.

Ägypten: Scheitern der Moslembruderschaft

Am 30. Juni 2013, nur ein Jahr, nachdem die ägyptischen Moslembrüder auf der Welle der Massenproteste mit Mursi als Präsident nach umstrittenen Wahlen die Macht ergriffen haben, gehen die Ägypter wieder auf die Straße. Es sind 33 Millionen, praktisch die ganze erwachsene, aktive Bevölkerung, schätzt der aus Ägypten stammende Sozialforscher Samir Amin (Interview mit Algérie Patriotique v. 18. Aug. 2013)

Der bekannte Kritiker des Neokolonialismus betont, dass bis dahin 26 Millionen Menschen eine von der jugendlichen Revolutionsbewegung Tamarod organisierte Petition unterschrieben haben, in der der Rücktritt von Mursi gefordert wird. Armeechef Abdel Fattah al-Sisi verkündet am 3. Juli die Absetzung Mursis und überträgt die vorläufige Präsidentschaft dem dazu verfassungsgemäß legitimierten Amtsträger, dem Präsidenten des Verfassungsrat, Adli Mansour, einem konservativen, als ehrenhaft und demokratisch bekannten Richter. Dies entspricht der überwältigenden Willensbekundung des Volkes.

Die kommunistische Partei Ägyptens spricht von einem „Triumph der Revolution unseres großen ägyptischen Volkes.“ Der von westlichen Medien verbreiteten Behauptung, das Land sei gespalten, es drohe die Gefahr eines Bürgerkrieges, wird von Samir Amin widersprochen. Jedermann in Ägypten wisse, dass es etwa 500 bis 600.000 Moslembrüder gebe, darunter einige Zehntausende bewaffnet. „Diese sind es, die Unruhen auslösen können, aber keinen Bürgerkrieg“, so Samir Amin. Gefahr drohe von Jihadistischen Gruppen, die einerseits aus Libyen eindringen, andererseits im Sinai operieren, wo die ägyptische Armee durch die so genannten Friedensverträge mit Israel gehindert ist, in ausreichendem Umfang militärisch präsent zu sein.

Samir Amin ist überzeugt, dass Meldungen zutreffen, wonach zwischen den Moslembrüdern und den USA ein Geheimabkommen geschlossen wurde. „Das Projekt von Mursi war, 40 % des Sinaï zu Schleuderpreisen nicht an das Volk von Gaza sondern an dortige superreiche Palästinenser zu verkaufen, die von dorther Arbeiter hereingebracht hätten. Das war ein israelischer Plan, um ihr Vorhaben der Vertreibung der Palästinenser nach dem Sinaï, zunächst aus Gaza, zu erleichtern, und um das, was vom arabisch bevölkerten Palästina noch übrig ist, noch stärker und einfacher kolonisieren zu können.“

Darüber sei die Armee mit Mursi und den US-Amerikanern in Konflikt geraten und habe eingegriffen. Andere Meldungen sprechen von im März laut gewordenen Befürchtungen, dass Ägypten die Kontrolle über den Suezkanal verlieren könne, da das mit den Moslembrüdern verbundene Katar erhebliche Investitionen in der Logistikbranche um den Kanal getätigt hat. Der Suezkanal sei die rote Linie, die nicht überschritten dürfe, verlautet vom Chef der Suezkanal-Kommission.

Die Moslembrüder verfügen, wie die meisten Beobachter hervorheben, wegen ihrer sozialen und karikativen Netzwerke einen beachtlichen Rückhalt in der Bevölkerung. Wegen ihrer früher erlittenen Unterdrückung und ihrer lautstarken Kritik an Israel ist ihnen eine anti-imperialistische, anti-zionistische Tendenz zu Unrecht unterstellt worden. Tatsächlich haben sie die neoliberale Wirtschaftspolitik fortgesetzt mit noch schlimmeren Folgen als unter Mubarak. Schließlich haben sie ihre Regierungsunfähigkeit bewiesen. Samir Amin betont, dass die große Masse der Ägypter gläubige Muslime sind, ebenso wie Kopten. Aber jetzt höre man in den Straßen von Kairo: «Ihna mouch ayzin islam el baqala», «Wir lehnen den Islam des Krämerladens (d.h. der Geschäftemacher) ab».

Das neue ägyptische Regime müsse sich, ob es wolle oder nicht, mit den demokratischen, linken und nasseristischen Eliten verbünden und politische, wirtschaftliche und soziale Zugeständnisse machen, wird in „Al-Akhbar“ (v. 20. Aug. 2013) hervorgehoben. Nach Meinung des fortschrittlichen jordanische Kommentators Nahed Hattar zahle sich aus, dass die kulturellen Eliten Ägyptens seit den 80er Jahren ein relativ großes Maß an Freiheiten genossen und Einfluss ausgeübt hätte. Er meint: „Diese Eliten sind zu einer mächtigen Gruppe gegen das Projekt der Moslembrüder geworden und haben dem ägyptischen Aufstand Legitimität verliehen in der Auseinandersetzung mit den Kräften des politischen Islam und ihrem Projekt, das gegen Staat, Kultur, Entwicklung und Freiheiten gerichtet ist.“ Seine Prognose lautet: „Die ägyptisch-amerikanischen Beziehungen werden sich infolge eines Machtzuwachses der nationalen Bewegung voraussichtlich rückläufig entwickeln oder zumindest stagnieren, und eher zum Einfrieren als zu einer Verstärkung der Beziehungen mit Israel führen.“

Libanon: Hezbollah als Kraft der nationalen Einheit und Selbstbehauptung

Am 3. Juli, dem Tag des Absetzung Mursis, endet in Beirut die eingangs schon erwähnte zweitägige Konferenz von Islam-Gelehrten aus 32 Ländern. Die Abschlusserklärung stellt fest:

„Die Verbrechen, die von Takfiris in Ägypten, Syrien, Iraq und Pakistan gegen friedliche Zivilisten begangen werden, sind eine Befleckung und ein Verbrechen gegen die Menschheit“. „Takfir sei „ein gefährlicher, teuflischer Irrweg, der die Interessen der Nation bedroht und mit dem Islam nichts zu tun hat.“

Fatwas, die Blutvergießen unter Muslimen erlauben, hätten nichts mit der Scharia zu tun. Eindringlich fordert die Konferenz von den arabischen Ländern den Stopp der Ausrüstung der „Takfiri“ in Syrien mit Waffen und Geld sowie die Beendigung der systematischen Zerstörung Syriens.

Die Konferenz diskutiert Themen wie: „Takfir“ in der Geschichte, „Takfir“ und die Leiden der muslimischen Welt, Notwendigkeit der Festigung der islamische Einheit trotz Vielfalt der islamischen Denkschulen und Sekten, Ursachen des „Takfir“, Auswirkungen des „Takfir“ auf die Einheit der Weltgemeinschaft der Muslime, die Medien und „Takfir“.

Der syrische Großmufti Ahmad Bader-Eddin Hassoun, ein Vertreter des regierungstreuen Islam-Establishment, verweist auf Pläne der USA und Katars zur Schaffung eines Komitees aus Saudi Arabien, Ägypten und den Golfstaaten, um Muslime in Russland, Iran und den Nachbarstaaten aufzuwiegeln und Chaos zu verbreiten. Den Gegner Syriens sei bewusst, dass die syrische Armee hinter den Siegen des Widerstands gegen Israel in Gaza und Südlibanon gestanden habe. Daher werde sie angegriffen.

Die libanesische Hezbollah ist auf der Konferenz durch Scheich Naim Qassem vertreten. Der stellvertretenden Generalsekretär der „Partei Allahs“ stellt die rhetorische Frage, wer diese „Takfiri“ eigentlich ermächtigt habe, über andere zu richten, und darüber zu entscheiden, wer in die „Hölle“ und wer ins „Paradies“ kommt. Wer habe ihnen ein Mandat für die Länder gegeben, in denen sie Zerstörung anrichten.

Eigentlich macht die Konferenz genau das, was die Bundesregierung ständig von Muslimen fordert: Sie distanziert sich vom „islamischen Terrorismus“. Doch nicht die terroristischen Salafisten, sondern Hezbollah, der Hauptorganisator der Konferenz, wird am 22. Juli 2013 von der Europäischen Union auf die berüchtigte EU-Liste „terroristischer Organisationen“ gesetzt. Beobachter sehen darin eine Reaktion darauf, dass Hezbollah-Einheiten bei der Vertreibung der Terroristen aus Kussair unter schweren Verlusten gekämpft haben.

Tatsächlich haben die libanesischen Kämpfer vor allem die libanesische (!) Bevölkerung im Grenzgebiet zwischen Libanon und Syrien gegen Übergriffe verteidigt. Nur Vereinzelt hat Hezbollah auch in anderen Teilen Syriens eingegriffen, vor allem, um islamische Heiligtümern vor der Zerstörungswut der fanatischen Takfiri zu schützen.

Tatsächlich richtet sich die Maßnahme der EU gegen den Libanon insgesamt und schafft große Rechtsunsicherheit. Der militärische Arm der Partei, auf den sich die EU-Maßnahme angeblich beschränken soll, ist von den Mitgliedern der Partei überhaupt nicht zu trennen.

Die Partei ist aus dem Volkswiderstand gegen die militärischen Übergriffe Israels hervorgegangen. Sie hat Israel im Mai 2000 aus Südlibanon vertrieben und im Sommer 2006 zur Einstellung der Aggression gezwungen. Die „Waffen des Widerstands“, wie der militärische Arm der Hezbollah im Libanon genannt wird, sind, wie sich in der Verteidigung gegen Israel immer wieder zeigt, mit der regulären Armee des Landes aufs Engste koordiniert. Hezbollah ist im libanesischen Parlament mit zehn von 128 Abgeordneten vertreten und gehört der Übergangsregierung an.

Obgleich als Partei vor allem in den schiitischen Unterschichten verwurzelt und vom schiitisch-islamischen Glauben zutiefst geprägt, ist Hezbollah in allen Fragen der praktischen Politik eine in erster Linie libanesisch-patriotische, arabisch-nationalistische Partei. Sie setzt sich für die Überwindung des Konfessionalismus, das Erbübel der Kolonialzeit, und für eine Parlamentsreform auf der Grundlage des reinen Mehrheitswahlrechts ein. Die patriotischen christlich-maronitischen Kräfte des Libanon unter Führung von Michel Aoun unterhalten mit Hezbollah seit Jahren ein relativ stabiles Bündnis gegen die USA-hörigen, von Saudi Arabien unterstützten Kräfte der Reaktion. Sozialisten und Kommunisten des Libanon stehen zu Hezbollah kritisch, weil diese keine anti-kapitalistische Partei ist, haben aber immer wieder für gemeinsame Ziele des anti-imperialistischen Kampfes, auch militärisch, mit ihr zusammengearbeitet.

Saudi-Arabien: Islamismus und Terrorismus im Dienst dynastischer Geopolitik

Für Saudi Arabien sind die Modernität und Säkularität Syriens eine Herausforderung. Gleiches gilt für den gesamtarabischen Nationalismus der Hezbollah unter ihrem charismatischen Führer Scheich Hassan Nasrallah. Mehr noch allerdings sind die ägyptischen Moslembrüder „eine existentielle Bedrohung der absoluten Macht des saudischen Königs“, betont der in London ansässige Mittelost-Experte Zayd Alisa (America’s Foreign Policy Pivots in the Middle East: Qatar, Saudi Arabia and Wahhabi Salafism , Global Research, August 01, 2013).

Die Moslembrüder berufen sich auf Wahlen als Quelle ihrer Legitimität. Dagegen ist für den Wahabismus, die offizielle Glaubensrichtung in Saudi Arabien, Opposition gegen den islamischen Herrscher absolut verboten. Islamische Legitimität ist für die Herrscherdynastie überlebenswichtig. Die Saudis investieren gewaltige Mittel in das wahabistische Establishment und die weltweite Verbreitung des Salafismus, vorzüglich der wahabistischer Spielart.

Der Sturz der Moslembrüder in Ägypten, für Katar ein empfindlicher außenpolitischer Rückschlag, eröffnet den Saudis neue Möglichkeiten. Die neue ägyptischen Regierung erhält unverzüglich von Saudi Arabien, Kuwait und den Vereinigten Arabischen Emiraten eine Hilfszusage von 12 Mrd. $.

Beunruhigend ist für Riad, dass die USA versuchen, die Moslembrüder als politischen Faktor im Spiel zu halten. König Abdullah lässt am 16. August über das saudische Fernsehen verkünden: „Alle, die sich in die inneren Angelegenheiten Ägyptens einmischen, sollen wissen, dass sie selbst das Feuer des Aufruhrs anfachen und den Terrorismus fördern, zu dessen Bekämpfung sie aufrufen.“

Wenn sich der saudische König mit Milliarden Erdöl-Dollars in islamischen Ländern einmischt, nimmt er sich dieses Recht gerne auch als der „Hüter der heiligen Stätten“ von Mekka und Medina. Er verkörpert den Panislamismus, die reaktionäre transnationale Spielart des Islam, der den geostrategischen Interessen der Saudis am meisten entspricht. Und wenn König Abdullah vor „Terrorismus“ warnt, so zeigt er damit nur, dass Doppelzüngigkeit wie für NATO-Politiker auch für Saudis kein Problem ist.

Tatsächlich ist Saudi Arabien Dreh- und Angelpunkt der Rekrutierung, Ideologisierung und Finanzierung der in Syrien wütenden islamistischen Söldnerbanden. Der saudische Geheimdienst hat, so Zayd Alisa in dem zitierten Artikel, seinen großen Einfluss auf sunnitische Stammesführer im Westen des Irak und auf saudi-arabische Kämpfer der Al Qaida im Irak (AQI) genutzt, um diese Terrororganisation davon zu überzeugen, „dass ihr Hauptschlachtfeld Syrien und das oberste Ziel die Absetzung von Bashar Al Assad sein sollten, weil sein Sturz das Rückrat der schiitischen irakischen Regierung brechen und zwangsläufig den Zugriff des Iran auf den Irak lockern würde.“

Saudi Arabien habe, so Zayd Alisa weiter, die entscheidende Rolle bei der Schaffung eines neuen Zweigs von Al Qaida in Syrien unter dem neuen Etikett Jabhat Al Nusra (JN) gespielt. Saudi Arabien und Katar hätten die Gelegenheit genutzt, um unter dem Vorwand, die Demokratie in Syrien zu fördern, AQI und JN zu stärken, und um Irak und Syrien zu destabilisieren. „So begann AQI, im Juli 2011 Abu Mohammed Al Jolani zu entsenden, um JN zu formieren, während Aymen Al Zawahri, der oberste Führer von Al Qaida, im Februar 2012 alle seine Kämpfer anwies, sich in Syrien einzufinden.“

Der Chef des saudischen Geheimdienstes ist Prinz Bandar. Überraschend begibt er sich nach Moskau und trifft am 31. Juli mit Präsident Wladimir Putin zusammen. Dabei soll er, wie Russia Today (v. 8. Aug. 2013) unter Berufung auf arabische und europäische Diplomaten berichtet, den Vorschlag für einen Vertrag zwischen Saudi Arabien und Russland über russische Waffenlieferungen für 12 Mio $ gemacht haben. Ferner habe er den Schutz russischer Erdgasinteressen im Mittleren Osten zugesagt. Im Gegenzug solle Russland den syrischen Präsidenten Assad fallen lassen.

Für Beobachter in der Region dürfte die saudische Zusage, russische Interessen zu schützen, dahingehend zu verstehen sein, Russland von islamistischem Terrorismus, z.B. während der Olympischen Spiele in Sotschi unbehelligt zu lassen. Putin lehnt höflich ab. Aus der Sicht einer fortschrittlichen libanesischen Zeitung hat Prinz Banda in Moskau wie der “Prinz der Mujahedin” verhandelt („al-Akhbar“ v. 6. Aug. 2013). Aber steckt er auch hinter dem von Obama als Angriffsvorwand benutzen Giftgaseinsatz, wie Befragte vor Ort glauben? (Mint Press News v. 29. Aug. 2013)

Die saudische Unterstützung für das ägyptische Militär ist kein Beweis für dessen angeblich unveränderliche Vasallentreue zu Washington. „Für die Saudis ist ägyptische Stabilität nötig, wenn Kairo mit Israel Frieden halten und zu einer unfreundlichen Haltung gegen Iran getrieben werden soll,“ erklärt Nahed Hattar in dem bereits zitierten Artikel die saudischen Motive.

Zumindest wollten die Saudis, die insgeheim mit Israel zusammenarbeiten, verhindern, dass es zwischen Ägypten, dem größten sunnitischen Land, und Iran, dem größten schiitischen Land, zu einer Verständigung kommt. „Das würde den Fehlschlag des ganzen saudi-arabischen Golf-Projektes bedeuten. Andererseits ist der Sturz der syrischen Regierung eine zwingende Notwendigkeit für Saudi Arabien, solange Syrien an der Frontstellung gegen Israel und an Beziehungen zum Widerstand, d. h. zu Teheran und Heszbollah festhält.“

Iran: Moderner Staat im Geiste eines politischen Islam schiitischer Tradition

Zum Sturz von Mursi am 3. Juli 2013 kommt aus Teheran erst nach tagelang widersprüchlichen Äußerungen ein klärendes Wort, wie der erfahrene Nahost-Korrespondent Ali Hashem (al-Monitor v. 14. Juli 2013) darlegt. Endlich, am 11. Juli telefoniert der iranische Außenminister Ali Akbar Salehi mit seinem ägyptischen Kollegen Mohamed Kamel und betont die iranische Unterstützung für die Entscheidung des ägyptischen Volkes. Er lobt die ägyptische Armee.

Die Moslembrüder haben nicht die zunächst erwartete positive Wende in den Beziehungen zu Teheran gebracht. Der ägyptische Präsident Mursi habe bei seinem Besuch im September 2012, wie sich ein ungenannter iranischer Diplomat erinnert, den Eindruck gemacht, „er sei Sadat auf Besuch in Israel”. Die Visite von Präsident Mahmoud Ahmadinejad in Kairo im Februar 2013, so der Diplomat weiter, „gab uns ein klares Zeichen, dass die alte Muslimbruderschaft sich geändert hat, und nicht nur diese, sondern auch einige unserer engen Verbündeten, die mit ihr verbunden sind.“ Gemeint ist die Hamas, deren Führer Khaled Maschal im Februar 2012 sein Hauptquartier von Damaskus nach Doha verlegt hat.

“Wir respektieren die Muslimbruderschaft als Gruppe, Ideologie, Geschichte und Kampf, aber nicht die gegenwärtige Führung,“ so der iranische Diplomat abschließend. Der Artikel verweist darauf, dass dies, wie der in Washington lebende Historiker Kamal Khalaf al-Tawil bemerkt, die zweite Spaltung zwischen islamischer Revolution im Iran und der Moslembruderschaft ist.

Als Khomeini 1979 an die Macht kam, hätten die Muslimbrüder ihm angeboten, „ihn als den Imam aller Muslime, der Schiiten und Sunniten zu verkünden, wenn er dazu beitragen würde, den damaligen syrischen Staatspräsidenten Hafez Assad zu stürzen.“ Damals habe Khomeini, so Tawil, der Delegation der Muslimbrüder erklärt, insofern Assad den Staat Israel als Feind betrachte, werde der Iran ihnen nur anbieten, sie an einem runden Tisch mit ihm zusammenzubringen. Darauf sei die Delegation der Muslimbrüder abgereist, die Beziehungen seien eingefroren seien.

Die Erwartungen, die Teheran in der Ansprache von Ayatollah Sayyed Ali Khamenei vom 4. Februar 2011 ursprünglich mit den Protesten in Tunesien und Ägypten verbindet, erfüllen sich nicht. Irans oberster religiöser Führer wendet sich auf Arabisch an die Protestbewegung, betont die Bedeutung der iranischen Revolution von 1979 und appelliert an die ägyptische Armee, die Protestbewegung gegen Mubarak zu unterstützen. Am 8. September 2011 hält er vor Mitgliedern der Expertenversammlung, des iranischen Gremiums, das für das Ernennen und Absetzen des religiösen Staatsoberhauptes verantwortlich ist, eine Grundsatzrede (Auszüge in deutscher Übersetzung auf der Webseite IRAN ANDERS v. 27. Feb. 2012).

Die Idee der religiösen Demokratie im Iran sei, so Khamenei, geeignet, auch den revolutionären arabischen Ländern zu helfen. Aber: „Wir bestehen nicht darauf, dass sie unsere Prinzipien in der islamischen Rechtswissenschaft (Fiqh) annehmen oder dass wir diese ihnen anbieten oder aufdrängen. Religiöse Demokratie kann verschiedene Formen annehmen. Wir müssen ihnen aber die Grundlagen der religiösen Demokratie verdeutlichen und darlegen und diese ihnen wie ein Geschenk zur Verfügung zu stellen.“

Die islamische Rechtswissenschaft, das politische „Fiqh“, gehe in der schiitisch-islamischen Lehre weit zurück. Aber erst Ayatollah Khomeini habe eine Staatsordnung auf der Grundlage des politischen Fiqh geschaffen. Khomeini habe die Idee der religiösen Demokratie entwickelt. Er habe das Konzept des religiösen Staatspräsidenten, das Wilayat al-Faqih (übersetzt etwa: Patronat des islamischen Rechtsgelehrten) formuliert. In der ersten islamischen Verfassung ist die Autorität des Wilayat al-Faqih nicht als „absolut“ (mutlaq) bestimmt.

Erst 1989 fügt Khomeini diesen Punkt hinzu. Seitdem ist die politische Autorität des Wilayat al-Faqihs mit der des Propheten und der zwölf schiitischen Imame gleichgesetzt. Das bedeutet, dass das öffentliche Interesse, das das Wilayat al-Faqih wahrzunehmen hat, die höchste Priorität hat. Es gilt sogar höher als religiöse Pflichten wie das Gebet, das Fasten oder die Pilgerfahrt nach Mekka.

Diese scheint eine religiöse Autokratie zu begründen. In der Realität sorgt sie eher für ein Führungssystem, das aus einer Gesamtstruktur von Institutionen und Entscheidungsträgern besteht. An der Spitze steht der oberste islamische Rechtsgelehrte (Rahbari). Aber, so Ayatollah Khamenei: „Gemäß ‚Wilayat al-Faqih mutlaq’ tut ein gerechter Faqih nicht was auch immer er will (…), was ihm gerade in den Sinn kommt. Nein, vielmehr ist es so, dass es eine Art Flexibilität in den Händen des Schlüsselentscheidungsträgers des Staates (…) gibt, die es ihm ermöglicht, den Pfad da zu korrigieren und Verbesserungen da durchzuführen, wo sie notwendig sind.“

Die Verfassung der Islamischen Republik bestimmt in Artikel 110 als Pflicht und Befugnis des Walye Faqih, d.h. der Person, die das Amt des Wilayat al-Faqih ausübt, das „Festlegen der allgemeinen politischen Richtlinien der Islamischen Republik Iran nach Beratung mit der ‚Versammlung zur Erkennung der Zweckmäßigkeit der islamischen Staatsordnung’ (besser bekannt als Schlichtungsrat)“ Diese Institution wiederum steht in interaktivem Austausch mit den anderen Entscheidungsträgern in Staat und Gesellschaft. Damit ist ein Prozess der Entscheidungsfindung vorgeschrieben, der als iranische Variante der „Checks and Balances“, angesehen werden kann, eines Prinzips der bürgerlichen Demokratie, das auch der USA-Verfassung zugrunde liegt.

Khamenei betont die Flexibilität, die dieses System erlaubt, aber er warnt vor der Gefahr, „dass wir glauben, dass diese Flexibilität unter ausländischem Druck beeinflusst werden muss und Veränderungen sich in Richtung westlicher Standards bewegen müssen. (…) das Nachgeben aufgrund von Druck bedeutet nicht Flexibilität. Das wäre Abweichung, nicht Flexibilität.“ In diesem Sinne fordert Khamenei mehr freie Fiqh-Debatten an den Theologischen-Fakultäten, z.B. über Probleme des im Iran entwickelten islamischen Bankwesens. Und er schlägt vor, dass in der fortgeschrittensten Phase des theologischen Studiums Seminare gehalten werden, in denen „Herrschaftsthemen“ behandelt werden.

Fazit

Der politische Islam kann, abstrakt betrachtet, als Instrumentalisierung religiöser Glaubensinhalte und Gefühle für politische Ziele definiert werden. Wie weit allerdings diese Instrumentalisierung politisch erfolgreich ist oder scheitert, ist nicht rein ideologisch zu erklären. Wie jede Form des gesellschaftlichen Bewusstseins ist auch der politische Islam eine Widerspiegelung der realen Vorgänge in der Gesellschaft. In der gegenwärtigen Aggression gegen Syrien zeigt sich sehr anschaulich, wie der politische Islam nicht nur unterschiedliche sondern sogar verschärft gegensätzliche Formen annimmt. Politische Erscheinungsweisen des Islam existieren einerseits als Bekräftigung eines nationalen Selbstbehauptungswillens gegen imperialistische Einmischung, z.B. in Syrien, Libanon, und Iran, andererseits als transnationales Vehikel pro-imperialistischer Regionalinteressen, z.B. der Regierungen der Türkei, Katars und Saudi Arabiens. Und nicht zuletzt agieren salafistisch-wahabistische Terrorbanden im Interesse imperialistischer Kräfte westlicher Staaten.

Klaus von Raussendorff, Bonn, ist Vorsitzender des Freidenker-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen und Generalsekretär der Weltunion der Freidenker


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   Klaus von Raussendorff: Politischer Islam als Ideologie gegensätzlicher Machtinteressen (Auszug aus FREIDENKER 3-13, ca. 240 KB)


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