Geschichte

Frauen als Gestalterinnen der Geschichte – Oktoberrevolution und ihre Folgen

Aus: „FREIDENKER“ Nr. 4-17, Dezember 2017, S. 10-20, 76. Jahrgang

von Helga Hörz

Rede auf der Wissenschaftlichen Konferenz "100 Jahre Oktoberrevolution - 100 Jahre Dekret über den Frieden" des Deutschen Freidenker-Verbandes am 30.09.2017 in Berlin

Die Oktoberrevolution 1917 in Russland als historisches  Ereignis war und ist auch für die Durchsetzung von Frauenrechten als Menschenrechte von enormer Bedeutung.

Frauen haben diese Revolution mit vorbereitet, aktiv begleitet und ihre Folgen mit gestaltet. Sie nutzen nun das in der Geschichte Erreichte zur Kritik bestehender Missstände und kämpfen, auf der Basis von Erfahrungen historischer Vorbilder, für Geschlechtergerechtigkeit. Revolutionen sind Massenbewegungen, in denen herausragende Persönlichkeiten eine entscheidende Rolle spielen und wirkmächtige Ereignisse Auslöser und Verstärker sein können. Um das für die Rolle von Frauen für die Oktoberrevolution und ihre Auswirkungen zu verdeutlichen, wird erstens auf Rollenklischees und den Kampf zu ihrer Überwindung verwiesen und zweitens mit der Lage der Frauen vor der Oktoberrevolution auf vorhergehende revolutionäre Ereignisse eingegangen. Drittens geht es um die Folgen der Oktoberrevolution für die Lebensqualität der Menschen. Der aktive Einsatz von Alexandra Kollontai (1872 – 1952) für die Menschenrechte zeigt viertens die aktive Rolle von Frauenpersönlichkeiten. Als Fazit werden fünftens aktuelle Probleme benannt.

1. Rollenklischees und der notwendige Kampf zu ihrer Überwindung

Um wichtige historische Ereignisse in ihrer Bedeutung für die Gegenwart einzuschätzen, ist von solchen herausragenden Leistungen im Kampf um Menschenrechte Kenntnis zu nehmen, die international neue Herausforderungen nach sich zogen. Historische Erfolge, Regressionen und Stagnationen sind zu analysieren.

Frauen, verbunden mit gleichgesinnten Männern, brachen in der Geschichte auf, um mutig für ihre Rechte einzutreten. Politische Restriktionen und staatliche Repressionen waren zu bekämpfen. Diskriminierung, Folter und Todesstrafen verstärkten die Leiden der Akteure.

Unterschiedliche Theoretiker setzten zu unterschiedlichen Zeiten Mann-Sein und Mensch-Sein gleich. Solche Klischees wirken lange nach. Am Mann-sein wird dann das Mensch-Sein gemessen. Dagegen wenden sich Bewegungen, die für die Emanzipation der Frauen eintreten. Vieles wurde erreicht, so bei der Bildung, beim Wahlrecht, beim Recht auf Arbeit. Solche Erfolge weiter auszubauen und Frauenrechte durchzusetzen, ist Tagesaufgabe, um das  in verschiedenen Formen herrschende Patriarchat in allen Ländern nicht nur teilweise, sondern voll als Herrschaftsform zu überwinden.

Neben denen, die alte Rollenklischees verteidigten und damit Menschengruppen in Befürworter und Gegner des Kampfes um Menschenrechte spalteten, gab es Gesellschafts-Theoretiker, die den Kampf um Gerechtigkeit für Frauen als eine soziale Frage sahen und nachwiesen, dass praktisch um soziale Problemlösungen zu ringen ist. In Deutschland war das August Bebel mit seinem Buch „Die Frau und der Sozialismus“. Gestützt auf Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Engels legte er, theoretisch fundiert, den Zusammenhang von Frauenfrage und sozialer Frage dar.

In der Arbeiterbewegung wurde sein Buch für Jahrzehnte zu einem Handbuch. Gegner der Arbeiterbewegung zogen es jedoch heran, um die Verlängerung des Ausnahmegesetzes zu begründen und die Sozialdemokratie zu diffamieren. Im Reichstag bezeichnete der preußische Innenminister Robert Viktor von Puttkamer (1843-1900) die politischen und sozialen Forderungen Bebels als „verbrecherisch“. Bebel dankte ihm, als er gegen die Verlängerung des Sozialistengesetzes sprach, für diese sicher nicht geplante Werbung für das Buch. Mit ihren Leistungen für die Anerkennung der Menschenrechte von Frauen ist auch Clara Zetkin in die Geschichte als eine ihrer Gestalterinnen eingegangen. Sie kämpfte vor allem um das Menschenrecht auf Frieden. Der 1910 beschlossene Frauentag am 8. März sollte nach ihrer Meinung und der ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter Friedenstag sein. Sie setzte sich deshalb unermüdlich für Friedenserziehung ein. Allen Schikanen zum Trotz wurde seit 1914 der Frauentag als Friedenstag begangen.

Historische Entwicklungen, Kämpfe und Bewegungen, einschließlich der stagnativen und regressiven gesellschaftlichen Zustände, waren von revolutionären Frauen und Männern, die den Aufbau einer neuen Gesellschaft anstrebten, aufzuarbeiten und für die Spezifik ihres  Landes als praktische Handlungsanleitung umzusetzen. Herausragende Persönlichkeiten stellten sich dieser Aufgabe. Lenin entwickelte auf der Grundlage der theoretischen Erkenntnisse von Marx und Engels seine praktisch umsetzbare Gesellschafttheorie. Alexandra Kollontai, die in der Organisation der Frauen im Kampf für ihre Rechte vor allem ihr Betätigungsfeld sah, kämpfte besonders für die internationale Vereinigung Gleichgesinnter. Wie war die Situation in Russland?

 

2. Die Lage der Frauen in Russland und revolutionäre Ereignisse

Die Lage der Frauen in Russland war 1917 in besonderem Maße rechtlos. Feudale gesellschaftliche und kapitalistische Eigentumsverhältnisse waren verflochten. Sie setzten Frauen über verinnerlichte Traditionen entsprechenden Norm-und Wertvorstellungen aus. Einerseits galt das feudale Prinzip, Frauen als Sklavin und Eigentum des Mannes in der Familie zu behandeln.

Maxim Gorki, der 1906 in Anerkennung der Leistungen von Frauen sein Buch „Die Mutter“ publizierte, ließ die Hauptheldin Pelageja Wlassowa feststellen: „Ich habe nichts gesehen als meinen Mann, nichts weiter gekannt als Schläge, Arbeit und Furcht… Er hat mich so geschlagen…, als wenn er nicht auf sein Weib, sondern auf alle losschlüge, auf die er wütend war.“ (Gorki 1976) Wlassowa will verstehen, warum sie keine Liebe und Anerkennung als menschliches Wesen erhält und begreift, dass sie getreten wird, von einem, der auch getreten wird. Ihr Elend ist so groß, dass sie getreten wird, weil sie als Wesen noch unter ihm steht.

Andererseits waren Frauen als Arbeiterinnen der kapitalistischen Ausbeutung unterworfen. 80 Prozent aller lohnabhängigen Frauen verrichteten die niedrigsten Arbeiten als Dienstmädchen und Tagelöhnerinnen, 13 Prozent arbeiteten in Betrieben und Baustellen, nur 4 Prozent auf dem Gebiet der Volksbildung und im Gesundheitswesen. Der Arbeitstag erreicht in den Frauengewerken allein 18 Stunden. Im Strickereigewerbe fangen die Kinder mit 6 Jahren zu arbeiten an. Gleichen Lohn für gleiche Arbeit gab es nicht. Der Tagesverdienst betrug für den Mann 1 Rubel 41 Kopeken, eine Arbeiterin erhielt nur 72 Kopeken. Rückständigkeit, Unwissenheit und Analphabetentum sind charakteristisch für die Lage der Frauen. Fünf von sechs Frauen konnten weder lesen noch schreiben. (Hervé 1979)

Dazu schrieb Alexandra Kollontai: „Von Jahr zu Jahr wird das Leben schwerer für jene, die von ihrer Arbeit leben. Einerseits nimmt das Elend des gesamten Volkes zu, andererseits wächst der unmäßige Luxus und Reichtum jener weniger, die über das Eigentum, das Kapital, die Fabriken, das Land und die Gebäude verfügen. Die Geschäfte sind von Waren überfüllt, aber ein großer Teil der Bevölkerung geht ohne Stiefel und im Winter ohne warme Kleidung; in den Speichern fault das Korn, aber die Menschen sterben vor Hunger; die Forsthöfe sind bis oben hin mit Holz überschüttet, der Arbeiter aber hat auch nicht ein Spänchen, um seinen Ofen zu heizen, und die Bauernfamilie weiß nicht, worauf sie das Brot backen soll. Je weiter desto schlimmer.“ (Schejnis 1984. S.59)

Diese Situation war Auslöser der Demonstration 1905 in Petersburg, die als Blutsonntag in die Geschichte eingegangen ist. Am 9. (22.) Januar 1905 zogen 140 000 Arbeiter friedlich mit ihren Frauen und Kindern vor das Winterpalais, um mit einer Bittschrift den Zaren auf ihre elende Lage aufmerksam zu machen. Auf die Menge wurde geschossen. 4600 Tote und Verwundete waren zu beklagen. Arbeiter errichteten Barrikaden und es kam zu Generalstreiks als politische Massenstreiks in vielen Städten des Landes.

Der 9. Januar erteilte allen eine bittere historische Lektion. Der Glaube an den Zaren war vor dem Winterpalais zerschossen worden. Lenin schrieb dazu in der bolschewistischen Zeitung „Wperjod“ (Vorwärts): „Die Arbeiterklasse hat eine große Lektion des Bürgerkriegs erhalten, die revolutionäre Erziehung des Proletariats hat an diesem einen Tag so große Fortschritte gemacht, wie sie in Monaten und Jahren des grauen, niederdrückenden Alltagsleben nicht hätte machen können.“ (Lenin 1959a,  S.85) Die Reaktion schlug, mit Unterstützung ausländischer Verbündeter, alle freiheitlichen Bestrebungen des russischen Volkes nieder.

1917 war die Lage in Petrograd nicht besser geworden. Hunger, fehlendes Mehl, unmögliche hygienische Zustände, Ausbeutung usw. schürten die Unzufriedenheit mit der Regierung. Der Internationale Frauentag wurde inzwischen in vielen Ländern begangen und im Februar 1917 in Petrograd zu einem wirkmächtigen Ereignis. Die britische Historikerin Catherine Merridale schildert das in ihrem 2017 erschienenen Buch „Lenins Zug. Die Reise in die Revolution“ so:

„Die Ereignisse begannen mit einer Feier, wenn auch mit einer importierten und zuweilen halbherzigen. Der Internationale Frauentag war vor dem Krieg von der deutschen Sozialistin Clara Zetkin ins Leben gerufen worden. Er wurde in Petrograd am 23. Februar begangen, ein paar Wochen vor der jährlichen Gedenkfeier an den Blutsonntag. In den ersten Jahren hatten die Genossinnen und Genossen im Russischen Reich gezögert, Zetkins Feier einen besonderen Stellenwert einzuräumen und manche äußerten weiterhin Zweifel an seinem Propagandanutzen, während das Datum 1917 näherrückte. Eine Demonstration war geplant, doch bestand das Risiko, dass nur wenige Teilnehmer – und hauptsächlich weibliche – erscheinen würden.  … Andere Fraktionen sahen jedoch eine Propagandachance … Wenn das Wetter abschreckend kalt gewesen wäre oder die Stadt ausreichende Mehllieferungen erhalten oder sogar wenn die Toiletten an den Arbeitsplätzen beheizt worden wären, damit die Rohre auftauten, hätten sich die Streiks vielleicht in Grenzen gehalten. Aber am Morgen des 23. Februar, einem Donnerstag, waren die Frauen in den Wyborger Baumwollspinnereien nicht zu Kompromissen aufgelegt. Ihre Versammlungen zum Frauentag mündeten in eine massenhafte Arbeitsniederlegung, und während sie zur Newa marschierten, forderten sie andere Arbeiter auf, sich ihnen anzuschließen, … Bis Mittag kamen etwa 50 000 Menschen zusammen, um … zu protestieren.“ (Merridale 2017, S. 121f.)

Der Eifer der Demonstranten konnte auch am nächsten Tag nicht gedämpft werden. Immer mehr Menschen schlossen sich dem Aufstand an. „Rote Fahnen erstreckten sich über das Meer von Köpfen, viele trugen Parolen, die Frieden, den unmittelbaren und ersehnten Frieden, verlangten.“ (Merridale 2017, S. 125) Der Befehl, den Pöbel zu zerstreuen, wurde nicht befolgt. Es kam zur Meuterei unter den Soldaten. „Am 27. Februar 1917 gingen die Kundgebungen in eine Revolution über.“ (Merridale 2017, S. 129) Zar Nikolaus II. (1868-1918) dankte ab.

Der Petrograder Sowjet gab jedoch die exekutive Gewalt an die Provisorische Regierung ab. Es kam zur Doppelherrschaft. Alexander Kerenski (1881-1970) war erst Justizminister und übernahm im Mai 1917 mit dem Vorsitz auch das Kriegs- und Marineministerium. Die Weigerung der Kerenski-Regierung den Krieg mit Deutschland zu beenden, aber auch Konzeptionslosigkeit, Halbherzigkeit und mangelnde Durchsetzungskraft, führten zum Niedergang der Regierung. Der Zerfall der Front und der Armee und mangelnder Rückhalt im Volk kamen hinzu. Bei einer spontanen Massendemonstration von Petrograder Arbeitern und Teilen der Garnison im Juli gegen die Regierung setzte sich die bolschewistische Partei zwar an die Spitze, um ihr einen friedlichen Charakter zu verleihen. Sie hielt jedoch den Termin für eine sozialistische Revolution noch für zu früh. Die Regierung ging mit Waffengewalt gegen die Demonstranten vor. Eine Verhaftungswelle gegen Mitglieder der bolschewistischen Partei folgte. Auch Alexandra Kollontai wurde inhaftiert. Maxim Gorki sorgte durch das Stellen einer Kaution später für ihre Freilassung.

Die Doppelherrschaft wurde im Oktober 1917 beendet. Der II. Sowjetkongress verkündete: Die ganze Macht geht überall an die Sowjets der Arbeiter –Soldaten- und Bauerndeputierten über. Der Jubel unter den Delegierten war groß. Lenin betonte die Rolle der Frauen in diesem Kampf um den Sieg der sozialistischen Bewegung. Durch Opferbereitschaft und mutigen Einsatz leisteten Frauen einen wesentlichen Beitrag zu diesem Sieg. Lenin schrieb, dass die vielen Wlassowas, diese unbekannten Soldaten der Revolution, durch ihr Engagement zum Sieg der Oktoberrevolution beigetragen haben. Auf dem I. Gesamtrussischen Arbeiterinnenkongress am 19. November 1918 sagte er: „Es kann aber keine sozialistische Umwälzung geben, ohne daß ein großer Teil der werktätigen Frauen daran bedeutenden Anteil nimmt. … Kein einziger kapitalistischer Staat, nicht einmal die freieste Republik, kennt die volle Gleichberechtigung der Frauen.“ (Lenin 1959b, S. 175) Er verwies darauf, was in der kurzen Zeit schon geleistet wurde.

 

3. Oktoberrevolution und die Erhöhung der Lebensqualität der Menschen

Als die Losung „Alle Macht den Sowjets“ verkündet und begeistert aufgenommen wurde, war vielen Delegierten nicht klar, welche Schwierigkeiten nun zu überwinden waren. Im eigenen Land tobte noch der Krieg. Angriffen der Weißgardisten war zu begegnen. Illusionen im Volk überschätzten die Möglichkeit, das rückständige Land auf schnellstem Wege umzugestalten.

Auf manche Maßnahmen gab es wütende Attacken von Kleinbürgern, die Privilegien verloren. Funktionäre, die die neue Ordnung durchsetzen wollten, wurden ermordet. Kritik kam aus dem Ausland.  Sozialdemokratische Parteien waren über die Einschätzung der Oktoberereignisse in Russland zerstritten. Doch ergriffen Sozialisten im Ausland Partei für diese Revolution. Clara Zetkin stellte fest: „Eroberung der ganzen politischen Macht im Reiche, Eroberung der Staatsmacht, das besagt eines: Die Revolution kann sich nicht damit begnügen, Rußland politisch umzuwälzen, sie muß auch wirtschaftlich und sozial mit dem Hammer philosophieren, auf daß Neues entstehe. Der soziale Inhalt dieser Revolution ist eine Lebensnotwendigkeit.“ (Zetkin 1957, S.776)

Gleich nach der Machtübernahme setzte die Partei der Bolschewiki noch im November ihre ganze Kraft für soziale Menschenrechte ein. Frieden, Arbeit, Bildung für das russische Volk waren ihre ersten Ziele. Neue Verordnungen, Gesetze  und Dekrete, um das Sklavendasein der Frau zu beenden, überschlugen sich förmlich. Unmittelbar nach dem Sieg der Revolution wurden alle Gesetze aufgehoben, die die Frauen benachteiligten. Mit dem ersten Dekret der jungen Sowjetmacht wurde die Einführung gleichen Lohns für gleiche Arbeit gesichert. Der Achtstundentag wurde gesetzlich festgelegt. Frauen erhielten gleiche Vermögens-und Elternrechte. Mutterschaft wurde als soziale Frage anerkannt. Clara Zetkin schrieb in „Was die Frauen Lenin verdanken“:

„Millionen Proletarierinnen und Bäuerinnen…zittern nicht mehr davor, daß der Kapitalist in der Fabrik ihre Arbeitsstunden bis tief in die Nacht hinein verlängert, ihren Verdienst zu Hungerlohn kürzt und sie im Kaufhaus und auf dem Markt plündert; daß der Großgrundbesitzer, der reiche Bauer und der Wucherer im Dorf die Früchte ihres Bienenfleißes in Haus, Garten Feld an sich reißen Sie fürchten nicht mehr die Herrschaft, das Vorrecht des Mannes im Heim und im öffentlichen Leben, ihre Benachteiligung, Zurücksetzung und Entrechtung als Weib, als Mutter durch die Gesetzgebung.“ (https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/zetkin/zetkin-geschichte-der-arbeiterbewegung/clara-zetkin-was-die-frauen-lenin-verdanken)

Lenin unterschrieb kurz nach der Revolution das Dekret über den Schutz von Mutter und Kind. Das war das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass ein Staat ein umfassendes System für die Betreuung von Schwangeren und Müttern entwickelte. Der Aufbau von Kinderkrippen und Kindergärten wurde in Gang gebracht. Es ging darum, Geschlechtergerechtigkeit durchzusetzen. Ende 1917 wurde festgelegt, dass Frauen für eine bestimmte Zeit vor und nach der Entbindung, unter voller Garantie ihres Arbeitsplatzes und bei unentgeltlicher ärztlicher Hilfeleistung für Mutter und Kind, von der Arbeit zu befreien sind. Ein wesentlicher Abbau der benachteiligten Stellung der Frau in der Familie erfolgte durch Dekrete über die Ehe, die Kinder und die Scheidung. Eheliche und nichteheliche Kinder wurden gleichberechtigt. Es erfolgte die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.

Lenin schrieb dazu 1920: „In zwei Jahren Sowjetmacht wurde in dem rückständigsten Land Europas für die Befreiung der Frau und für ihre Gleichstellung mit dem starken Geschlecht soviel getan, wie die fortschrittlichen, aufgeklärten demokratischen Republiken der ganzen Welt nicht getan haben,“ (Allendorf 1975, S. 56)

Als entscheidende Leistung, um mündige Bürger zu erhalten, erfolgte die Alphabetisierung. Bereits im Dezember 1917 veröffentlichte der Rat der Volkskommissare das Dekret „Über die Beseitigung des Analphabetentums“. Darin wurden alle Bürger im Alter von 8 bis 50 Jahren, Frauen und Männer, verpflichtet, Lesen und Schreiben, nach ihrer Wahl in der eigenen oder in der russischen Sprache, zu erlernen.

Der Dichter Majakowski mahnte: „Arbeiter und Bauern, eure Feinde sind alle mit Wissen ausgerüstet. Ihr habt ihre Organisation besiegt. Behaupten könnt ihr den Sieg aber nur, wenn ihr selber Wissen besitzt. Beeilt euch, es euch anzueignen – allein das garantiert eure Zukunft!“ Sieben Millionen Menschen, unter ihnen vier Millionen Frauen, lernten in den Jahren 1917 bis 1920 lesen und schreiben. Diese historische Leistung ist einmalig. Sie wurde unter schwierigen Verhältnissen erbracht. Täglich verhungerten Frauen, Kinder, Männer oder wurden von Seuchen hingerafft. Truppen Koltschaks führten Krieg gegen die junge Sowjetmacht und versperrten den Zugang zu den Kornkammern. Die Wirtschaft war zerrüttet. Verwahrloste  und heimatlose Kinder streunten durch das Land.

Auch die Durchsetzung der Geschlechtergerechtigkeit traf auf Gegenkräfte. Sie traten für die alten Rollenklischees ein. Man verfolgte in südlichen Republiken Mädchen und Frauen unbarmherzig und bestrafte sie wie Verbrecherinnen, wenn sie es wagten, eine der neu eröffneten Schulen zu besuchen. Zwar war schon 1918 ein Dekret erlassen worden, das den Frauen das Ablegen der Parandsha (Burka) und des Schleiers erlaubte, Kauf und Verkauf von Mädchen verbot und das gesetzliche Heiratsalter, das oft erst 9 Jahre betrug, auf 16 Jahre heraufsetzte. Doch die Umsetzung der Gesetze stieß auf großen Widerstand. Es gab Kämpfe mit feindlichen Banden der ehemals herrschenden Khane, die vom Ausland mit Waffen beliefert wurden.

Zusätzlich wirkten in den Köpfen von Frauen Normen, Werte und Traditionen aus der feudalen Gesellschaft noch lange weiter. Sie verhinderten es, Maßnahmen der Sowjetmacht als Durchsetzung von Frauenrechten als Menschenrechte zu begreifen. Erst der Brester Friedens-Vertrag, von Lenin initiiert, ermöglichte dann die Umsetzung sozialer Menschenrechte.

Am 10.01.1920 schrieb Lenin an das Büro des Frauenkongresses in Petrograd: „Wir beenden jetzt erfolgreich den Bürgerkrieg … Die Sowjetrepublik kann und muß von nun an ihre Kräfte auf eine Aufgabe konzentrieren, die uns näher und vertrauter ist: auf den unblutigen Krieg, auf den Sieg über Hunger, Kälte und Zerrüttung. Und in diesem unblutigen Krieg sind die Arbeiterinnen und Bäuerinnen berufen, eine besonders große Rolle zu spielen….(Lenin 1961, S. 289)

Gegen alle Widerstände und Hemmnisse wurde in dieser Zeit der Aufbau einer neuen Volksbildungsordnung vorangetrieben. Besondere Verdienste erwarb sich Nadeshda Krupskaja. Sie war maßgeblich an der Ausarbeitung des sowjetischen Programms der Volksbildung beteiligt und setzte sich für seine Umsetzung mit großem Engagement ein. Im Juni 1918 wurde die „Verordnung über den Aufbau des Volksbildungswesens in der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ und die „Verordnung über die Einheitsarbeitsschule der Russischen Föderativen Sowjetrepublik“ erlassen.

Die Einheitsarbeitsschule wird so charakterisiert: „Den Kindern der Werktätigen werde von früher Kindheit bis zum Jugendalter die Möglichkeit geboten, eine unentgeltliche allgemeine und polytechnische Bildung zu erwerben. In der Schule werde eine enge Verbindung des Unterrichts mit produktiver Arbeit hergestellt. Der Unterricht erfolge für Kinder beiderlei Geschlechts gemeinsam. Die sowjetische Schule sei eine uneingeschränkt weltliche Schule und die demokratischste Schule der Welt.“ (Obitschkin, u.a.1986, S. 161).

Krupskaja betonte häufig diese „Grundprinzipien der Einheitsarbeitsschule“, weil sie ihr sehr wichtig waren: „Die Festigkeit der sozialistischen Gesellschaft besteht nicht in kasernenhofmäßiger Einförmigkeit und nicht in künstlicher Dressur, nicht in religiösem oder ästhetischem Betrug, sondern in realer Solidarität der Interessen.“ (Obitschkin, u.a.1986, S. 161f)

Zur Umsetzung des Schulprogramms wurden verschiedene Formen entwickelt. Neben der Ausbildung von Lehrern wurden Eltern, aber auch Wissenschaftler und Schriftsteller in die Verwirklichung dieser Bildungsziele einbezogen. Wladimir Majakowski verfasste eine Fibel für lernende Analphabeten. Demjan Bedny schrieb Gedichte zur Beseitigung des Analphabetentums.

Krupskaja unternahm mit Instrukteuren und Propagandisten eine Schiffsreise von mehren Monaten, um in den hauptsächlich noch von Weißen beherrschten Gebieten diese Schulpolitik zu propagieren. Das war gefährlich, doch notwendig, um Gesetze und Verordnungen bekannt zu machen. Viele Methoden wurden entwickelt, weil die Größe des Landes und das Beharren auf alten Traditionen und Werten Widerstände gegen alles Neue hervorbrachten. Um Sinn und Weg zur Überwindung überlebter Denk-und Verhaltensweisen zu begreifen war Wissen zu vermitteln.

Leider wurden nach Lenins Tod nicht alle Wege zur Verwirklichung der Gleichstellung von Frau und Mann weiter verfolgt. So gab es Phasen der Stagnation und Regression, doch das darf die erreichten Fortschritte nicht verdecken. Bleibenden Bestand haben bis heute die Überwindung des Analphabetentums, das fortschrittliche Schulwesen und wesentliche Schritte zur Geschlechtergerechtigkeit. Zu den Frauen, die mit der Oktoberrevolution und ihren Folgen Geschichte gestaltet haben, gehören Nadeshda Krupskaja, Larissa Reisner, Ines Armand, Larissa Stassowa  u.a. Solche Frauen haben aufopferungsvoll Leistungen erbracht, um im Russland dieser Zeit den neuen Staat lebensfähig zu machen. Zu ihnen gehörte auch Alexandra Kollontai.

 

4. Aktiver Einsatz für die Menschen­rechte durch Alexandra Kollontai

Vor der Oktoberrevolution kamen gebildete Frauen oft aus Familien des Adels und aus  bürgerlichen Kreisen.

Alexandra Kollontai, Tochter eines vermögenden Generals, gelangte durch ihr Gerechtigkeitsempfinden in die revolutionären Auseinandersetzungen ihrer Zeit. Sie ergriff die Partei der Geknechteten und Unterdrückten. Nach dem Blutsonntag von 1905 gab es  in den Reihen der Revolutionäre Resignation und Verzagtheit. Zu denen, die gestärkt aus den Klassenkämpfen hervorgingen, gehörte sie. Sie engagierte sich besonders unter den Arbeiterinnen, um sie für den Kampf um soziale Rechte zu mobilisieren. Sie sollten auf dem neu gegangenen Weg, sich selbst als eigenständige Persönlichkeit begreifen, weiter Fortschritte machen.

Kollontai suchte für ihr Engagement unter den Frauen Verbündete im Ausland. 1906 traf sie in Finnland erstmalig mit Rosa Luxemburg zusammen und nahm auf deren Rat am Mannheimer Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sowie an der 4. Konferenz sozialdemokratischer Frauen Deutschlands teil. Im Jahr darauf besuchte sie die Erste Internationale Sozialistische Frauenkonferenz. In ihrem Referat zog sie Bilanz, was in Russland getan und erreicht wurde. Sie verfolgte das Anliegen, durch Ansporn die internationale Zusammenarbeit Gleichgesinnter zu befördern und auszubauen und sah in dem organisierten Kampf der Frauen, sich aus ihrem Sklavendasein zu befreien, eine Schwächung der herrschenden Ausbeuterklasse. Internationale Kontakte, so zu Clara Zetkin, verhalfen ihr zur Einsicht, dass man für die Arbeit unter den Frauen viel Geduld haben müsse, da viele Frauen, gefangen in propagierten Rollenklischees, sich nicht gegen ihr Dasein auflehnen. Als sie für ihr politisches Engagement immer mehr in Gefahr gerät, verhaftet zu werden, flieht sie ins Ausland. Deshalb kann sie 1908 am Ersten Gesamtrussischen Frauenkongress nicht teilnehmen, verfolgt jedoch aus Deutschland alles genau und lässt ihr vorbereitetes Referat durch die Arbeiterin Warwara Wolkowa vortragen. Sie erkannte deren Fähigkeit, sich zur Revolutionärin zu entwickeln. Kollontai täuschte sich nicht.

Wolkowa wurde nach 1917 eine hervorragende Propagandistin der Politik der bolschewistischen Partei und stieg in hohe Funktionen auf. An Wolkowa schrieb Kollontai später, dass man zur Einbeziehung von Frauen in politische Kämpfe eine besondere Propaganda und Agitation brauche. Kollontai sammelte dazu Erfahrungen. So besuchte sie in Deutschland ein spezielles Frauenbüro, das sich der Aufgabe stellte, Frauen, vor allem Proletarierfrauen, in Lektionen zu schulen, um ihr Selbstbewusstsein zu entwickeln und sie zum gemeinsamen Kampf gegen Ausbeutung, mit den Arbeitern als Partner, zu befähigen. Nach der Revolution 1917 wurden in Russland spezielle Frauenkomitees geschaffen.

Die aktive Teilnahme Kollontais an Aktivitäten der internationalen Frauenbewegung führte, als sie in Deutschland war, in ihren Auffassungen zum Feminismus zu einem Trennstrich zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung. Sie setzte sich theoretisch mit den unterschiedlichen Zielen von bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung auseinander. Am 17. Februar 1913 schrieb sie in einem Artikel in der Prawda: „Was wollen die Feministinnen?“ Die Antwort ist: „Privilegien, jene Macht, jene Rechte in der kapitalistischen Gesellschaft, wie sie heute ihre Männer, Väter und Brüder besitzen. Und was wollen die Arbeiterinnen? Die Abschaffung aller Privilegien nach Reichtum und Geburt. Der Arbeiterin ist es völlig gleichgültig wer ihr Ausbeuter ist: ein Mann oder eine Frau. Gemeinsam mit ihrer ganzen Klasse will sie ihre Lage als Arbeiterin erleichtern.“ (Schejnis 1984, S.74)

Kollontais Wirkungsfeld war nicht nur die Frauenproblematik in Deutschland. Formen und Methoden des Klassenkampfes der Arbeiterklasse beschäftigten sie generell. Ihr war klar, dass der Übergang in eine neue Gesellschaft sicher nicht auf friedlichem Wege erfolgen kann. Dabei wären internationale Aktionen erfolgversprechender. Sie besuchte in Deutschland die großen Industriezentren und war begeistert von dem revolutionären Geist der deutschen Arbeiter und rief vor dem ersten Weltkrieg zum Kampf gegen Kriegspropaganda und Chauvinismus auf. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges stürzte sie in tiefe Zweifel über die Reife der deutschen Proletarier und ihr internationales Solidaritätsempfinden. Karl Liebknecht, mit dem sie in engem Kontakt stand, erklärte ihr, dass Chauvinismus vielen Arbeitern die Köpfe vernebelt habe, doch er und gleichgesinnte Genossen würden gegen jede Form von Völkerhass kämpfen.

In dieser Zeit bestand bereits ein enger Kontakt Kollontais zu Lenin. Sie überwand menschewistische Positionen und engagierte sich stark für Ziele und Programm der bolschewistischen Partei. Da ihre Treue zu Zielen und Aufgaben der bolschewistischen Partei in dieser Zeit eindeutig waren, wurde sie 1916 mit dem wichtigen Auftrag betreut, Lenins Linie der Friedenspolitik den amerikanischen Arbeitern zu erläutern. Mit großer Energie wurde sie in Amerika dieser Aufgabe gerecht. In viereinhalb Monaten hält sie 123 Referate in vier Sprachen. In ihr Tagebuch schrieb sie: „Ich habe meinem Leben eine weitere Seite abgewonnen, hinter mir liegt eine Zeit voller Arbeit und Verantwortung.“ (Schejnis 1984, S. 118).

Nach ihrer Rückkehr im März 1916 schrieb sie an Lenin und seine Frau Nadeshda Krupskaja: „Im großen und ganzen bin ich mit meinem Aufenthalt in Amerika zufrieden; ein kleiner Nutzen gleichsam im Sinne der Klärung der Geister vom chauvinistischen Nebel. …Ich freue mich sehr, dass ich Ihnen wieder näher bin. Einen ganz innigen und herzlichen Gruß an Sie beide.  Alexandra K.“ (Schejnis 1984, S.119)

Eine zweite Reise nach Amerika zeigte ihr, wie chauvinistische Propaganda viele Amerikaner von Friedensaktivisten zu Kriegsverteidigern verändert hatte. Sie verließ Amerika enttäuscht. Dennoch gilt für beide Amerikareisen, dass sie als Agitatorin für den Internationalismus eine bedeutsame Arbeit für die Popularisierung der Leninschen Taktik der Friedenssicherung und des Programms der Revolution geleistet hatte. Sie teilte Lenins Hoffnung, dass Arbeiterrevolutionen in den industriell hochentwickelten Ländern des Westens zu erwarten wären.

Da Kollontai in Russland immer noch die Verhaftung drohte, ging sie schweren Herzens wieder nach Norwegen, Lenin stellte in dieser Zeit über Kollontai Verbindungen nach Russland her. Er betraute sie mit wichtigen Aufgaben, da er eine hohe Meinung von ihrem Verstand, ihrem politischen Feingefühl und ihrer absoluten Ergebenheit für die Partei hatte. Er bat sie u.a. die Verbindung zu schwedischen Genossen herzustellen, für die Verbreitung seiner Broschüre „Sozialismus und Krieg“ in Skandinavien zu sorgen und die Veröffentlichung in den USA vorzubereiten.

Als Lenin am 3./16. April 1917 auf dem Finnischen Bahnhof in Petrograd eintraf wurde er begeistert empfangen. Seine Kritik an den Kompromissen zwischen Provisorischer Regierung und Sowjet sowie die Forderung, die Revolution zu vollenden und die Macht durch die Arbeiter, Bauern und Soldaten zu übernehmen, wurde verhalten aufgenommen. „Ein kleiner Trost war immerhin, dass Lenin nicht zu unverzüglichem revolutionärem Handeln aufrief. … Die Einzige, die Lenin in jener Nacht beistand, war Alexandra Kollontai, deren lobende Kommentare ‚Hohn, Gelächter und Lärm‘ hervorriefen.“ (Merridale 2017, S. 262f.) Bis zu den Oktoberereignissen war noch viel Überzeugung zu leisten. Zwei Tage nach diesen sagte Lenin zu Kollontai: „Fahren sie gleich los und übernehmen Sie das Ministerium für staatliche Fürsorge.“ (Schejnis 1984, S.148) So wurde sie die erste weibliche Volkskommissarin. Später war sie als erste Frau sowjetische Botschafterin.

Sie war sich klar darüber, dass in Russland neben den Arbeiterfrauen auch die Bäuerinnen mehr Unterstützung brauchen, weil hier Traditionen und Rollenverständnis aus dem Feudalismus nachwirkten und die Ausbildung eines Rechtsverständnisses für ihr Menschsein behindern. Die Landbevölkerung lebte noch weitgehend unter der Feudal-, wenn nicht sogar in der Gentil-Ordnung. Der russische Völkerkundler Sujew charakterisierte die Situation der Frauen bei den Tundra-Völkern so:  „Es lässt sich unmöglich wiedergeben, wie gering das weibliche Geschlecht geachtet wird; ich wage zu behaupten, dass bei ihnen die Frauen nicht wie Menschen leben, sondern wie notwendige Haustiere, ohne die man nicht auskommen kann.“(Allendorf 1975, S.59)

Problematischer war die Situation der Frauen, die unter Bedingungen des islamischen Rechts in den südlichen Regionen lebten. Hier war noch Kinderverheiratung Brauch, unbeschränkte Macht des Mannes, Vielweiberei bei den Wohlhabenden. Weil die Frau wie ein Haustier Eigentum des Mannes war, durfte sie beim geringsten Verdacht auf Untreue getötet werden. Dafür gab es keine Bestrafung des Mannes. Aber der Frau drohte eine Gefängnisstrafe, wenn sie das Haus unverschleiert verließ. Es war ein weiter Weg zu gehen, um gesellschaftliche Bedingungen nach der Oktoberrevolution zu schaffen, damit gegen Formen der Erniedrigung der Frau behutsam vorgegangen werden konnte.

Der Soziologe Helmut Steiner schrieb 2002 zu Kollontai: „Sie gab nüchterne Schilderungen patriarchalischer Verhältnisse und gesellschaftlicher Anomalien in Zeiten des Umbruchs. Sie erklärte sie aus historisch gewachsenen sozialökonomischen Produktionsverhältnissen und suchte in der Einheit und im Ergebnis in deren z. T. chaotischen Veränderungen nach neuen Verhaltensweisen, veränderten Rollenmustern weiblicher Emanzipation und Umgestaltung der unmittelbarsten Mensch-Mensch-Beziehungen im partnerschaftlichen und familialen Zusammenleben. Gerade über ihre belletristischen Veröffentlichungen über die ‚Wege der Liebe‘ wollte sie einem breiten Publikum Situationsschilderungen der sozialen Realität mit der Aufforderung zu ihrer öffentlichen Problematisierung und Diskussion vermitteln.“ (Steiner 2002, S. 27)

Über das Buch „Wege der Liebe“ wäre gesondert zu sprechen. Es wurde zu Unrecht oft falsch interpretiert. So wurde der Versuch von Kollontai, in einer Umbruchphase aller bisherigen Normen und Werte, in der man sich auf keine Vorbilder orientieren konnte, neue Normen der Beziehungen der Geschlechter in allen Lebensbereichen zu entwickeln, manchmal einseitig ausgelegt, wie etwa die Polemik um die angebliche Glas-Wasser-Theorie. Kollontai äußerte sich in vielen Publikationen darüber, welche Wege zu gehen sind, um den Frauen, die in den gesellschaftlichen Produktionsprozess einbezogen sind, ihre juristische und politische Gleichstellung zu gewähren. Durch Einbeziehung in das gesellschaftspolitische Leben (Organisationen, Parteien) sollten Frauen die Möglichkeit erhalten, durch Ausschöpfen ihrer Fähigkeiten zu aktiven, bewussten Gestalterinnen neuer gesellschaftlicher Verhältnisse zu werden.

Mit ihren Publikationen gewann Kollontai in vielen Ländern der Welt Einfluss. Das Interesse an Kollontais Werken und ihrem Wirken ist weiter aktuell. Es zwingt zum Weiterdenken und motiviert zum aktiven Handeln.

 

5. Fazit: Aktuelle Probleme

Wir ehren nach 100 Jahren die heroischen Leistungen derer, die mit der Revolution im Oktober 1917 in Russland eine neue Gesellschaftsordnung aufbauten, um Ausbeutung und Unterdrückung zu beseitigen, darunter viele Frauen als Gestalterinnen der Geschichte. Können wir aus den damaligen Ereignissen Lehren für die Gegenwart ziehen? Das ist in verschiedener Hinsicht möglich. Es gilt, die Problemlösungen auf ihre Aktualität zu prüfen, Rückschritte und ihre Ursachen zu analysieren und einmal begangene Fehler nicht zu wiederholen. Das ist ein weites Feld. Ich greife zwei aktuelle Probleme heraus, die für die Geschlechtergerechtigkeit weiter zu lösen sind: die Alphabetisierung und die Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen.

Das historisch herausragende Beispiel der Alphabetisierung eines ganzen Volkes nach der Oktoberrevolution in Russland wurde nach erfolgreicher Revolution in Kuba aufgegriffen und mit großem Elan in einer historisch kurzen Zeit ebenfalls gemeistert. Junge Kubanerinnen und Kubaner halfen danach in anderen lateinamerikanischen Ländern bei Anstrengungen, das Analphabetentum zu überwinden.

Die UNESCO beklagte noch 2013/2014, dass die nötigen finanziellen Mittel fehlen, um das Analphabetentum in der Welt überwinden zu können. In entsprechenden Dokumenten geht man von weltweit 781 Mill. Analphabeten aus. 496 Mill., zwei Drittel davon, sind Frauen. Für Mädchen zwischen 6 und 11 Jahren gilt, dass 16 Mill. keine Chance auf einen Schulbesuch haben.

Auch die Zahlen für Deutschland lassen aufhorchen. In einer Hamburger Studie wurde 2011 festgestellt, dass 2 Mill. Erwachsene totale Analphabeten sind und 7,5 Mill. erwachsene Frauen und Männer nicht lesen und schreiben können. Alphabetisierung und entsprechende Bildung sind jedoch die Basis für ein selbstbestimmtes Leben und die Wahrnehmung demokratischer Rechte.

Das kurz nach der Oktoberrevolution unterschriebene Dekret über den Schutz von Mutter und Kind sowie weitere staatliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Frauenrechte ist eine Lehre für die Gegenwart, denn die Auseinandersetzung um diese Funktion des Staates ist bis zum heutigen Tag aktuell.

Als wir 1976 in der UNO-Kommission „Zum Status der Frau“ mit der Ausarbeitung der Konvention „Über die Beseitigung aller Formen der Diskriminierung der Frau“ begannen, war ein Hauptangriffspunkt einiger westlicher Staatenvertreter die Anerkennung der Mutterschaft als sozialer Funktion. Sie wollten darin eine Diskriminierung der Frau sehen. Eine weitere Tagung war notwendig, um diese und noch einige andere Fragen, die das Recht auf Arbeit betrafen, durchzusetzen.

Nun hat die Konvention, die am 3.9.1981 durch die UNO-Vollversammlung ratifiziert wurde, von den sieben Menschenrechtsverträgen die zweithöchste Ratifikationsrate. 189 Staaten müssen alle vier Jahre vor dem Ausschuss CEDAW (Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women) Rechenschaft ablegen. Die DDR ratifizierte die Konvention schon 1980 durch den Staatsrat der DDR, die BRD erst 1985 kurz vor der dritten UNO-Welt-frauenkonferenz. Die USA hat sie gar nicht ratifiziert.

Die Lage der Frauen ist weltweit weiterhin sehr differenziert und verläuft in vielen Ländern, nach dem Zerfall des sozialistischen Lagers, rückläufig. Die 4. UNO-Welt­frauenkonferenz 1995 in Peking bezeichnete in ihrer Aktionsplattform, die bis heute Gültigkeit besitzt, die Überwindung der Diskriminierung von Mädchen und Frauen als Zivilisationsaufgabe des 21. Jahrhunderts. Darin heißt es, unter Berufung auf die Konvention:

„Die Gleichberechtigung von Frau und Mann ist eine Frage der Menschenrechte und eine Vorbedingung für soziale Gerechtigkeit sowie zugleich eine notwendige Grundvoraussetzung für Gleichberechtigung, Entwicklung und Frieden.“ (Aktionsplattform 1995, S. 11) Von der Lösung dieser Aufgabe sind wir weit entfernt. Kriege, Armut, Hunger und großes Elend in weiten Teilen der Welt verhindern, soziale Menschenrechte durchzusetzen. Selbst der kleine von der UNO vorgesehene Schritt, Schulbildung für Mädchen bis 2015 zu ermöglichen, wurde nicht gegangen.

Frauen als Gestalterinnen der Geschichte, unterstützt von Männern, stehen also weiter vor aktuellen Aufgaben, die von allen Humanisten national und international zu lösen sind, um alle Formen von Ausbeutung, Unterdrückung, Gewalt und so auch der Diskriminierung von Frauen zu beseitigen.

 

Literatur:

Aktionsplattform(1995): Bericht der UNO-Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing, Aktionsplattform Anlage II, unter: www.un.org/depts/german/con/beijing/anh.2.html

Allendorf, Marlis (1975), Die Frau im Sozialismus, Edition Leipzig

Hervé, Florence (1979), Zehn Tage, die das Leben der Frauen verändern. In: Florence Hervé (Hg.), Brot & Rosen. Geschichte und Perspektive der demokratischen Frauenbewegung. Frankfurt am Main: Verlag Marxistische Blätter, S. 109 – 124

Lenin, Wladimir Iljitsch (1959a), Der Beginn der Revolution in Russland. Werke Bd. 8, Berlin: Dietz Verlag, S. 85 – 88

Lenin, Wladimir Iljitsch (1959b), Rede auf dem I. Gesamtrussischen Arbeiterinnenkongress. Lenin, Werke Band 28, Berlin: Dietz Verlag, S.175 – 177

Lenin, Wladimir Iljitsch (1961), An das Büro des Frauenkongresses des Petrograder Gouvernements. Lenin Werke Band 30, S. 289. Berlin: Dietz Verlag

Merridale, Catherine (2017), Lenins Zug. Die Reise in die Revolution. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH.

Obitschkin, G.D.  (Leiter des Autorenkollektivs) (1986), Nadeshda Krupskaja. Eine Biographie Berlin: Dietz Verlag

Schejnis, Sinowi (1984), Alexandra Kollontai. Das Leben einer ungewöhnlichen Frau. Biografie. Berlin: Verlag Neues Leben

Steiner, Helmut (2002), Rosa Luxemburg und Alexandra Kollontai, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zweier sozialistischer Politikerinnen. Berlin (Manuskript)

Zetkin, Clara (1957), Der Kampf um Macht und Frieden in Rußland. Ausgewählte Reden und Schriften Bd. I Berlin: Dietz Verlag, S. 770 – 777

 

Prof.Dr. sc. phil. Helga Hörz, Berlin, war ordentliche Professorin und Lehrstuhlleiterin für Ethik an der Humboldt-Universität Berlin, 1969–1990 stellv. Ratsmitglied der Internationalen Demokratischen Frauenföderation (IDFF), 1. Vizepräsidentin der UNO-Weltfrauenkonferenz 1980 in Kopenhagen und 1990 deren Präsidentin, sie ist Mitglied des Freidenker-Beirats.


Download

Der Artikel kann auch als PDF-Dokument angesehen und heruntergeladen werden:

Helga Hörz: Frauen als Gestalterinnen der Geschichte – Oktoberrevolution und ihre Folgen (Auszug aus FREIDENKER 4-17, ca. 440 KB)


Bild oben: Clara Zetkin, Alexandra Kollontai, Nadeshda Krupskaja, Rosa Luxemburg
Bildmontage: rlx