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Ändert sich das Völkerrecht?

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-13, Dezember 2013, S. 22-25, 72. Jahrgang

von Klaus von Raussendorff

 

Mit dem Ende des „Katastrophenzeitalters“ (Eric Hobsbawm), das 1914 mit der Entfesselung des Ersten Weltkrieges begann und mit dem Sieg der Alliierten über Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg 1945 endete, wurde auch der Wandel zum so genannten „modernen“ Völkerrecht vollzogen. Die im Ergebnis des Sieges über den Faschismus fortentwickelte Völkerrechtsordnung beinhaltet ein umfassendes Gewaltverbot und verfügt in der Nachfolge des wirkungslos gewordenen Völkerbunds über ein mit stärkeren Befugnissen ausgestattetes höchstes Organ der Staatengemeinschaft, die Organisation der Vereinten Nationen.

An der Weiterentwicklung des Völkerrechts hatten in der Zeit der ersten beiden Weltkriege die Sowjetunion als erster sozialistischer Staat und danach die sozialistische Staatengemeinschaft insgesamt einen Anteil, der allgemein als bedeutsam anerkannt wurde, zumindest so lange die internationale Politik und Rechtsordnung von der Existenz der beiden im Kalten Krieg entgegengesetzten Bündnissysteme bestimmt wurde.

Heute begegnet man der These, der Verlust des Bipolarismus im Völkerrecht habe einen fundamentalen Wandel in der Substanz dessen geschaffen, was (Nachkriegs-) Völkerrecht gewesen sei.

Dem könnte entgegnet werden, dass ein in der Entwicklung der Menschheit einmal erreichter höherer Standard der für alle Staaten gleich geltenden Verhaltensregeln nicht einfach verschwindet, auch wenn diese Regeln durch anhaltende, massive Verstöße mächtigerer Staaten partiell und zeitweilig außer Kraft gesetzt werden.

Ob diese oder jene Auffassung zutreffend behauptet werden kann, ist offensichtlich von größter Tragweite dafür, ob Frieden und internationale Sicherheit erhalten, oder anders ausgedrückt, ob Zerfall und Chaos der Völkergemeinschaft vermieden werden können. Völkerrecht ist ein Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung von Experten. Es sollte aber auch von Friedensaktivisten in seiner Struktur und Wirkungsweise gründlich verstanden werden.

Nur ist es schon gar nicht so einfach, wie man glauben sollte, eine Definition des Völkerrechts zu finden, die nicht im Vagen bleibt, sondern einzelne Elemente und Zusammenhänge hervorhebt und damit bereits ein gewisses Verständnis der Materie vermittelt, wie folgende:

„Das Völkerrecht ist eine Rechtsordnung für die Gemeinschaft der Staaten, ein System von Rechtsgrundsätzen, Rechtsinstituten und Rechtssätzen, die untereinander in einem Ordnungszusammenhang stehen.“
(Viktor Bruns, Völkerrecht als Rechtsordnung I. in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. I, Teil 1: Abhandlungen, Berlin und Leipzig: de Gruyter, 1929, S. 1)
Zur Erläuterung: Rechtsgrundsätze sind beispielsweise das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten und das schon erwähnte Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen. Rechtsinstitute sind beispielsweise der völkerrechtliche Vertrag oder die Resolution des Sicherheitsrats, die eine die Staaten bindende Wirkung hat. Rechtsätze sind die einzelnen Rechtsnormen oder Rechtsvorschriften. Das Wichtigste an der zitierten Definition ist, dass alle genannten Elemente des Völkerrechts nicht isoliert nebeneinander existieren sondern in einem „Ordnungszusammenhang“ stehen.

„Wir definieren das Völkerrecht als die Gesamtheit der Normen, die die Beziehungen zwischen den Staaten im Prozess ihres Kampfes und ihrer Zusammenarbeit regeln und die denWillen der herrschenden Klassen dieser Staaten ausdrücken, wobei sie durch Zwang, der von den Staaten individuell oder kollektiv verwirklicht wird, gesichert werden.“
(A. Ja. Wyschinskij, Völkerrecht und internationale Organisation, in: „Sowjetstaat und Recht“ , 1948, Nr. 1, Seite 22, zit. nach D. B. Lewin, Grundprobleme des modernen Völkerrechts, in :Institut für internationales Recht an der Universität Kiel (Hrsg.), Drei sowjetische Beiträge zur Völkerrechtslehre, Hamburg: Hansischer Gildenverlag, 1969, S. 109 – Originalausgabe: Moskau: Staatsverlag für juristische Literatur, 1958 – )

Diese Definitionen erfassen wie alle Definitionen immer nur bestimmte Aspekte des definierten Gegenstands. Sie sollen hier nur ein völkerrechtswissenschaftlicher Anhaltspunkt für die folgende Argumentation sein, dass keine Gründe für einen wesentlichen Wandel des Völkerrechts angeführt werden können.

1. Der Sicherheitsrat schafft kein neues Völkerrecht

Bewirken die militärischen Interventionen in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien eine Transformation des Völkerrechts? Werden dadurch die Eigensphäre des einzelnen Staates und seine souveräne Herrschaftsgewalt in legitimer Weise beschränkt?

Dieser Ansicht ist anscheinend Christian Tomuschat, der meint, noch vor wenigen Jahren wäre „das Eingreifen des Sicherheitsrates in Libyen ein Fall unzulässiger Kompetenzanmaßung“ gewesen. Doch, so der Völkerrechtler weiter, „Die Praxis ist vor allem angesichts der Tatsache, dass die Zahl der innerstaatlichen bewaffneten Konflikte ständig zugenommen hat und diejenige der zwischenstaatlichen Konflikte mittlerweile bei weitem übersteigt, über diese enge Auslegung seit langem hinweggeschritten.“ Daher ergibt sich für ihn die Schlussfolgerung: „Die unter Hochdruck erlassene Resolution 1973 ist durch die Entwicklung (!) des Völkerrechts gedeckt.“ (Wenn Gaddafi mit blutiger Rache droht, in: FAZ v. 23. März 2011)

Tomuschat widerspricht damit der Auffassung von Reinhard Merkel, dass die Resolution, die den Weg zur militärischen Intervention in Libyen freigab, die „Grenzen des Rechts überschreitet“, und zwar, so der Hamburger Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie, „nicht einfach nur die Grenzen positiver Normen – das geschieht im Völkerrecht oft und gehört zum Motor seiner Entwicklung. Sondern die seiner Fundamente: der Prinzipien, auf denen jedes Recht zwischen den Staaten beruht.“ (Reinhard Merkel, Völkerrecht contra Bürgerkrieg – Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegitim, in: FAZ v. 22. März 2011)

Tomuschat wendet ein, die Verweise von Merkel bezögen sich „auf das schlichte Denkmodell eines Gegensatzes von Staat zu Staat.“ Der Sicherheitsrat sei aber „das Organ einer internationalen Gemeinschaft“. Sicherheitsratsbeschlüsse seien „nicht von Eigeninteressen diktiert, sondern bilden sich in einer mühevollen Konsenssuche nicht nur zwischen den fünfzehn Mitgliedern des Rates, sondern durchweg auch in weitest möglicher Abstimmung mit den übrigen Mitgliedern der Weltorganisation.“

Diese Auffassung dürfte, auch wenn sie von einem ehemaligen Völkerrechtsberater mehrerer Bundesregierungen vertreten wird, wenig mit der Realität zu tun haben. Russland und China haben ihre Stimmenthaltung beim Beschluss über eine Flugverbotszone in Libyen schon kurze Zeit später als Irrtum bezeichnet. Vor allem aber darf das Wesen des Völkerrechts nicht verkannt werden.

Das Völkerrecht geht davon aus, dass die rechtliche Bewertung eines innerstaatlichen Konflikts wie grundsätzlich die aller innerstaatlichen Angelegenheiten ausschließlich aus der landesrechtlichen Ordnung des betreffenden Landes zu gewinnen ist. „Für die Beziehungen unter den Staaten sind landesrechtliche Gesetzesbestimmungen bloße Tatsachen und keine Rechtsnormen.“ (Bruns, a.a.O., S.4) „Rechtsnormen sind Bewertungskriterien für menschliches Verhalten, für das Verhalten von Einzelindividuen, wie von Personenverbänden. Sie qualifizieren dieses Verhalten zu einem rechtmäßigen oder rechtwidrigen. Aber nicht umgekehrt qualifiziert das Verhalten die Regel.“ (Bruns, a.a.O., 8)

„Im Sicherheitsrat wird neues Völkerrecht gesetzt,“ behauptet Günter Pleuger, ehemaliger BRD-Spitzendiplomat und Präsident der Europa-Universität Viadrina: (Interview mit Deutschlandfunk v. 23. September 2010). Damit kann nur gemeint sein, dass der Sicherheitsrat die Geltung und einschlägige Anwendung völkerrechtlicher Normen feststellt.

Der Sicherheitsrat ist aber keineswegs in der Lage, aus der Feststellung bloßer Tatsachen neue Rechtsnormen zu abstrahieren. Aus der Tatsache, dass in Bosnien, Irak und Libyen Flugverbotszonen eingerichtet wurden, kann nicht geschlossen werden, dass es ein Völkerrechtsinstitut Flugverbotszone gibt. Aus der Tatsache, dass in Bosnien-Herzegowina aufgrund völkerrechtlicher Verträge staatliche Hoheitsrechte durch einen „Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft“ sowie durch eine Militärmission und eine Polizeimission der Europäischen Union wahrgenommen werden, kann nicht geschlossen werden, dass es ein Völkerrechtsinstitut Protektorat gibt.

Vom Boden des Völkerrechts aus, sind derartige Beschränkungen der Eigensphäre eines einzelnen Staates bloße Tatsachen, keine Rechtstatsachen. Bei allem Gerede über „humanitäre Intervention“ oder „Schutzverantwortung“ („responsibility to protect“) ist es bisher nicht überzeugend gelungen, eine neue allgemeine Regel des Völkerrechts nachzuweisen, etwa des Inhalts, dass innerstaatliche Menschenrechtsverletzungen eine Ausnahme vom allgemeinen Gewaltverbot begründen.

2. Der eigenmächtige Eingriff in die souveränen Hoheitsrechte der Staaten ist ein Angriff auf das Völkerrecht als Rechtsordnung.

Um überhaupt Rechtsordnung zu sein, muss das Völkerrecht wie jede landesrechtliche Ordnung voraussetzen, dass die beteiligten Rechtsgenossen, d.h. die Staaten, unter einander Gleiche sind. Entsprechend muss das Völkerrecht als Rechtsordnung davon ausgehen, dass seine Regeln universell, d.h. für alle Staaten gleichermaßen gelten.

Ist es daher nicht abwegig anzunehmen, dass die Staaten einigen unter ihnen, vorzugsweise den mächtigeren, die Befugnis zugestehen, wenn auch unter Einschaltung des Sicherheitsrates, so doch eigenmächtig in die souveränen Hoheitsrechte einzelner Staaten einzugreifen?

Die „Souveränität“ der Staaten ist keineswegs absolut, wie oft behauptet wird. Souveränität der Staaten ist nicht die Grundlage des Völkerrechts. Zu den Grundlagen des Völkerrechts gehören die Rechtsgleichheit der Staaten und das Friedensgebot. Souverän sind Staaten nicht von „Natur“ aus, sondern als Mitglieder der völkerrechtlichen Ordnung, die den einzelnen Staaten eine Eigen- und Herrschaftssphäre zuweist. Gewaltsame Eingriffe in die Souveränitätsrechte einzelner Staaten sind nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Aber die Staaten haben solche Eingriffe an strikte Regeln gebunden.

Ein besonderes Beispiel dafür ist Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen, das die Maßnahmen des UNO-Sicherheitsrates zur Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit regelt. Der falsche Eindruck eines legitimen Eingreifens in Libyen wurde erweckt, indem diese Bestimmungen willkürlich und den „Ordnungszusammenhang“ der völkerrechtlichen Regeln missachtend ausgelegt wurden. Ein Wandel des Völkerrechts kann dadurch nicht bewirkt worden sein.

3. Völkerrecht ist Ausdruck des nationalen und internationalen Klassenkampfes

Wenn die Normen des Völkerrechts in ihrer Gesamtheit von den Staaten in einem einheitlichen „Prozess ihres Kampfes und ihrer Zusammenarbeit“ geschaffen, geändert und angewendet werden und „den Willen der herrschenden Klassen dieser Staaten ausdrücken“, dann ergibt sich daraus, dass auch die nichtherrschenden Klassen an diesem Prozess teilhaben, denn in einer Klassengesellschaft ist der Wille der Herrschenden kein absoluter, sondern nur ein von den Gegebenheiten der Klassenauseinandersetzung auf nationaler wie internationaler Ebene abhängiger Wille. Anders ausgedrückt: Die Völker und Klassen wirken sowohl an der Gestaltung des Völkerrechts wie auch an der Durchsetzung seiner Geltung mit.

4. Widerstand gegen Aggression ist ein Moment der Sicherung des Völkerrechts

Ein wesentliches Moment jeden Rechts ist der Zwang, der zu seiner Verwirklichung und Sicherung aufgewendet wird. Darin unterscheidet sich Recht von Moral. Wenn die völkerrechtlichen Normen in ihrer Gesamtheit „durch Zwang, der von den Staaten individuell oder kollektiv verwirklicht wird, gesichert werden“, so ist der politische und militärische Widerstand gegen imperialistische Aggression seitens eines einzelnen angegriffenen Staates und seiner Führung nicht nur ein Akt legitimer Verteidigung der eigenstaatlichen Herrschaftssphäre,´. Er ist zugleich ein Beitrag zur Einschränkung des Völkerrechtsbruchs und damit zur Absicherung der Völkerrechtsordnung.

Verteidigung des Völkerrechts erheischt daher solidarische Unterstützung der angegriffenen Seite. Konkret bedeutet dies nicht nur die entschiedene Ablehnung der kriegshetzerischen Dämonisierung der Führer angegriffener Staaten, z.B. des „Diktators“ Bashir al Assad, sondern auch die solidarische Anerkennung seiner gegen die Aggression gerichteten Politik als eines Moments der Aufrechterhaltung der Völkerrechtsordnung.

Während die in Deutschland lebenden Syrer mit Assad-Bildern ihre Unterstützung für den Präsidenten ihres Landes demonstrierten, hatten die mit ihnen demonstrierenden Deutschen allen Anlass, auch seine Rolle in der Verteidigung des Völkerrechts zu würdigen.

Fazit

Bleibt abschließend die Frage, warum die Antikriegsbewegung in ihren Protesten gegen militärische Gewalt dem darin liegenden Völkerrechtsbruch weit weniger Aufmerksamkeit widmet als dem rein Faktischen. Beispielsweise blieb eine völkerrechtsbewusste Petition von Freidenkern vom 6. Dezember 2012, in der die Handlungsweise deutscher Instanzen im Syrien-Konflikt als wesentliche Beteiligung an einer Aggression, d.h. an einem völkerrechtlichen Delikt charakterisiert und Abhilfe gefordert wurde, trotz Unterstützung von über 1000 Einzelnen bei zahlreichen selbsternannten Sprechern der organisierten Friedensbewegung weitgehend ohne Echo.

Unter den Ursachen für Völkerrechtsvergessenheit scheinen zwei besonders naheliegend. Erstens der Zweifel, ob es denn überhaupt Sinn macht, sich auf die internationale Rechtsordnung zu berufen, gegen die massiv und andauernd verstoßen wird und die darüber hinaus angeblich in einer nicht genau zu bezeichnenden „Entwicklung“ begriffen ist.

Zweitens aber auch die Neigung von Akteuren der westlichen so genannten „Zivilgesellschaft“, sich parallel zur Geopolitik der imperialistischen Mächte – bei aller Kritik an militärischer Gewalt das imperialistische Ziel „Regimewechsel“ indifferent tolerierend oder sogar aktiv propagierend – in anderen Ländern einzumischen.

Darin liegen offensichtlich wichtige Gründe dafür, dass die Friedensbewegung in den jüngsten Kriegen ihre politischen Wirkungsmöglichkeiten, die angesichts einer pazifistischen Grundstimmung in der Bevölkerung gegeben wären, nicht voll ausgeschöpft hat.

Klaus von Raussendorff, Bonn, ist Landesvorsitzender des DFV Nordrhein-Westfalen


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